Der Mythos von der kalten Progression

Vorerst wird es wieder nichts mit der Abschaffung der kalten Progression. Die steuerliche Mehrbelastung im Zusammenhang mit der Inflation wird aber ohnehin überschätzt.

Menschen mit Säcken voller Geld gehen in eine Bäckerei
Wenn beim Bäcker die großen Geldscheine gezückt werden müssen. © Antonio Sortino/Synergy Art
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Auf den Punkt gebracht

  • Begriffsverwirrung. Die kalte Progression ist jener Teil der zusätzlichen Steuerlast, der auf die Inflation zurückzuführen ist.
  • Überschätzung. Oft wird die kalte Progression überschätzt, weil als Vergleichsbasis Jahre mit einer Steuerentlastung herangezogen werden.
  • Konstante Entwicklung. Das zeigt sich auch daran, dass die Lohnsteuerbelastung in Österreich seit 2000 in etwa konstant ist.
  • Entlastung. Es kommt zu periodischen Steuersenkungen, die Chance für Reformen wurde aber regelmäßig verpasst.

Über kalte Progression wird seit Jahren häufig gesprochen oder geschrieben, derzeit sorgt das Thema im Zusammenhang mit der von der österreichischen Regierung geplanten Steuerentlastung für Diskussionen. Im Kern geht es um die Frage, ob der Staat von der Inflation ungebührlich stark profitiert und sich mehr nimmt als er in regelmäßigen Abständen zurückgibt.

Doch zuerst zur Begrifflichkeit. Es besteht nämlich in den meisten Fällen der Verdacht, dass selbst sogenannte Steuerexperten eigentlich nicht wirklich wissen, um was es bei der kalten Progression geht. Die Einkommensteuerprogression ist die Erhöhung der Steuer, soweit sie prozentuell über eine Einkommenserhöhung hinausgeht. Die kalte Progression ist der Teil, der auf die Inflationsanpassung zurückzuführen ist.

Bei Lohnsteuerpflichtigen lässt sich der gesamte Progressionseffekt grundsätzlich relativ einfach berechnen: Sie nehmen die Bruttobezüge und die Lohnsteuer des jeweiligen Vorjahres oder eines früheren Vergleichsjahres und errechnen daraus die (durchschnittliche) Steuerbelastung. Diesen Prozentsatz wenden Sie auf die Bruttobezüge des Betrachtungsjahres an und ziehen den errechneten Betrag von der Steuer dieses Jahres ab. Damit erhalten Sie den Betrag, den die Progression von Ihrer Einkommenserhöhung weggeknabbert hat. Allerdings ist es in manchen Fällen nicht so einfach. Es muss z.B. entschieden werden, ob Kinderabsetzbeträge und Familienbonus als Steuerminderung oder Transfers behandelt werden.

Von kalter zu warmer Progression

Liegt der prozentuelle Zuwachs des Bruttobezugs unter der Inflation, ist der gesamte Progressionseffekt kalt. Bei höheren Steigerungen entfällt ein Teil der Progression auf die reale Erhöhung – also auf die Erhöhung, die über die bloße Inflationsanpassung hinausgeht. Meistens wird die kalte Progression herausgerechnet, indem man die Bruttobezüge des Vorjahres um die Inflationsrate erhöht, die Steuer darauf berechnet und die um die Inflation erhöhte Vorjahressteuer davon abzieht.

Bleibt die Summe der Bruttobezüge unverändert, bleibt ohne Veränderung des Einkommensteuerrechts (EStG) die Steuer gleich. Es liegt folglich keine Progression und daher auch keine kalte Progression vor. Bei Einkommensrückgängen wirkt sich die Progression für die Betroffenen günstig aus: Die Lohnsteuer sinkt prozentuell stärker als die Bruttobezüge, womit der Nettoeinkommensverlust in Prozent geringer ausfällt. Man könnte diesen wohltuenden Effekt als warme Progression bezeichnen.

Seit 2000 ist nicht nur die kalte, sondern auch die real bedingte Progression kompensiert worden.

Die Progression – und somit auch die kalte – führt bei steigenden Einkommen zu überproportionalen Mehreinnahmen des Staates bei Lohn- und Einkommensteuer. Diese werden von ökonomischen Institutionen – wie Agenda Austria und GAW – etwa wie folgt berechnet: Zuerst wird auf Basis der letztverfügbaren oder hochgerechneten Einkommensverteilung die Steuer für die einzelnen Personen oder Einkommensstufen einmal mit der inflationsangepassten Rechtslage (Erhöhung der Tarifstufen und anderer Beträge des EStG um die Inflation) des Basisjahres und einmal mit der tatsächlichen Rechtslage des Betrachtungsjahres berechnet. Als Basisjahr wird gewöhnlich das letzte große Steuersenkungsjahr (zuletzt 2016) genommen. (Man kann aber auch das jeweilige Vorjahr nehmen und über alle Jahre aufaddieren.) Die Differenz der Summen (über die Personen bzw. Stufen) wird als kalte Progression (des Beobachtungsjahres gegenüber dem Basisjahr) präsentiert bzw. als (unberechtigte) Mehreinnahmen des Staates aus der kalten Progression. Bei Aggregation über mehrere Jahre sollten die berechneten Jahresbeträge inflationsbereinigt werden, um eine einheitliche Preisbasis sicherzustellen. Diese Berechnung ist zwar ziemlich genau – aber genau falsch!

