Wo sind all die Babies hin?

Im Durchschnitt bekommt eine Frau in Österreich nur noch 1,3 Kinder. Wie sich der Geburtenrückgang auswirkt, welche staatlichen Maßnahmen Lust auf mehr Kinder machen. 

Illustration zum Thema Kindermangel. Ein junges Paar steht neben einem spielenden Baby. Über dem Kind steht ein großes Fragezeichen.
Immer mehr Österreicher verzichten auf Nachwuchs. © Christina Mühlhöfer
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Auf den Punkt gebracht

  • Kindermangel. Seit fast zwei Jahrhunderten besteht in reichen Gesellschaften ein Trend zu weniger Kindern, doch gab es immer wieder Phasen mit mehr Geburten.
  • Kostenfaktor. Kinder waren die längste Zeit für die Vorsorge und das Familieneinkommen wichtig – das hat sich gedreht.
  • Kindergeld. Staatliche finanzielle Anreize, um Kinder in die Welt zu setzen, haben sich historisch betrachtet nicht richtig bewährt.
  • Rahmenbedingungen. Öffentlich geförderte Kinderbetreuung und Maßnahmen, Beruf und Familie zu vereinen, sind effektiver.

Noch nie lag unsere Lebenserwartung so hoch wie heute. Und noch nie bekamen wir so wenige Kinder. Weltweit am niedrigsten ist das Niveau in Südkorea. Dort bekommen Frauen im Schnitt nur noch 0,8 Kinder. In Singapur (1,1), China (1,2) und Japan (1,3) liegt dieser Wert nur wenig höher. Auch in Europa gibt es etliche Länder mit sehr geringer Kinderzahl: Italien, Spanien und Österreich sind mit zuletzt 1,3 Kindern pro Frau die Schlusslichter.

Der Trend zu kleinen Familien begann im Frankreich des 19. Jahrhunderts, England und das Piemont folgten. Im übrigen Europa gingen die Kinderzahlen ab dem frühen 20. Jahrhundert zurück. Für den Übergang zu einer Gesellschaft mit nur wenigen Kindern pro Familie gab es mindestens drei Gründe.

Als Kinder nutzlos wurden

Ein wichtiger Auslöser war der deutliche Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit. Mehr Kinder überlebten durch Zugang zu sauberem Wasser, eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln, aber auch dank Massenimpfungen gegen diverse Infektionskrankheiten. Dadurch gab es keinen Grund mehr, Kinder in Überzahl in die Welt zu setzen.

Hinzu kam der Strukturwandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft – und später zur Dienstleistungsgesellschaft. Dies hatte Auswirkungen auf die Funktion von Kindern. Einerseits schrumpfte die Zahl der Bauern und der kleinen Gewerbetreibenden, für die Kinder als Arbeitskräfte eine wichtige Rolle spielten. Andererseits kam es zu einem generellen Verbot der Kinderarbeit in Bergbau, Gewerbe und Industrie. Dadurch schwand auch außerhalb der Landwirtschaft der wirtschaftliche Nutzen eigener Kinder. Sie wurden stattdessen zu einem Kostenfaktor.

Der Sozialstaat beseitigte die Rolle von Kindern als Garanten des Überlebens der Eltern.

Die Entstehung des Sozialstaats beseitigte schließlich die Rolle erwachsener Kinder als Garanten des Überlebens ihrer Eltern bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder im Alter. Krankenkassen, Arbeitslosen- und Pensionsversicherungen federn heute all diese Wechselfälle des Lebens ab. Die Risiken sind vergesellschaftet. 

Wer sich heute in Europa, Nordamerika oder Ostasien dennoch für eigene Kinder entscheidet, tut dies in der Regel aus sozialen und emotionalen Gründen. Der langfristige Trend ging in Richtung weniger Kinder. Und doch gab es in den vergangenen hundert Jahren in einigen Ländern kleinere und größere Babybooms. Woran liegt das?

Reaktion auf Krisen

Eine dieser untypischen Geburtenwellen passierte in Europa unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Die Männer, die ihn überlebt hatten, kehrten nach Hause zurück. Viele der zwischen 1914 und 1918 aufgeschobenen Familiengründungen wurden ab 1919 nachgeholt.

