Was macht die EZB mit unserem Geld?

Verbraucher und Sparer bekommen die Inflation immer stärker zu spüren, doch die Europäische Zentralbank unternimmt nichts dagegen. Was treibt Währungshüter wie EZB-Chefin Christine Lagarde an, und wem dienen sie?

Illustration von EZB-Chefin Christine Lagarde, die sich hinter Hundert-Euro-Scheinen verbirgt
Seit 2019 leitet Christine Lagarde die Europäische Zentralbank, zuvor war sie Direktorin des Internationalen Währungsfonds. © Claudia Meitert
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Auf den Punkt gebracht

  • Sprunghafte Teuerung. Die Inflation steigt und steigt – und das spürbar. Während die Kaufkraft sinkt, verliert Erspartes auf Bankkonten an Wert.
  • Illusion Unabhängigkeit. Zentralbanken bezeichnen sich zwar gerne als unabhängig, wirklich frei von politischer Einflussnahme sind sie aber nur in Ausnahmefällen.
  • Der Staat freut sich. Apropos Politik: Es gibt durchaus auch Nutznießer der hohen Inflation. Regierungen profitieren von der Entwertung ihrer Staatsschulden.
  • Unklare Agenda. Je länger die Europäische Zentralbank zögert, gegen die Teuerung vorzugehen, desto schneller verspielt sie ihre Glaubwürdigkeit.

Obwohl die Inflation in den Industrie­ländern seit mehr als einem Jahr dramatisch zunimmt, haben führende Vertreter der US-amerikanischen Zentralbank Federal Reserve (Fed) und der Europäischen Zentralbank (EZB) die Geldentwertung lange als vorüber­gehend heruntergespielt. Erst jetzt erhöht die Fed vorsichtig die Zinsen. Die EZB zögert noch, obwohl der Ukraine-Krieg die Preise weiter steigen lässt.

Das hat massive Folgen – für Staaten, Volkswirtschaften und den Einzelnen: Über Zinsen und Geldmengen beeinflussen Notenbanken, ob sich Menschen für das gleiche Geld mehr oder weniger leisten können. Bei Inflation schrumpfen die Ersparnisse. Auch Kreditnehmer sollten die Notenbanken im Auge haben, weil deren Politik ausschlaggebend dafür ist, ob die Zinsbelastung sinkt oder steigt. Staaten können von höherer Inflation in Form sprudelnder Steuereinnahmen profitieren.

Steigen jedoch die Zinsen, bekommen hoch verschuldete Regierungen ein Problem mit der Rückzahlung. Es gibt also immer Gewinner und Verlierer, wenn Notenbanken auf steigende Inflation reagieren – oder eben nicht. Angesichts der starken Teuerung stellt sich die Frage: Welche Agenda verfolgen die Zentralbanken? Und: Wem dienen sie?

Schutz für den Finanzsektor

Da wäre einmal der Finanzsektor mit seinen mächtigen Investmentbanken. Schon Nobelpreisträger Friedrich ­August von Hayek (1899–1992) warnte, dass jedweder Einfluss des Finanz­sektors auf die Zentralbanken gefährlich ist. Denn setzt die Zentralbank die Zinsen zu niedrig an, dann können die Kredite stark wachsen, und es entsteht auf den Finanzmärkten Spekulation. Die Banken machen während eines Kredit- und Spekulationsbooms große Ge­winne. Und wenn sie von einer Finanz­krise bedroht sind, steht ihnen die Zentralbank rettend zur Seite.

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Blick in die Geschichte

Alan Greenspan, der von 1987 bis 2006 US-Zentralbank-Präsident war, vertrat die Ansicht, dass ­Zentralbanken lukrativen Boomphasen auf den Finanz­märkten nicht mit Zinserhöhungen entgegentreten sollten. Denn Zentralbanker könnten nicht erkennen, ob Aktien- oder Immobilienpreise über­trieben sind. Hingegen eilte Greenspan in Finanzkrisen als Retter herbei – bejubelt als „Magier“ –, um durch die ­Öffnung der Geldschleusen die drohenden Verluste aus der Welt zu schaffen. Seine Nachfolger hielten in immer neuen Krisen dieses stillschweigende Rettungsversprechen aufrecht, das über steigende Vermögenspreise Reiche immer reicher macht. Besonders Investmentbanken, die die Vermögen der Reichen verwalten und vielfältig auf den Finanzmärkten spekulieren, scheinen von der Geldschwemme der Zentralbanken profitiert zu haben.