Problem des Vergleichsjahres

Erstens ist es unberechtigt, als Vergleichsjahr eines mit einer Steuersenkung zu wählen. Diese Steuersenkungen – meist unberechtigter Weise als Steuerreformen bezeichnet – sollen ja im mehrjährigen Durchschnitt die kalte Progression ausgleichen. Daher liegt die Steuerbelastung in den ersten Jahren nach der Senkung unter und ab der Mitte zwischen zwei Senkungen über dem Durchschnitt. Das heißt, zuerst wird die Progression mehr als ausgeglichen, danach nur mehr teilweise. Zweitens berechnen die Ökonomen mit dieser Methode nicht die kalte Progression, sondern die Kosten einer mehr oder weniger vollständigen jährlichen Inflationsanpassung.

Daher kommen bei dieser Kalkulation immer nur von der Inflation, nicht aber von der Einkommensentwicklung abhängige angebliche Steuermehreinnahmen heraus. Dass dies unsinnig ist, lässt sich leicht zeigen, wenn man sich vorstellt, dass die Einkommen von einem Jahr aufs nächste nicht steigen: Dann bleibt – bei unveränderter Rechtslage - das Aufkommen gleich hoch. Es findet keine Progression und daher auch keine kalte Progression statt. Trotzdem ergeben sich nach der oben skizzierten Methode Mehreinnahmen in unter Umständen beträchtlicher Höhe. Die gleich hohen fiktiven Mehreinnahmen würden auch bei sinkenden Einkommen herauskommen.

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Zahlen & Fakten

Meine Berechnung geht vom Aufkommenseffekt der Progression insgesamt aus. Dieser Effekt zwischen zwei Jahren ist bei der Lohnsteuer relativ einfach zu berechnen, indem man die Steuer des Ausgangsjahres mit den Bruttobezügen fortschreibt, d.h. die prozentuelle Steuerbelastung konstant hält. Die Differenz zum tatsächlichen Aufkommen des(r) Vergleichsjahre(s) ist der Progressionseffekt. Für die Herausrechnung der kalten Progression gibt es mehrere Möglichkeiten, die zu ähnlichen Resultaten führen sollten: Aufteilung nach Höhe der Inflation und der realen Bezugssteigerung, Anwendung der errechneten Grenzsteuerbelastung (Änderung der Lohnsteuer/Änderung der Bruttobezüge) auf die inflationsbedingte Erhöhung oder der Steuerelastizität (prozentuelle Änderung der Lohnsteuer/prozentuelle Änderung der Bruttobezüge) multipliziert mit den Inflationsraten auf das Aufkommen des Vergleichsjahres.

Keine genaue Schätzung möglich

Falls verfügbar, kann man das für alle Einkommensstufen machen und summieren, wird aber kaum zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der so errechnete Betrag ist allerdings niedriger als die kalte Progression, weil implizit die Progressionsvorteile bei Einkommensrückgängen (warme Progression) abgezogen werden. Da selbst im Einzelfall oft bestimmte Annahmen notwendig sind, und Statistiken unter Umständen einige Daten dazu nicht enthalten, sollte man Verdacht schöpfen, wenn solche Schätzungen auf mehr als zwei oder drei Stellen genau präsentiert werden. Solche Zahlen fallen oft in die Kategorie „genau falsch“.

Da selbst im Einzelfall oft bestimmte Annahmen notwendig sind, und Statistiken unter Umständen einige Daten dazu nicht enthalten, sollte man Verdacht schöpfen, wenn solche Schätzungen auf mehr als zwei oder drei Stellen genau präsentiert werden.

Angesichts der Lohnsteuerstatistiken seit 2000 kann man sich die Mühe der Berechnung der kalten Progression ersparen. Wenn man sich nämlich die prozentuelle Lohnsteuerbelastung der Bruttobezüge von 2000 bis 2019 anschaut, zeigt sich zwar in den Jahren zwischen den Steuersenkungen ein Anstieg, jedoch ist über den gesamten Zeitraum überhaupt keine Progression zu bemerken. Die Lohnsteuerbelastung 2019 lag mit annähernd 13,9 Prozent um 0,4 Prozentpunkte über derjenigen für 2000. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass 2000 ein Steuersenkungsjahr war. Gegenüber dem Durchschnitt von 1999/2000 (etwas über 13,8 Prozent) gibt es praktisch überhaupt keine Änderung.

