Alterung: Der große Umschwung
Auf den historisch einzigartigen Boom bei Arbeitskräften folgt nun der große Umschwung der Alterung. Die Folgen sind hartnäckige Inflation und dadurch hohe Zinsen und schwaches Wachstum.
Auf den Punkt gebracht
- Boom. Hohe Geburtsraten, ein Wandel der Rollenbilder und die Globalisierung haben über Jahrzehnte für ein hohes Arbeitskräfteangebot gesorgt.
- Umbruch. Pandemie und der Ukraine-Krieg beschleunigten die Effekte der bereits begonnenen demografischen Wende.
- Mitarbeiter-Mangel. Weltweit weniger Arbeitskräfte bedeuten, dass Löhne, Preise und Zinsen steigen.
- Stagflation. Mit Inflationsraten von mindestens drei bis zu vier Prozent bei schwachem Wachstum ist zu rechnen.
Die Geschichte lehrt, dass sich alle Dinge ändern, trotzdem erkennen wir oft nicht, dass uns unmittelbar Umbrüche bevorstehen. In den drei Jahrzehnten von 1990 bis 2020 waren Inflation und Zinssätze relativ stetig rückläufig, wobei die Inflation ab 2009 im Durchschnitt leicht unter das Zwei-Prozent-Ziel großer Notenbanken fiel und die Zinssätze auf ein historisch niedriges Niveau gesenkt wurden.
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Ein Teil der Erklärung für diese niedrige und stabile Inflation ist tatsächlich eine bessere und glaubwürdigere Geldpolitik, aber das erklärt kaum, warum die Inflation im Jahrzehnt (2009-2019) trotz expansiver Geld- (und oft auch Finanz-) Politik im Durchschnitt unter dem Zielwert lag.
Stattdessen argumentierten Manoj Pradhan und ich in unserem Buch „The Great Demographic Reversal“ (Die große demografische Wende), dass die wichtigste Ursache für die niedrige Inflation demografische Kräfte gepaart mit Chinas und Osteuropas Eintritt in das Welthandelssystem war. Ein Prozess, der gemeinhin als „Globalisierung“ bezeichnet wird.
Alle arbeiten
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Geburtenraten praktisch überall hoch, gingen dann aber in den meisten Ländern ab den 1960er-Jahren stark zurück, was zum Teil auf den leichteren Zugang zu wirksameren Verhütungsmitteln zurückzuführen war. Darüber hinaus erleichterten es Konsumgüter wie Kühlschränke, Gefriertruhen, Waschmaschinen usw. in der Regel den Frauen, die täglichen Haushaltstätigkeiten zu erledigen, die in den Schätzungen des BIP nicht berücksichtigt wurden. Das ermöglichte einem wachsenden Anteil von (verheirateten) Frauen, sich am Erwerbsleben zu beteiligen. In den 1940er und 1950er-Jahren waren weniger als 25 Prozent der verheirateten Frauen auch erwerbstätig; inzwischen sind es über 70 Prozent.
Kinder statt Karriere: Frauen fehlen im Job
Dies führte im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts in fast allen Ländern zu einem massiven Anstieg der verfügbaren Arbeitskräfte und zu einem starken Anstieg der Erwerbsquoten insgesamt. Gleichzeitig sank auch der Abhängigkeitsquotient. Das ist der Anteil der primär nicht erwerbstätigen Altersgruppen, der jungen Menschen unter 20 und der alten Menschen über 65, an der wirtschaftlich produktiven Bevölkerung. Der Anteil der unter 20-Jährigen ging stark zurück, während die steigende Lebenserwartung nur langsam zu einem Anstieg des Anteils der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung führte.
Globalisierung greift
Hinzu kam das Aufkommen der Globalisierung. Allein die Bevölkerung Chinas macht fast ein Viertel der Weltbevölkerung aus. Mit dem Eintritt Chinas und Osteuropas in das Welthandelssystem hat sich das Angebot an Arbeitskräften für jedes Unternehmen, das seine Produktion von Hoch- auf Niedriglohnländer verlagern konnte, mehr als verdoppelt.
Noch nie in der Geschichte hat es einen so großen Sprung in der Verfügbarkeit von Arbeitskräften gegeben.
