Von wegen Pleitewelle

Alle jammern über die Insolvenzwelle, die angeblich Österreichs Wohlstand bedroht. Doch die Daten erzählen eine andere Geschichte: Weder ist der Zuwachs dramatisch, noch schaden die Abgänge der Wirtschaft. 

Eine Hürdenläuferin steht in ihrer Laufbahn mit den Händen auf den Hüften und einem konsternierten Blick. Hinter ihr liegt eine umgefallene Hürde, währen die anderen Hindernisse auf den restlichen Bahnen noch stehen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Insolvenzen.
Was im Sport gilt, gilt auch in der Wirtschaft. Der Weg zum Erfolg ist voller Hindernisse. Gerissene Hürden gehören dazu. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Perspektive. Von 2019 bis 2024 stieg die Zahl der Insolvenzen um 46 Prozent, die Insolvenzquote blieb jedoch annähernd stabil.
  • Größenlupe: Nach offenen Kreditsummen gewichtet lag 2023 die Insolvenzquote lediglich bei 0,45 Prozent.
  • Signalwirkung: Insolvenzen zeigen an, welche Produkte, Ideen und Dienstleistungen nicht genug nachgefragt werden.
  • Reformrichtung. Ein liberaleres Insolvenzrecht könnte Risikobereitschaft und Unternehmertum fördern, statt Eigeninitiative zu bremsen.

Die Medien überschlagen sich derzeit mit Warnungen vor neuen Rekorden bei der Zahl der Insolvenzen. Der Tenor: Noch nie habe es so viele Pleiten gegeben wie in diesem Jahr. Und zweitens: Insolvenzen seien negative Ereignisse, die es, wann immer möglich, zu verhindern gelte. Ein genauerer Blick auf die Daten löst beide Narrative in Luft auf. Der Verdacht liegt nahe, dass Interessenverbände und Lobbyisten die vermeintlich hohen Ausfallszahlen nutzen, um Subventionen oder Steuererleichterungen einzufordern.

Der Kontext zählt

Auf den ersten Blick scheinen Unternehmenspleiten in den letzten beiden Jahren tatsächlich besonders häufig zu sein, wie eine Auswertung der im Firmenbuch eingetragenen Unternehmen (ohne Einzelunternehmen) zeigt: Die Zahl stieg von 2.175 insolventen Unternehmen im Jahr 2019 auf 3.182 im Jahr 2024 – ein Plus von 46 Prozent. In den ersten drei Quartalen dieses Jahres wurden bereits 2.518 Insolvenzen – und damit etwas mehr als im Vorjahreszeitraum – beobachtet.

Doch eine bloße Zählung von Pleiten ist irreführend. Je mehr Unternehmen es gibt, desto mehr Insolvenzen sind zu erwarten. Seit 2019 stieg die Zahl der Unternehmen laut Firmenbuch um 40.000 auf insgesamt 280.000. Der Anteil der Insolvenzen an allen Unternehmen ist nur halb so stark gestiegen wie die absoluten Fälle – von 0,9 auf 1,1 Prozent.


So tragisch Pleiten sind, betreffen sie meist Betriebe mit einer geringeren ökonomischen Bedeutung.

Außerdem sagen die Fallzahlen noch nichts über die Dimension der Insolvenzen aus. Pleiten großer Unternehmen betreffen mehr Mitarbeiter, mehr Gläubiger, und sie vernichten mehr Unternehmenskapital als die Pleiten kleiner Unternehmen. Während 2023 die „normale“ Insolvenzquote 0,9 Prozent betrug, lag sie nach Anzahl der Mitarbeiter gewichtet bei 0,75 Prozent. Das bedeutet: Von 10.000 unselbständig Erwerbstätigen in Österreich waren 75 von einer Insolvenz betroffen. Noch geringer fallen die Quoten aus, wenn man sie nach Bilanzsummen gewichtet (0,66 Prozent) oder nach den Kreditsummen (0,45 Prozent).

Das typische Insolvenzunternehmen hat demnach weniger Mitarbeiter, eine geringere Bilanzsumme und eine knapp halb so hohe offene Kreditsumme wie durchschnittliche Unternehmen im Land. So tragisch einzelne Pleiten auch sind, betreffen sie meist Betriebe mit einer geringeren ökonomischen Bedeutung. 