Zweifel an Unabhängigkeit

Auch die oft betonte Unabhängigkeit der Zentralbanken von Regierungen kann hinterfragt werden. Außerhalb der industrialisierten Welt hat es diese ohne­hin nie wirklich gegeben. Das erklärt, warum es in Ländern wie Venezuela oder Simbabwe zu Hyperinflation kommen konnte. Indem die Zentralbanken großzügig die Ausgaben der Regierungen finanzieren, begünstigen sie die Korruption. Das frisch gedruckte Geld fließt bevorzugt Vertrauten und Unterstützern der Regierungen zu, während für alle anderen die Preise steigen. Argentinien erlebte seit der Gründung der Banco Central de la República Argentina im Jahr 1935 zwei Hyper­inflationen und vier Währungsreformen. In der Türkei verschleißt Präsident Erdoğan einen Zentralbankpräsidenten nach dem anderen, während die Lira immer weiter an Wert verliert.

Auch im Euroraum bröckelt die Illusion von der Unabhängigkeit der Notenbanken.

Doch können Zentralbanken überhaupt unabhängig sein? Irgendjemand muss schließlich ihr Führungspersonal bestellen, sodass auch in den Industrieländern die Ernennung von Entscheidungsträgern das versteckte Einfallstor für politische Einflussnahme ist. Denn es macht einen großen Unterschied, wer an den Schalthebeln sitzt. Jürgen Stark etwa, von 2006 bis 2012 deutscher Vertreter im EZB-Direktorium, stand noch für die strikte Orientierung der Deutschen Bundesbank an Preisstabilität. Heute beschäftigt sich EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel hingegen gern mit der Klimarettung und verteidigt gegenüber den skeptischen Deutschen die ultra­lockere Geldpolitik der EZB.

Japanische Verhältnisse

In Japan unterhöhlte 2013 der da­malige Ministerpräsident Shinzō Abe die Unabhängigkeit der Bank von Japan, indem er bei seinem Amts­antritt mit dem neuen wirtschaftspolitischen Programm der „Abenomics“ nicht nur höhere Staatsaus­gaben, sondern gleichzeitig eine expansive Geldpolitik ankündigte – also eine von niedrigen Zinsen und Gelddrucken geprägte Strategie. Abes neuer Zentralbankpräsident Haruhiko Kuroda ermöglichte mit immensen Ankäufen von Staatsanleihen, dass Japans Staatsverschuldung auf den Rekordwert von über 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts klettern konnte. Unabhängigkeit sieht anders aus.

Auch im Euroraum bröckelt die Illu­sion der Unabhängigkeit. Als EZB-Chef Mario Draghi 2012 mit seiner Aussage „Whatever it takes“ den Euro rettete, bewahrte er wohl gleichzeitig Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und ­Irland vor dem Staatsbankrott. Damit rettete er auch viele deutsche und ­französische Banken, die Staatsanleihen von ausfallgefährdeten Euroländern hielten und viele Kredite nach Südeuropa vergeben hatten. Wäre Griechenland oder gar Italien pleitegegangen, hätten sie ihre Forderungen abschreiben müssen.

Der heutige italienische Ministerpräsident Draghi sorgte dafür, dass die Europäische Zentralbank Staatsanleihen kaufte und den Regierungen somit indirekt Geld lieh. Das ist insofern bemerkenswert, als die EU-Verträge ein Verbot der Staats­finanzierung durch die Notenbank vorsehen. Mittlerweile ist dieser Vorgang zur Routine geworden. Längst ist klar, dass die hohen Ausgabenverpflichtungen und die zahlreichen neuen Ausgabenpläne der Regierungen ohne die Rückendeckung der Euro-Notenbank nicht mehr haltbar wären.