Diese beiden Kräfte zusammengenommen bedeuteten einen massiven Anstieg der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte. In dreißig Jahren, kam es zu fast eine Verdreifachung der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte. Noch nie in der Geschichte hat es einen so großen Sprung gegeben. Das führte zu einem schnelleren Wachstum der Produktion und einem viel langsameren Preisanstieg, als sonst zu erwarten gewesen wäre.
Ein Hoch auf die Globalisierung
Die Verteilungseffekte waren jedoch weniger günstig. Natürlich und fast zwangsläufig verloren Arbeiter nun an Marktwert, zumindest relativ und in einigen Fällen auch absolut im Vergleich zum Kapital. Die Verlagerung der Produktion in den reichen Ländern von der Industrie zu Dienstleistungen hat die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer weiter verringert, da es in der Industrie leichter ist, schlagkräftige Gewerkschaften zu formen; die Zahl der Arbeitnehmer in den Gewerkschaften des privaten Sektors ist in diesen Jahrzehnten ziemlich stark zurückgegangen.
Ungleiche Umverteilung
Im Gegensatz dazu stieg die Zahl derjenigen stark an, die Zugang zu Kapital hatten, sei es in Form von Immobilien oder Fabrikanlagen oder Finanzkapital in Form von Aktien und Anleihen oder aber Humankapital in Form von gefragten Qualifikationen, sei es Managementfähigkeiten oder IT-Kenntnisse. Das Ergebnis war eine Tendenz zu viel größerer Ungleichheit innerhalb der Länder, obwohl der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Staaten wie Indonesien, Thailand, Singapur usw. die Ungleichheit zwischen Ländern ganz erheblich reduzierte.
Alle in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften profitierten von einem stetigen Rückgang der Warenpreise, aber die ungelernten Arbeitskräfte profitierten am wenigsten und die Kapitalisten am meisten.
Mit der Verlagerung der Produktion nach China und Co., das zur Werkstatt für die Welt wurde, stiegen Beschäftigung und Löhne in Asien und Osteuropa im Vergleich zu den Hochlohnländern in Europa und Nordamerika ziemlich stark an. Alle in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften profitierten von einem stetigen Rückgang der Warenpreise, aber die ungelernten Arbeitskräfte profitierten am wenigsten und die Kapitalisten am meisten.
Demografische Delle
Die positiven Auswirkungen der hohen Geburtenrate nach dem Zweiten Weltkrieg begannen um 2010 herum abzuflauen und sich umzukehren. Diese hohe Geburtenrate von 1945 bis in die 1960er-Jahre mit den Kindern dieser Ära, die als „Babyboomer“ bekannt sind, bedeutete, dass 2010 die ersten Mitglieder dieser Kohorte in den Ruhestand gingen und durch die Kohorten ersetzt wurden, die ab den späten 1960er-Jahren kamen, als die Geburtenrate auf die nachhaltige Rate von durchschnittlich 2,1 Geburten pro Frau und dann noch tiefer sank.
Österreich fehlt die Willkommenskultur
Dies hatte zur Folge, dass sich das Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ab etwa 2010 fast überall verlangsamte, außer in Afrika und Teilen Indiens und des Nahen Ostens. Tatsächlich ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den letzten Jahren in einer ganzen Reihe von Ländern zurückgegangen. In Japan ist dies bereits seit über einem Jahrzehnt der Fall, und auch in Russland und China sowie in weiten Teile Europas, einschließlich Österreichs, Deutschlands und Italiens. Auch in den USA und im Vereinigten Königreich wäre die Zahl der Erwerbsfähigen geschrumpft, wenn es nicht zu massiver Zuwanderung gekommen wäre.
Dieses wesentlich langsamere Wachstum, in vielen Fällen sogar ein Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, ging jedoch nicht mit einem ähnlich langsamen Wachstum der Gesamtbevölkerung einher. Dies liegt daran, dass der stetige Anstieg der Lebenserwartung (zumindest bis vor kurzem) im Zusammenspiel mit dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand dazu geführt hat, dass der Anteil der Bevölkerung, der alt wird, in vielen Fällen recht drastisch zunimmt.