Wenige Jahre später bewirkte die Weltwirtschaftskrise in vielen Ländern erneut einen starken Rückgang der Zahl der Geburten. In zwei Ländern Europas führte dies zu raschen Gegenmaßnahmen: Schwedens sozialdemokratisch geführte Regierung setzte eine Reihe gesundheitspolitischer und familienfördernder Maßnahmen durch, um soziale Krisenfolgen abzufedern, und ausdrücklich auch, um die Zahl der Geburten zu erhöhen.

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Zahlen & Fakten

Unter ganz anderen ideologischen Vorzeichen setzte zur gleichen Zeit das NS-Regime in Deutschland ähnliche Akzente. Ab 1934 wurden begünstigte Familiendarlehen und ein monatliches Kindergeld eingeführt. Abtreibungen waren streng verboten, und es gab kaum Zugang zu Verhütungsmitteln. Ab 1938 mussten kinderlose Ehepaare höhere Steuern zahlen. Das NS-Regime erklärte das Gebären möglichst vieler Kinder zur nationalen Pflicht.

Der große Babyboom

Sowohl in Schweden als auch in Deutschland stieg die Zahl der Geburten ab Mitte der 1930er-Jahre. Unklar bleibt freilich, welcher Teil dieses Aufschwungs durch die geänderte Familienpolitik verursacht wurde und welchen Beitrag die verbesserte ökonomische Situation leistete. Denn beide Länder ergriffen damals budgetfinanzierte Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Vorbild waren die USA mit dem New Deal. Der führte allerdings in Amerika nicht unmittelbar zu mehr Geburten.

Nach dem ‚Anschluss‘ brachten die Wienerinnen fast dreimal so viele Kinder zur Welt.

Österreich wurde 1938 Teil des Deutschen Reichs. Damit galten die familienpolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten auch hier. Zugleich machte der „Anschluss“ vielen Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In der Folge stieg die Zahl der Geburten stark an. Am deutlichsten zeigte sich dies in Wien; schon im Jahr nach dem „Anschluss“ brachten die Wienerinnen fast dreimal so viele Kinder zur Welt wie im Jahr davor. Gegen Kriegsende, in den Jahren 1944 und 1945, kamen dann wieder viel weniger Kinder zur Welt. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in vielen Ländern ein regelrechter Babyboom ein. In den USA, Kanada und einigen Ländern Europas stieg die Zahl der Geburten – und sie blieb bis Ende der 1960er-Jahre über dem Niveau der Zwischenkriegszeit. 

Frankreich und Großbritannien begannen unmittelbar nach dem Krieg mit dem Ausbau des Sozialstaats. Frankreich verband dies auch mit einer geburtenfördernden Politik, denn es herrschte politischer Konsens, dass das Land rasch mehr Kinder (und später Soldaten) brauche. Man wollte auf den nächsten Krieg gegen Deutschland vorbereitet sein. Dabei setzte das Land auf eine Mischung aus finanziellen Beihilfen und Steuererleichterungen. Mütter sollten ermutigt werden, nach der Geburt des ersten Kindes daheim zu bleiben. Die Französinnen bekamen schon in den späten 1940er-Jahren wieder mehr Kinder. Aber auch in Belgien und der Schweiz stieg die Geburtenrate schon ab 1945, obwohl diese Länder damals noch keine gezielte Familienpolitik kannten.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

In anderen Teilen Europas begann der Babyboom erst ab Mitte der 1950er-Jahre. Dies hatte in erster Linie mit deutlich verbesserten Lebensumständen zu tun. Voll erwerbstätige Männer konnten es sich „leisten“, dass ihre Partnerinnen zu Hause blieben. Ab den 1970er-Jahren stand zunehmend die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Vordergrund. In Frankreich wurden alle Kindergärten und Schulen auf ganztägigen Betrieb samt gemeinsamem Mittagessen umgestellt. Überdies entstanden in größerer Zahl ganztägig geöffnete Krippen, damit Mütter, die dies wünschen, nach der Geburt eines Kindes bald wieder erwerbstätig sein können. Spätestens mit drei Jahren gingen alle Kleinen in den Kindergarten.