Corona-Nachholeffekt

Zudem prägt ein weiterer Faktor das aktuelle Geschehen: Während der Corona-Pandemie gingen die Insolvenzzahlen deutlich zurück. Üppige Förderungen schleppten Unternehmen, die auch ohne Pandemie nicht mehr lebensfähig gewesen wären, durch die Krise. Aus dieser Phase dürften jetzt Insolvenzen „nachgeholt“ werden. Eine genaue Quantifizierung dieses Faktors ist jedoch schwierig.

Die Insolvenzquote schwankte in den vergangenen Jahren geringfügig um die Ein-Prozent-Marke. Selbst wenn alle betroffenen Unternehmen aus dem Markt ausgeschieden wären, was längst nicht der Fall ist, würde sich die wirtschaftliche Landschaft kaum verändern. In Relation zu den gesamten Ein- und Austritten am Markt spielen Insolvenzen nur eine untergeordnete Rolle.

Selbst im „Insolvenzwellenjahr“ 2024 wurden fünfeinhalbmal so viele (17.300) Unternehmen gegründet, wie Insolvenzen zu verzeichnen waren (3.182). Rund 10.600 Unternehmen schieden insgesamt aus dem Markt aus. Das heißt, dass auch bei den Marktaustritten die Pleiten eine untergeordnete Rolle spielen.

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Zahlen & Fakten

Warum ist das wichtig? Es entsteht oft der Eindruck, dass die Unternehmenslandschaft in Österreich aus einem stabilen Block besteht, der durch Insolvenzen Stück für Stück zerbröselt. Die Zahlen zeigen das Gegenteil: Der Unternehmenssektor entwickelt sich sehr dynamisch und wuchs seit 2019 kontinuierlich. Allgemein gilt, dass pro Jahr ungefähr jedes zehnte Unternehmen entweder neu gegründet wurde oder aber im nächsten Jahr den Betrieb einstellen wird. Nur etwa jedes hundertste ist von einer Insolvenz betroffen.

Keine Kultur des Scheiterns

Im Großteil Europas gelten Insolvenzen immer noch als wirtschaftliches Debakel: Dem betroffenen Betrieb wird Versagen vorgeworfen, für das Management ist die Insolvenz ein persönlicher Makel, für die Gesellschaft eine Quelle von Arbeitslosigkeit und für die Gesamtwirtschaft Anzeichen einer düsteren Lage. Dabei sind Insolvenzen in einer Marktwirtschaft nicht nur normal, sondern notwendig. Der Markt belohnt nur risikobehaftete Projekte mit einer höheren Rendite. Das bedingt, dass das Risiko in gewissen Fällen schlagend wird und es zu Ausfällen kommt.

Insolvenzen haben sogar etwas Positives: Sie sind ein wichtiges Signal für den Markt und zeigen an, für welche Produkte, Ideen und Dienstleistungen es nicht ausreichend Abnehmer gibt. Außerdem sorgen Insolvenzen für Marktbereinigung. Unternehmen, die ihre Produkte oder Dienstleistungen nicht gewinnbringend anbieten können, haben keine Existenzberechtigung in einer Marktwirtschaft und werden zu Recht verdrängt oder müssen umstrukturiert werden.

Effiziente Lastenteilung notwendig

Insolvenzen stellen im Idealfall einen Prozess dar, der den Markt um gescheiterte Geschäftsideen bereinigt und die entstandenen Verluste zwischen Unternehmen, Gläubigern und gegebenenfalls der Gesellschaft aufteilt. Das Insolvenzrecht muss dabei einen schwierigen Trade-off lösen: Einerseits lebt eine Marktwirtschaft von Unternehmern, die Risiken eingehen. Andererseits ist das Verursacherprinzip in unserem Rechtsverständnis stark verankert: Wer einen Schaden verursacht, soll dafür aufkommen. Genau dieses Prinzip hemmt jedoch die Risikobereitschaft.

Es braucht ein Insolvenzrecht, das Risikobereitschaft fördert, statt Eigeninitiative zu bremsen.

Lange Zeit galt im Schuldner-Gläubiger-Verhältnis die strikte Pflicht zur Rückzahlung. Bei Verstoß drohten harte Zwangsmaßnahmen – bis hin zur Schuldsklaverei im Kodex Hammurabi, vergleichbaren Regelungen im antiken Griechenland und im römischen Recht sowie der Leibeigenschaft im europäischen Mittelalter. Solche existenzbedrohenden Strafen erwiesen sich jedoch als wachstumshemmend, weil sie Unternehmergeist und die Umsetzung guter Ideen unterdrückten.