Weltweite Wende
Die älteste aller Gruppen, die der über 85-Jährigen, ist in den letzten Jahren sogar proportional schneller gewachsen als alle anderen. Zu gegebener Zeit wird die Demografie auch zu einem Rückgang der Gesamtbevölkerung führen. Aber in den meisten Ländern der fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird dies nicht vor etwa 2050 der Fall sein – es sei denn, es kommt zu einem Atomkrieg oder einer Klimakatastrophe. In der Zwischenzeit wird sich der Abhängigkeitsquotient stark verschlechtern.
Zahlen & Fakten
Neben diesen ungünstigen demografischen Aussichten hat sich in letzter Zeit auch der Globalisierungsprozess umgekehrt. Die zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA und die weitere Aufteilung der Welt in Handelsblöcke führen zu einer gewissen Umkehrung dieses Prozesses. Anstatt die Produktion an den billigsten Standort zu verlagern, versuchen die Hersteller nun, die Produktion an die Standorte zu verlagern, die am wenigsten durch geopolitische Spannungen gefährdet sind.
Abhängige Personen, wie junge und alte Menschen, die nicht arbeiten und nichts produzieren, sind per definitionem inflationär.
In vielen reichen Volkswirtschaften hat sich in den Jahren von 1990 bis 2010 ein Trend etabliert, bei dem immer mehr Arbeitskräfte vom verarbeitenden Gewerbe in den Dienstleistungssektor wechselten. Dies führte dazu, dass die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer schwächer wurde. Als unser Buch 2019 verfasst wurde, war unklar, wann sich diese Trends ändern würden und damit möglicherweise Jahrzehnte des Arbeitskräftemangels und einen höheren Inflationsdruck auslösen würden.
Medizinische Mehrkosten
Arbeitskräfte sind in der Regel disinflationär, da sie nur dann beschäftigt werden, wenn ihre Leistung einen höheren Wert hat als ihr Lohn. Zudem müssen sie für ihren eigenen Ruhestand vorsorgen. Im Gegensatz dazu sind abhängige Personen, wie junge und alte Menschen, die nicht arbeiten und nichts produzieren, per definitionem inflationär. Besonders ältere Menschen stellen hierbei ein Problem dar, nicht aufgrund ihres Alters an sich, sondern weil die Wahrscheinlichkeit steigt, medizinisch abhängig zu werden und somit im täglichen Leben fremde Hilfe zu benötigen.
Obwohl die Medizin große Fortschritte bei der Reduktion von Herzkrankheiten und Krebs sowie bei der Bereitstellung von neuen Körperteilen für Grauen Star, Hüft- und Knieproblemen gemacht hat, gibt es bei neurologischen Problemen wie Demenz und Parkinson bisher nur wenige oder gar keine Behandlungsmöglichkeiten.
Medizinisch abhängige Personen benötigen menschliche Hilfe und Einfühlungsvermögen. Die Empathie eines Roboters ist genau null. Sie können helfen, z. B. beim Heben von Kranken aus dem Bett in einen Rollstuhl. Aber was alte Menschen wollen und erwarten, ist menschliche Hilfe, und die ist sehr teuer. In Japan werden möglicherweise bis zu 20 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter für die Pflege alter Menschen benötigt.
Verschuldung verschlechtert
Die längerfristigen Projektionen für die Staatsausgaben beschrieben schon vor der Covid-Pandemie einen kontinuierlichen, fast exponentiellen Anstieg sowohl des Haushaltsdefizits als auch der öffentlichen Schulden. Bis vor kurzem wurde diese Verschlechterung weitgehend ignoriert, weil die Zinsen im Verhältnis zum Wachstum so niedrig waren, auch wenn das Wirtschaftswachstum recht schwach war.
Damit die Verschuldung tragbar bleibt, müssen wahrscheinlich entweder die Großzügigkeit bei der Betreuung der Alten reduziert oder die Steuersätze noch weiter erhöht werden.
Die Umkehrung der früheren günstigen Trends beim weltweiten Arbeitskräfteangebot und die Globalisierung sind das Hauptproblem. Aufgrund dieser Entwicklungen ist es wahrscheinlich, dass die Zinssätze steigen werden. Gleichzeitig dürfte das Wirtschaftswachstum aufgrund des Arbeitskräftemangels sinken. Wir erwarten jedoch, dass dadurch die Produktivität pro Arbeitnehmer leicht steigt.