Inflation senkt Staatsschulden

Außerdem hilft eine hohe Inflation, die enormen Staatsschulden im Euroraum zu entwerten, wie eine Untersuchung der deutschen Genossenschaftsbank DZ Bank zeigt: Bei einer Inflation von 5 Prozent bis zum Jahr 2026 würden die italienischen Schulden als Anteil am Bruttoinlandsprodukt um 32 Prozentpunkte schrumpfen.

Als die Politikerin und Juristin Christine Lagarde an die Spitze der EZB kam, vermuteten manche Beobachter einen Deal der deutschen Kanzlerin Angela Merkel mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der auch die Merkel-Vertraute Ursula von der Leyen an die Spitze der Europäischen Kommission brachte. Merkel präsentierte sich gerne als persönliche Freundin von Lagarde, während sie zum Thema Geldpolitik und den aufgrund der niedrigen Zinsen stark steigenden Immobilienpreisen schwieg.

Es fällt auf, dass Lagarde lieber über Klimaschutz, Gleichberechtigung oder die Risiken von Kryptowährungen spricht als über die Preisstabilität als vorrangiges Mandat der EZB. In der Corona-­Krise hat sie durch das so­genann­te Pandemische Notfallkaufprogramm im Umfang von 1.850 Milliarden Euro immense Hilfs- und Konjunkturprogramme der Regierungen im Euroraum finanziell abgesichert. Besonders große Unternehmen scheinen in der größten Krise der Nachkriegszeit stark von diesen Maßnahmen profitiert zu haben, wie steigende Aktienkurse zeigten.

Lagardes Prioritäten

Künftig könnte die Euro-Notenbank nach dem Muster der sogenannten „gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte“ sogar die Wirtschaftsstruktur gestalten: durch Finanzierung und Subventionierung von Investitionsprojekten, die in den Augen der Europäischen Kommission klimapolitisch oder sozial wünschenswert sind. Über eine derartige Erweiterung des Aktions­radius kann man unterschiedlicher Meinung sein, unstrittig ist allerdings: Mit stabilen Preisen haben diese Maßnahmen wenig zu tun.

Auch nachdem die Konsumentenpreisinflation mit 7,5 Prozent im März und April im Euroraum weit über das offizielle 2-Prozent-Ziel der Zentralbank hinausgeschossen ist, zeigt Christine Lagarde wenig Neigung, die geldpolitischen Zügel zu straffen. Die „WirtschaftsWoche“ berichtete von einem möglichen Pakt mit dem französischen Präsidenten, vor den französischen Präsidentschaftswahlen im April keine Zinserhöhungen anzudeuten.

Blick in die Geschichte

Viel Raum für Spekulation

Diese Angaben lassen sich nicht be­stätigen, aber eines ist klar: Es ist nicht mehr ersichtlich, welche Beweggründe und Absprachen die Europäische Zentralbank leiten. Und sollte die Inflation aus dem Ruder laufen und die Zentralbank keine deutlichen Maßnahmen gegen die Teuerung ergreifen, dann öffnet das viel Raum für Spekulation – wie die erwähnte.

Die EZB baut aber auch ihren eigenen Einfluss sukzessive aus. Zuletzt hat sie vermeldet, dass sie mit Nachdruck die Analysekapazitäten im Bereich Klimaschutz erweitern werde. Je mehr Auf­gabenbereiche die EZB an sich zieht – neben der Geldpolitik beispielsweise auch die europäische Finanz­aufsicht sowie die genannten Ambitionen im Kampf gegen den Klimawandel –, desto mehr kann die EZB wachsen. Die Anzahl der Mitarbeiter ist bereits von 732 im Jahr 1999 auf 4.038 zum Jahresende 2021 angestiegen, das Budget von 130 Millionen Euro auf 1,3 Milliarden Euro. Grenzen scheint es nicht zu geben, zumal die EZB finanziell unabhängig ist und damit selbst über ihre Ausgaben entscheiden kann.

