Europa, bitte aufwachen!
Die Abhängigkeiten Europas beschränken sich nicht auf russisches Gas. Drei Ansätze, wie Europa mehr Autonomie und Souveränität erlangen kann – und so mehr Gewicht in der Welt erhält.
Die europäische Abhängigkeit von russischem Gas hat zu heftigen Diskussionen über weitere Sanktionen gegen Russland geführt. Die Europäische Union ist gespalten, ob sie massive wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen soll, um im Gegenzug Russland den Hahn der Kriegsfinanzierung abzudrehen. Doch Abhängigkeiten gibt es nicht nur bei Energie und von Russland. Es ist Zeit, dieser Tatsache ins Auge zu sehen und endlich aktiv zu werden.
Anhand der Gas-Importe aus Russland kann man gut nachzeichnen, was passiert, wenn man die Probleme nicht rechtzeitig angeht. Eine zehnprozentige Kürzung der Gaslieferungen würde die Wertschöpfung in der Eurozone laut EZB um fast 0,7 Prozent verringern. Besonders abhängige Länder wären sogar noch schlimmer dran: Simulationen für Deutschland und Österreich zeigen einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von etwa zwei bis drei Prozent im Falle weiter steigender Gaspreise und/oder eines Versorgungsschocks; bei einem vollständigen Stopp der Gasversorgung wäre der Effekt noch einmal deutlich stärker. Hohe Gas- und Strompreise – derzeit sind sie etwa zehn Mal so hoch wie in den USA – gefährden aber auch längerfristig die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen. Viele stehen mit der ganzen Welt in Konkurrenz – und der Rest der Welt ist vom russischen Krieg doch signifikant weniger betroffen als wir.
Es geht um mehr als nur Gas
Der Wohlstand blüht vor allem dann, wenn er nicht bedroht wird. Das antike Ägypten zum Beispiel wurde lange Zeit durch seine Wüste vor militärischen Angriffen geschützt. Sicherheit und Ruhe machen aber immer auch ein bisschen müde – damit kennt man sich in Europa freilich aus. Hier wurde in den vergangenen Jahren schon so manches Schläfchen gehalten, allerdings nicht überall: Denn die osteuropäischen Länder wie etwa Polen haben längst eine Reihe an strategischen Entscheidungen in Sachen Gas getroffen und umgesetzt – den Bau eines LNG-Terminals für Flüssigerdgas zum Beispiel und die Baltic Pipeline.
Osteuropa trifft solche Entscheidungen im Schatten einer ständigen Bedrohung. Dort weiß man, mit wem man es zu tun hat, und trotzdem wurden osteuropäische Befürchtungen innerhalb der EU häufig bagatellisiert. Für Österreich hingegen gilt, was der kürzlich verstorbene ehemalige Vizekanzler Erhard Busek formulierte: „Ein bissl aufwachen tät’ uns gut“.
Am falschen Ende der Pipeline
Denn unsere Energieabhängigkeit beschränkt sich leider nicht nur auf fossile Brennstoffe. Nach Angaben der UN-Comtrade-Datenbank importierte die Europäische Union im Jahr 2020 mehr als 85 Prozent aller Photovoltaikzellen im Wert von 9,2 Milliarden Dollar aus China. Chinas Dominanz in den erneuerbaren Energien ist auch sonst beeindruckend: 52 Prozent der weltweiten Aufträge für Windenergie gehen nach China, außerdem 61 Prozent der Aufträge für Batterien. China hält 69 Prozent des Marktes für das Recycling von Lithium-Ionen-Produkten und ist führend bei seltenen Erden.
Die Abkopplung der europäischen Energieversorgung von russischen Importen könnte dazu führen, dass wir uns sofort in einer weiteren Abhängigkeit wiederfinden. Es ist hoffentlich noch nicht zu spät, diese zu durchbrechen, bevor wir vor den nächsten unangenehmen Entscheidungen stehen.