Damit die Verschuldung des öffentlichen Sektors über die nächsten Jahrzehnte tragbar bleibt, müssen wahrscheinlich entweder die Großzügigkeit bei der Betreuung der Alten reduziert oder die Steuern noch weiter erhöht werden. Die meisten Steuern werden von den Arbeitnehmern auf ihr Einkommen und ihren Verbrauch erhoben. Wenn diese Steuern steigen, wird der Lebensstandard der Arbeitnehmer sinken. Im Gegenzug werden sie wahrscheinlich höhere Löhne fordern, um ihren Lebensstandard trotz höherer Steuern zu halten, da ihre Verhandlungsmacht zunimmt.
Passende Prognose
Die langfristigen Aussichten sind also mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel, einer größeren Zahl von Rentnern, einem geringeren Wirtschaftswachstum, höheren Steuersätzen und anhaltenden Haushaltsproblemen verbunden. Das ist keine einfache Kombination. Vor der Covid-Pandemie war nicht absehbar, wann die Auswirkungen des demografischen Wandels bemerkbar machen würden. Und dann schlug das Virus zu.
Als Covid den Westen im März 2020 zum ersten Mal heimsuchte, erwarteten wir, dass dies die längerfristigen Auswirkungen des Arbeitskräftemangels auf den Inflationsdruck vorverlagern würde. Deshalb fügten wir noch im selben Monat ein kurzes Extra-Kapitel in unser Buch ein und schrieben: „Nach der Lockerung der Einschränkungen und der Erholung von der Pandemie wird es durch die vorangegangenen massiven Hilfspakete und ultra-lockere Geldpolitik höchstwahrscheinlich zu einem Anstieg der Preise kommen wie nach vielen Kriegen. Es könnte eine Inflation von mehr als fünf Prozent oder sogar zehn Prozent im Jahr 2021 geben. (Allerdings hängt das von der Dauer der Pandemie ab. Je länger sie andauert, desto schwächer wird die Erholung der Wirtschaft und die Inflation ausfallen.)“
Die Baby-Boomer sagen leise Servus
Damals äußerten wir auch die Vermutung, wie Entscheidungsträger reagieren würden. „Vor allem werden sie behaupten, dass es sich bei der hohen Inflation um eine vorübergehende und einmalige Erscheinung handelt. Zweitens werden die Währungsbehörden erklären, dass dies ein durchaus wünschenswerter Ausgleich für die jahrelange Verfehlung der Zielvorgaben ist.“
Fortlaufende Fehler
Im Sommer 2021 begann die Inflation tatsächlich zu steigen, was vor allem auf vorübergehende Engpässe zurückzuführen war. Doch die Zentralbanken prognostizierten damals, dass der künftige Preisanstieg gering ausfallen – nicht viel über drei Prozent – und von kurzer Dauer sein würde. Bis Ende 2023 sei der Zielwert von zwei Prozent wieder erreicht oder sogar unterschritten. Damals waren sich die Zentralbanken über den wahrscheinlichen Nachfrageschub im Klaren, der auf die hohen staatlichen Hilfspakete folgen würde, insbesondere in den USA. Auch die inflationäre Wirkung der anhaltend lockeren Geldpolitik mit ihren massiven Anleihekäufen hatten sie auf dem Schirm. Trotzdem hatten sich die Zentralbanken derart verschätzt. Denn sie glaubten, dass der Nachfrageschub nach der Pandemie durch ein wachsendes Arbeitsangebot ausgeglichen würde. Arbeitnehmer würden nach den Entlassungswellen und Kurzarbeit wieder in großer Schar zur Arbeit zurückkehren.
Doch die Rückkehr der Arbeitnehmer an das Fließband verlief aus mehreren Gründen wesentlich verhaltener als erwartet. Erstens hatten die an Covid Erkrankten oft mit längerfristigen Beeinträchtigungen zu kämpfen.
Zweitens hatten viele Ältere gerne von zu Hause aus gearbeitet und sich angesichts voller Bankkonten entschieden, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.