Bei den aktiven Lohnsteuerpflichtigen ist die Lohnsteuer in Prozent der Bruttobezüge auf 14,3 Prozent leicht gesunken, während sie bei Pensionisten mit ca.12,7 Prozent um 0,8 Prozentpunkte über dem Durchschnitt 1999/2000 lag (wegen der höheren Progression bei niedrigen Einkommen, die durch die Einschleifung des Pensionistenabsetzbetrages verstärkt wird). Für 2020 liegt noch keine Lohnsteuerstatistik vor. Es ist aber davon auszugehen, dass zumindest bei den Arbeitnehmern die durchschnittliche Belastung eher zurückgegangen ist, wobei die Zahlen (auch für 2021) wegen Corona schwieriger zu interpretieren sein werden. Kinderabsetzbeträge, Familienbonus und erst bei der Veranlagung berücksichtigte andere Begünstigungen sind in der Lohnsteuerstatistik nicht enthalten, das heißt, ihre Berücksichtigung würde  eine niedrigere und sinkende Lohnsteuerbelastung zeigen.

Somit ist bisher seit 2000 nicht nur die kalte, sondern auch die real bedingte Progression kompensiert worden und die für nächstes Jahr angekündigte Steuersenkung wird wahrscheinlich ausreichen, dass die Lohn- und Einkommensteuerbelastung bis Mitte der Zwanzigerjahre  unter dem Durchschnitt der 2000er-Jahre bleibt. Dies lässt auch erwarten, dass die (kalte) Progression in Österreich noch längere Zeit durch periodische Steuersenkungen ausgeglichen wird. Dies hätte den Vorteil eines Spielraums für echte Steuerreformen. Dieser Vorteil wurde aber schon lange nicht mehr wahrgenommen. Stattdessen wurden einfache Tarifsenkungen und Ausweitungen von Steuerbegünstigungen („Wahlzuckerln“) als jeweils „größte Steuerreform aller Zeiten“ angepriesen.

Abschließend noch ein Blick in die Schweiz und nach Deutschland: Beide Länder sind mit Österreich nur bedingt vergleichbar, da sie keine Individual-, sondern eine Haushaltsbesteuerung haben (in Deutschland mittels Ehegattensplitting, in der Schweiz durch einen gesonderten Tarif für Alleinstehende – ähnlich wie Österreich bis 1971).

Schweiz gleicht Steuertarife an

Die Schweiz wendet schon seit rund zehn Jahren grundsätzlich jährliche Inflationsanpassungen der Steuertarife an. Bis 2016 fanden sowohl beim Bundes- als auch bei den Kantonstarifen entsprechende Erhöhungen der Stufen – bei Deflation in einigen Fällen sogar Senkungen – statt. Seit 2016 sind allerdings die Inflationsraten so niedrig bzw. manchmal leicht negativ, sodass Anpassungen unterblieben. Ein Blick auf die bestehenden Tarife (und wahrscheinlich auch Freibeträge) macht den Nachteil dieser Art der Kompensation der kalten Progression deutlich: Die ohnehin schon komplizierte Tarif-Landschaft (unterschiedliche Tarife mit vielen Stufen bei Bund und Kantonen – extra für Ehepaare und Alleinstehende - mit unterschiedlichen Gemeindezuschlägen und einem Kirchenzuschlag) wird noch komplizierter und intransparent.

Deutschland passt ebenfalls seit einigen Jahren den Tarif an die Inflation an. Vor 2015 wurde manchmal nur der Grundfreibetrag angepasst, seither alle Tarifstufen (wobei allerdings manchmal der Grundfreibetrag etwas stärker erhöht wurde). Es gibt nur einen (vierstufigen) Tarif, sodass Anpassungen leichter zu bewerkstelligen sind. Allerdings bin ich nicht sicher, wieviele Steuerpflichtige die Formeln in den untersten zwei Stufen (die übrigens relativ einfach zu einer Formel zusammengelegt werden könnten) wirklich verstehen und ihre Steuer selbst berechnen können. Die jährliche Anpassung führt aber jedenfalls zu (geringfügig) mehr administrativem Aufwand und erschwert die Transparenz im Zeitvergleich.

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Conclusio

Bei jährlichen detaillierten Einkommensteueranpassungen scheinen mir die Nachteile die Vorteile (sofern es solche gibt) deutlich zu überwiegen. Sie kann bei niedrigen Einkommenssteigerungen zu einem relativen Schrumpfen der Einkommensteuer führen und damit ihre Umverteilungsfunktion schwächen. Der steuerpolitische Spielraum fällt praktisch weg. Alle Steuerberechnungsprogramme und damit zusammenhängende Programme müssen jährlich geändert werden. Wenn man schon laufende Entlastungen haben will, ist es daher besser, einfachere Möglichkeiten im Rahmen der Veranlagung zu normieren. Die einfachste Variante wäre die Erstattung eines von der Inflation abhängigen Fixbetrages. Andere Varianten wären zum Beispiel, die Erstattung sowohl von der Inflation als auch vom Einkommen abhängig zu machen oder die Einkommensteuer bei der Veranlagung für ein deflationiertes (dividiert durch Preisindex) Einkommen zu berechnen (wobei die berechnete Steuer wieder mit dem Index multipliziert werden müsste). Damit wären beim EStG und bei der monatlichen Lohnsteuerberechnung keine Änderungen notwendig. Der Inflationsausgleich würde sogar mit weniger Verzögerung erfolgen, weil bei der Veranlagung die Preisentwicklung des Veranlagungsjahres schon bekannt ist.