Die institutionelle Kinderbetreuung wurde auch in Belgien, in den skandinavischen Ländern und in etlichen kommunistisch regierten Staaten massiv ausgebaut. Daher rührt bis heute die Kritik konservativer Kreise, dass es sich bei Krippen, ganztägigen Kindergärten und Ganztagsschulen um ein sozialistisches Projekt handle.

Der Babyboom endete zwischen den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren sowohl in Ländern mit massiv ausgebauten Familienleistungen als auch in Ländern mit geringeren Leistungen. Allerdings gingen die Kinderzahlen in Frankreich, Belgien und Skandinavien weniger stark zurück als anderswo. In vielen nord- und westeuropäischen Ländern, darunter auch in Österreich, blieb die Zahl der Kinder pro Familie seit den 1980er-Jahren weitgehend stabil oder stieg zuletzt leicht an. In Südeuropa ging sie seither noch etwas zurück.

Anreize gegen Kindermangel

Nur wenige Länder versuchten, dem erneuten Rückgang der Geburten nach Ende des Babybooms etwas entgegenzusetzen. Rumänien untersagte 1967 Abtreibungen und den Verkauf von Verhütungsmitteln. In der DDR setzte das Regime ab den 1970er-Jahren auf einen massiven Ausbau der Kinderbetreuung sowie auf eine Arbeitszeitverkürzung und mehr freie Tage bei vollem Lohnausgleich für Mütter sowie auf ein voll bezahltes „Babyjahr“. Es ging darum, für Frauen Erwerbstätigkeit und Mutterschaft vereinbar zu machen. 80 Prozent der Kinder unter drei Jahren und fast alle über Dreijährigen wurden weitgehend kostenfrei in öffentlichen Einrichtungen betreut. Diese hatten ganztägig geöffnet. Jungfamilien wurden bei der Zuteilung von Wohnungen bevorzugt – auch das sollte Studentinnen ermutigen, noch vor Berufseintritt Kinder zu bekommen.

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Zahlen & Fakten

Tatsächlich stieg in der DDR ab 1975 die Zahl der Kinder pro Frau und blieb bis in die Mitte der 1980er-Jahre deutlich über dem westdeutschen Niveau (siehe Grafik). Zugleich erreichte der Anteil erwerbstätiger erwachsener Frauen unter 65 Jahren den Rekordwert von 92 Prozent. Doch auch dies konnte den Untergang des staatssozialistischen Systems nicht aufhalten. Als sich in den späten 1980er-Jahren die Systemkrise abzuzeichnen begann, sank die Zahl der Geburten wieder. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 halbierte sich im Osten Deutschlands die Zahl der Geburten – und blieb noch lange unter dem westdeutschen Niveau.

Ungarns teure Kinderpolitik

Auch in fast allen anderen ehemals kommunistischen Ländern Europas fielen nach der Wende die Geburtenraten. Im 21. Jahrhundert versuchte vor allem Ungarn, diesen Trend umzukehren. Ideologisch wurde dies nicht in erster Linie sozialpolitisch, sondern mit dem drohenden Aussterben der Nation begründet. Zuwanderung komme für sein Land als Antwort auf den Bevölkerungsschwund nicht in Frage, die bedrohe nämlich die nationale Identität, betonte Ungarns Premier Viktor Orbán bei etlichen Gelegenheiten.

Seine Maßnahmen reichen von großzügigen Kinderbeihilfen über einen dreijährigen voll bezahlten Karenzurlaub bis hin zu Immobilienkrediten, die mit steigender Kinderzahl nicht voll und ab dem vierten Kind gar nicht mehr zurückgezahlt werden müssen. Familien mit drei und mehr Kindern zahlen nur geringe Einkommenssteuern. Steuerliche Vorteile gibt es insbesondere für Frauen, die vor dem 30. Geburtstag ihr erstes Kind zur Welt bringen. In Summe gibt Ungarn rund fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Familienförderung aus – mehr als irgendein anderes Land in Europa.