Schleichende Politisierung

Die schleichende Politisierung der Zentralbanken könnte deshalb immer so weitergehen. Doch die Geldgeschichte zeigt, dass auf Phasen der Geldwerterosion auch immer wieder Phasen der Geldwertstabilität folgten. Denn eine Geldschwemme wirkt negativ auf das Wachstum. Billige Kredite nehmen wie eine Droge den Unternehmen den Anreiz, ihre Produktivität zu steigern. Vielmehr halten Kredite fast zum Nulltarif angeschlagene Unternehmen künstlich am Leben und verhindern, dass innovative Unternehmen an Geld kommen. Es steigen die Produktionskosten, was die Verkaufspreise nach oben treibt.

Das Ergebnis ist eine Stagflation – die Kombination von stagnierender Wirtschaftsentwicklung und hoher Inflation, die immer mehr Menschen zu Verlierern macht. So schwindet der Glaube an die Politik, und die Polarisierung wächst. Die derzeit steigenden Inflationsraten könnten deshalb der Auslöser für ein Umdenken sein – zum Beispiel, wenn immer mehr Menschen ihre Euros oder Dollars in Bitcoin tauschen, der nicht anfällig für politische Einflussnahme ist.

Die aktuelle Teuerung sorgt dafür, dass die Kaufkraft sinkt und das Ersparte an Wert verliert.

Eine Politik, die aktiv Geldwert­stabilität einfordert, könnte somit wieder Zuspruch gewinnen. Denn eines haben die Bürger längst schmerzvoll realisiert: Die aktuelle Teuerung sorgt dafür, dass die Kaufkraft sinkt und das Ersparte auf den Bankkonten an Wert verliert. Die Inflation betrifft also – unabhängig davon, ob man sich für Geldpolitik interessiert oder nicht – jeden.

Vor allem die letzten Monate haben gezeigt, wie stark die unterschiedlichen Interessen betreffend die EZB sind. Vor allem die Regierungen haben mit hoher Inflation kein Problem, während Sparer und Konsumenten unter der Teuerung leiden. Die Glaubwürdigkeit der Noten­bank erodiert, weshalb es für eine Trendwende in der Geldpolitik höchst an der Zeit ist.

Bittere Medizin

Wann und in welcher Form sie kommen wird, ist noch unklar. Das Ende der Stagflation der 1970er-Jahre setzte US-Zentralbankpräsident Paul Volcker. Er schnalzte den Leitzins Anfang der 1980er-Jahre binnen kurzer Zeit auf 20 Prozent und stoppte damit die Teuerungswelle. Heute würde eine solche geldpolitische Wende wohl einschneidende Ausgabenkürzungen und Strukturreformen in vielen Staaten notwendig machen. Wenn die erst einmal durchgeführt sind, würde das auch den gegenwärtigen Druck der Regierungen von den Zentralbanken nehmen.

Weil das jedoch unpopulär ist, zögert die Politik noch. Früher oder später wird die bittere Medizin aber unver­meid­lich sein.

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Conclusio

Der Anstieg der Inflation wurde durch den Ukraine-Krieg nur beschleunigt, begonnen hat er schon vor einem Jahr. Mit ausschlaggebend für die Teuerung sind die offenen Geldschleusen der Notenbanken. Sie befeuern – anders als oft behauptet – auch die Energiepreise. Einen zusätz­lichen Schub erhalten diese durch Maßnahmen für den Klimaschutz, die fossile Energieträger bewusst verteuern. Dass die Europäische Zentralbank die Zinsen bei null lässt und nach wie vor Geld in die Märkte pumpt, hat auch weniger beachtete negative Folgen. So erhält sie mit billigen Krediten angeschlagene Betriebe am ­Leben und züchtet Zombies, die wiederum den Aufstieg junger, innovativer Unternehmen behindern. Das Hauptproblem ist, dass sich die EZB vom Ziel der Preis­stabilität verabschiedet hat und somit ihre Glaubwürdigkeit untergräbt.