Für Zentralbanken besteht ein Anreiz, die Folgen des Kriegs für die Inflation aufzubauschen, da dieser Krieg ganz eindeutig nicht ihre Schuld ist und sie nichts dagegen tun können.
Drittens hatte die Abschottung während des Covid-Programms die üblichen Einwanderungsströme verringert. Der Brexit im Vereinigten Königreich hatte diese Ströme sogar umgekehrt. Letztlich war der Zuzug in das Vereinigte Königreich und in die USA in den Covid-Jahren viel geringer als normal. Aus all diesen Gründen herrschte zusätzliche Knappheit am Arbeitsmarkt in der zweiten Hälfte des Jahres 2021. In Folge übertrafen Inflation und das Lohnwachstum die Prognosen der Notenbanker bei weitem. Dann brach der Ukraine-Krieg aus.
Hehre Hoffnungen
Für viele Volkswirtschaften löste der Angriff Russlands auf sein Nachbarland einen massiven und unerwarteten negativen Angebotsschock aus. Dennoch besteht für die Zentralbanken ein klarer Anreiz, die Auswirkungen des Kriegs auf die Inflation aufzubauschen. Denn dieser Krieg ist ganz eindeutig nicht ihre Schuld und sie können nichts dagegen tun.
Es herrscht daher nach wie vor die weit verbreitete Ansicht, dass die Inflation, wenn die Auswirkungen des Ukraine-Krieges geringer werden oder hoffentlich sogar ganz verschwinden, recht schnell zurückgehen wird. Die Dämpfung der Preise soll durch die im Jahr 2022 eingeleitete Anhebung der Zinsen und deren negative Folgen für die Konjunktur und die Arbeitslosigkeit noch verstärkt werden – wenn auch hoffentlich auf sanfte Weise für die Wirtschaft. Die Zentralbank rechnet damit, dass die Inflation bis etwa Ende 2024 recht schnell wieder auf das Zielniveau zurückkehren und dann ab 2025 häufig unter die Zielmarke von zwei Prozent sinken würde.
Gescheiterte Geldpolitik?
Wir sind weiterhin der Ansicht, dass die Prognosen für einen reibungslosen Rückgang der Inflation zu optimistisch sind. Unserer Ansicht nach werden wesentliche Entwicklungen ausgeblendet: der weltweite Trend zu einem viel langsameren Wachstum bzw. Rückgang der Zahl der Erwerbsfähigen – die gesellschaftliche Alterung. Außerdem droht ein zweiter kalte Krieg zwischen dem autokratischen Block aus Russland, China, Nordkorea und Iran einerseits und den westlichen Demokratien andererseits.
Der größte Mangel am Arbeitsmarkt besteht bei Menschen, die relativ ungelernte Dienstleistungsberufe ausüben und mit anderen Menschen zu tun haben. Ein typisches Beispiel liefert das Vereinigten Königreich. Der Nationale Gesundheitsdienst verzeichnet lange Wartelisten, z. B. für Hüftoperationen, weil nicht genügend Betten zur Verfügung stehen. Es stehen nicht genügend Betten zur Verfügung, weil sie mit invaliden alten Menschen belegt sind, die nicht entlassen werden können. Denn es gibt nicht genügend Plätze in Pflegeheimen für sie. Es gibt nicht genügend Plätze, weil es nicht genügend Pflegepersonal gibt.
Viele Länder, wie z. B. das Vereinigte Königreich, öffnen ihre Einreisevisa für Personen mit ausgeprägten technischen Fähigkeiten. Aber der eigentliche Mangel besteht an ungelernten Arbeitskräften, die bereit sind zu tun, was nur wenige Einheimische machen wollen.
Mangelnde Mittel
Eines Probleme ist, dass eine Drosselung der Nachfrage, etwa durch straffere Geldpolitik, den Bedarf an ungelernten Arbeitskräften kaum verringert. Angesichts des anhaltenden Mangels könnten die Lohnerhöhungen weniger auf eine allgemein steigende Arbeitslosigkeit reagieren als in der Vergangenheit.