Knackpunkt Wirtschaft
Wie schaffen wir in Europa das richtige Maß an Anspannung und Aufmerksamkeit, das es offenbar braucht, damit wir uns wieder unabhängiger machen? „Business as usual“ ist, egal, ob uns das missfällt, schon lange keine Lösung mehr, und man muss sich fragen, was es eigentlich noch braucht, wenn nicht einmal mehr ein Krieg bei unseren Nachbarn – und auch ein Krieg gegen unsere westlichen Werte – dazu führt, dass wir das endlich anerkennen und uns entsprechend verhalten.
Wenn wir nicht schnell aufwachen, werden wir von einer Krise in die nächste taumeln.
Zur Sicherung der wirtschaftlichen Souveränität Europas sollten wir uns drei Aspekten besonders widmen: Der weiteren wirtschaftlichen Integration in Europa, der besseren Nutzung bestehender Instrumente und der Sicherung strategischer Partnerschaften mit demokratischen Ländern. Vor uns liegt ein straffes Programm, über das wir nicht mehr nur diskutieren dürfen, sondern das auch angepackt werden muss.
Zunächst muss die Europäische Union die wirtschaftliche Integration, also die Zusammenführung ihrer Märkte, weiter betreiben. Denn privat finanzierte Projekte führen nur dann zu Renditen, wenn der Markt dafür auch groß genug ist. Das ist aber nur der Fall, wenn die Märkte für Arbeitskräfte, vor allem aber die Kapitalmärkte, weiter zusammengebracht werden. Mit einem großen, integrierten Markt könnte Europa mit einer Stimme sprechen. Das würde uns mehr Gewicht im internationalen geoökonomischen Umfeld verleihen und außerdem dazu beitragen, die Interessen einzelner Länder mit denen Europas besser in Einklang zu bringen.
Die EU auf eigene Beine stellen
Nächster Punkt auf dem Weg zur Aufwertung der Rolle der EU: Die umfangreichere Nutzung bereits bestehender Möglichkeiten der vertieften Zusammenarbeit. Wir haben schon die Instrumente, die wir brauchen, aber wir schöpfen ihre Potenziale noch nicht voll aus. Da wäre beispielsweise das etablierte IPCEI-Programm („Important Project of Common European Interest“), das anspruchsvolle Projekte in Europa fördert, mit denen wir unsere strategischen Ressourcen sichern könnten – auch mit Blick auf die zukünftige Energiesicherheit, zum Beispiel durch die Nutzung von Grünem Wasserstoff. Auch bei Halbleitern – die aktuellen Engpässe bei Chips haben uns gerade die Bedeutung dieser Hightech-Produkte vor Augen geführt – sollte die EU über forcierte Anstrengungen zu mehr Eigenständigkeit kommen.
Ein Hoch auf die Globalisierung
Und schließlich muss sich Europa wieder stärker auf die Möglichkeiten des globalen Außenhandels besinnen. Wir sollten uns sehr ernsthaft darum bemühen, unsere strategischen Handels- und Investitionspartnerschaften wiederzubeleben und auszubauen. Naheliegende Kandidaten wären zum einen der gemeinsame Markt Südamerikas Mercosur sowie eine Erneuerung der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP in Form des EU-US Trade and Tech Council (TTC), einer regulatorischen Initiative von Washington und Brüssel. Das Gremium, das gegründet wurde, um die technologische Dominanz Chinas zu bekämpfen, will eine Reihe von Herausforderungen angehen, einschließlich der Zusammenarbeit bei Technologiestandards, globalen Handelsherausforderungen und der Sicherheit der Lieferkette, Klima und grüne Technologie, IKT-Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit.
Bei Handelsabkommen geht es also um viel mehr, als platte Kapitalismuskritik und Chlorhühnchen-Witze es mitunter vermuten lassen würden. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass unsere Erfahrungen aus den letzten Monaten und Jahren auch in den öffentlichen Diskussionen dazu beitragen werden, dass wir zu guten Lösungen kommen. Denn Europas Abhängigkeit beschränkt sich nicht auf russisches Erdgas. Wenn wir nicht schnell aufwachen, werden wir von einer Krise in die nächste taumeln.