Tatsächlich stiegen die Geburtenzahlen in Ungarn nach 2010 wieder an. Die Regierung rühmt sich, dass dank der gesetzten Maßnahmen seither mehr als 100.000 Kinder zusätzlich zur Welt gekommen seien. Es ist allerdings unklar, ob wirklich ein Zusammenhang besteht zwischen den Förderungen und dem Anstieg der Geburtenzahl. Denn auch in anderen östlichen EU-Ländern erholten sich die Geburtenraten – und das ohne großzügige Familienförderungen. Jedenfalls verlangsamte sich in Ungarn ab 2010 der Trend zu biografisch immer späteren Erstgeburten.

Karriere trotz Kinder

Moderne Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass Kinder zur Welt kommen. Für Eltern stellen Kinder jedoch eine finanzielle Belastung dar. Familienpolitik reagierte auf diese Belastung mit Direktzahlungen und Steuererleichterungen. Direkte Kosten von Kindern lassen sich dadurch abfedern. 

Es gibt jedoch auch indirekte Kosten. Sie entstehen, wenn ein Elternteil – meist die Mutter – die Arbeit unterbricht oder reduziert. Über das ganze Leben gerechnet, kann dieser Verzicht mehrere hunderttausend Euro ausmachen. Dies durch familienpolitisch motivierte Zahlungen aus dem Staatshaushalt ausgleichen zu wollen ist unmöglich. 

Daher besteht ein Teil der Familienpolitik aus Maßnahmen, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familienpflichten ermöglichen sollen. Dazu gehören Krippen für die ganz Kleinen, ganztägig und ganzjährig geöffnete Kindergärten, Ganztagsschulen und institutionelle Hilfestellung beim Lernen.

Der Verzicht auf Arbeit kann mehrere hunderttausend Euro kosten.

In Frankreich, Belgien und den skandinavischen Ländern ist dies selbstverständlich und wird auch von fast allen Eltern in Anspruch genommen. In anderen Teilen Europas gibt es dagegen Vorbehalte, weil zumindest ein Teil der Gesellschaft findet, dass Kinder bei ihren Müttern besser aufgehoben wären. Daraus erklärt sich der Mangel an flächendeckenden Betreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen im Süden, in der Mitte und im Osten Europas – darunter auch in Österreich. 

Angesichts einer immer größeren Anzahl gut ausgebildeter jüngerer Frauen mit besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt führt der Mangel an Betreuungseinrichtungen zu einer Beschränkung auf ein Kind oder sogar zum Verzicht auf eigene Kinder. Nur selten übernehmen Väter einen erheblichen Teil der Betreuung ihrer Kinder, um ihren Partnerinnen nach der Geburt einen schnellen Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen.

Betreuung statt Geld

Alle verfügbaren Daten und Ländervergleiche zeigen: Mit Geldleistungen allein lassen sich Menschen in Europa, Nordamerika oder Ostasien kaum dazu bewegen, mehr Kinder zu bekommen. Eine Ausnahme bilden sozial schwache Frauen und Familien mit geringem Einkommen. Bei ihnen können finanzielle Anreize durchaus zu mehr Geburten führen. Für die jeweiligen Gesellschaften sind in prekären Verhältnissen heranwachsende Kinder und Jugendliche allerdings nicht von Vorteil.

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist daher ein flächendeckender Ausbau qualitativ hochwertiger Betreuung für Kinder aller Altersstufen die bessere Investition. Diese Maßnahmen würden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Und für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oder für Kinder mit Migrationshintergrund würden damit die Chancen deutlich steigen, die Schule erfolgreich abzuschließen.

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Conclusio

Wandel. Mit der Zeit änderte sich die gesellschaftliche Rolle von Kindern: Statt ökonomischer Stütze für den Haushalt wurde der Nachwuchs im 20. Jahrhundert zunehmend zu einem Kostenfaktor. Seither kommen weniger Babys zur Welt. 
Ausnahmen. In einigen Ländern gab es Phasen mit steigenden Geburtenraten: Der Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg etwa führte zu einem Bevölkerungswachstum. Heute bekommen Österreicherinnen im Schnitt nur noch 1,3 Kinder.
Anreize. Die Geschichte zeigt, dass der Ausbau guter Kinderbetreuungseinrichtungen den größten Nutzen für Eltern und die Gesellschaft bringt. Mit der Gießkanne ausgeschüttete Kinderprämien sind weniger wirksam. 

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