Darüber hinaus gehen die meisten Modelle, auf die sich die Prognosen der Zentralbanken teilweise stützen, davon aus, dass Löhne und Preise nur auf erwartete Entwicklungen und nicht auf vergangene Ereignisse reagieren. Aber sowohl die Reallöhne als auch in vielen Fällen die Rentabilität sind durch den derzeitigen Anstieg der Kosten, insbesondere der Energiekosten, geschmälert worden. Unserer Ansicht nach werden die Unternehmen versuchen, bis zu einem gewissen Grad ihre künftigen Einnahmen wiederherzustellen, um den Schaden, der in diesem Jahr entstanden ist, auszugleichen.
Dramatische Defizite
Angesichts des anhaltenden Mangels in diesen Bereichen könnten die Lohnerhöhungen weniger als in der Vergangenheit auf die steigende Arbeitslosigkeit reagieren. Außerdem gehen die meisten ökonomischen Modelle, auf die sich die Prognosen der Zentralbanken teilweise stützen, davon aus, dass Löhne und Preise nur auf erwartete Entwicklungen und nicht auf vergangene Erlebnissen reagieren. Aber sowohl die Reallöhne als auch in vielen Fällen die Rentabilität sind durch den derzeitigen Anstieg der Produktionskosten, insbesondere der teuren Energie, geschmälert worden. Unserer Ansicht nach werden die Unternehmen versuchen, zumindest bis zu einem gewissen Grad ihre künftigen Einkommen wiederherzustellen, um den Schaden, der im Vorjahr entstanden ist, auszugleichen.
Wir bezweifeln daher sehr, dass die Lohnerhöhungen in den Jahren 2023 und 2024 ohne weiteres auf ein Niveau sinken werden, das mit dem Inflationsziel vereinbar ist. Es sei denn, die Zinssätze und die Arbeitslosigkeit werden auf ein wirklich sehr hohes Niveau angehoben – das bedeutet Rezession. Und wenn Letzteres eintreten sollte, wären die negativen Auswirkungen auf das Haushaltsdefizit extrem: Steuerausfälle und steigende Ausgaben, z. B. für Arbeitslosengelder, sowie höhere Zinssätze würden die öffentliche Verschuldung in die Höhe treiben. Dadurch wäre die Tragfähigkeit hoch verschuldeter Staaten in Frage gestellt, vor allem für Länder mit einer prekären Ausgangssituation wie in Südeuropa.
Stagflation 2.0
Aus all diesen Gründen sind wir der Meinung, dass der externe Druck die Zentralbanken dazu veranlassen wird, ihre straffe Geldpolitik deutlich zu lindern, bevor das Inflationsziel erreicht ist. Wir gehen davon aus, dass die Inflation wegen der Alterung in den nächsten Jahren nicht oder nur sehr vorübergehend unter drei oder vier Prozent fallen wird. Das wird mit Zinssätzen zwischen drei und vier Prozent, einem sehr schwachen Wachstum und einer Arbeitslosigkeit, die mindestens ein oder zwei Prozentpunkte über dem derzeitigen Niveau liegt, einhergehen. Dies ähnelt der Situation in den 1970er-Jahren. Mit anderen Worten: Willkommen in der Stagflation 2.0.
Kein schönes Bild, aber es ist besser, sich bewusst zu machen, was passieren könnte, auch wenn es nicht schön ist, als mit verbundenen Augen in solche Zeiten zu gehen.
Conclusio
Die akuten Schocks durch Pandemie und Krieg haben die Inflation in historisch beinahe vergessene Höhen getrieben. Gleichzeitig ereignet sich derzeit beinahe weltweit eine große demografische Wende. Der massive Anstieg an Erwerbstätigen durch hohe Geburtenzahlen, gesellschaftlichen Wandel und Chinas Eintritt in das Welthandelssystem hat seinen Zenit überschritten. Die Alterung senkt die Arbeitskräfte und sorgt gleichzeitig für steigende Nachfrage in Bereichen wie der Pflege. Die Folgen der Alterung: höhere Inflation als in den vergangenen drei Jahrzehnten, entsprechend höhere Zinsen und nicht zuletzt ein schwächeres Wachstum. Der Lichtblick: nach dem vergangenen Jahrzehnt der Flaute, könnte die Produktivität endlich wieder steigen.