Im 19. Jahrhundert setzte sich die Einsicht durch, dass wirtschaftlicher Fortschritt beschleunigt wird, wenn unternehmerisches Scheitern nicht die private Existenz vernichtet. Als Konsequenz wurden Rechtsformen mit beschränkter Haftung eingeführt. Die positiven Folgen sind in der Forschung zahlreich belegt. Eine aktuelle Studie etwa im Journal of Economic History zeigt: Die 1848 in Schweden eingeführte GmbH löste den folgenden Wirtschaftsboom aus. 

Mehr Transparenz gefragt

Um Gläubiger zu schützen, gibt es zahlreiche Vorgaben: klare Kennzeichnung beschränkter Haftung im Firmennamen, Bilanzoffenlegung, Mindeststammkapital als eine Art Selbstbehalt im Insolvenzfall sowie strafrechtliche Sanktionen für betrügerische Krida und Insolvenzverschleppung. 

Dennoch besteht Nachbesserungsbedarf: Die verpflichtende Offenlegung verkürzter Bilanzen erst neun Monate nach dem Bilanzstichtag liefert Gläubigern und Geschäftspartnern keinen adäquaten Einblick; im internationalen Vergleich ist die Rechtslage in Österreich nicht mehr zeitgemäß. Beeinträchtigt wird die Transparenz auch durch die Möglichkeit, undurchsichtige Unternehmensnetzwerke zu bilden, welche die Vermögenslage der Schuldner oft verschleiern.

Von einer Insolvenzwelle, die über die Wirtschaft hinwegfegt, ist weit und breit nichts zu sehen.

Von einer Insolvenzwelle, die über die Wirtschaft hinwegfegt, ist jedenfalls weit und breit nichts zu sehen. Oftmals geforderte gesetzliche Interventionen mit dem Ziel, Insolvenzen zu verhindern, erweisen dem Wirtschaftsstandort einen Bärendienst. Von einflussreichen Interessenverbänden wird dies dennoch verlangt. Deren Motiv ist es aber verständlicherweise, Gewinne der von ihnen vertretenen Unternehmen zu maximieren, und nicht, den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand zu fördern. Will man Letzteres, muss die Wirtschaftspolitik aber dafür sorgen, dass Ressourcen möglichst effizient eingesetzt werden. Dazu wiederum müssen die konkurrenzfähigsten Unternehmen am Markt tätig sein. 

Da sich Technologien und Gesellschaft ständig ändern, ist es nur logisch, dass sich auch die Unternehmenslandschaft verändert. Das Instrument der beschränkten Haftung ermöglicht es Unternehmern, Risiken zu übernehmen, ohne ihre gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen. Für Investoren ist es aber wichtig, ihr eigenes Risiko zu minimieren.

Falscher Makel

Hier muss die Wirtschaftspolitik ansetzen: Es braucht ein möglichst liberales Insolvenzrecht, das Risikobereitschaft und Unternehmertum fördert, statt die Eigeninitiative zu bremsen. Unternehmerisches Scheitern darf nicht weiter ein Makel in der persönlichen Vita sein. Gleichzeitig benötigen Investoren und Geldgeber ein hohes Maß an Transparenz. Dazu sind zeitgemäße Bilanzierungsvorschriften und Offenlegungspflichten notwendig. 

Im Kopf behalten sollte man vor allem diesen Punkt: Insolvenzen sind nicht grundsätzlich negative Ereignisse. Im Gegenteil: Niedrige Barrieren für den Markteintritt ebenso wie für den Marktaustritt fördern einen funktionierenden Wettbewerb.

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Conclusio

Zerrbild. Mediale Berichte über die angeblich riesige Pleitewelle vermitteln einen falschen Eindruck. Anstelle nackter Zahlen sollten aussagekräftige Statistiken im Fokus stehen: Gewichtete Insolvenzquoten zeigen keine beängstigenden Werte.

Konkurrenz. Insolvenzen sind in einer Marktwirtschaft statistische Notwendigkeit. Bedingungsloses Verhindern von Pleiten darf nicht das Ziel der Wirtschaftspolitik sein. Ansonsten besteht kein effizienter Wettbewerb mehr.

Transparenz. Ein liberales Insolvenzrecht, gekoppelt mit hoher Transparenz bezüglich der Leistungsfähigkeit von Unternehmen, wäre ein Impuls für den Wirtschaftsstandort. Unternehmerisches Scheitern darf nicht länger als Makel gelten.

Weiterführende Quellen:

Studie der Oesterreichischen Nationalbank zu Insolvenzen

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