Ein Frontbericht von der Kursk-Offensive

Der ehemalige US-Militär Paul Schwennesen meldete sich erstmals 2022 freiwillig in der Ukraine, um an der Front Hilfe für Zivilisten und bei der Kampflogistik zu leisten. Aus erster Hand berichtet er von seinen Erlebnissen.

Illustration für einen Bericht von der Kursk-Offensive: Ein Denkmal von Wladimir Lenin, das bei Kämpfen beschädigt wurde vor zerrissenen  Russlandflagge.
Das Denkmal von Wladimir Lenin wurde bei Kämpfen in Sudzha, Kursk, beschädigt, nachdem ukrainische Truppen im August in die russische Nachbarregion eindrangen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Vorstoß. Die ukrainische Kursk-Offensive auf russisches Territorium überraschte nicht nur Feind sondern auch Freund.
  • Gute Moral. In den Reihen der ukrainischen Armee herrscht Euphorie, während in der russischen Grenzregion ein Vakuum besteht.
  • Interessenlosigkeit. Die Ukrainer müssen ihren Vormarsch noch konsolidieren, an einer langfristigen Besetzung des eroberten Gebiets haben sie wenig Interesse.
  • Strategischer Rückzug. Wahrscheinlich ist, dass die Ukraine das besetzte Gebiet als Verhandlungsmasse nützt.

Dieser Augenzeugenbericht konzentriert sich nicht auf strategische Fragen, sondern schildert aktuelle Entwicklungen an der ukrainisch-russischen Front. Aus diesen Schilderungen lassen sich allgemeine Aussagen ableiten – vor allem, um den „Spirit“ eines Schlachtfelds zu verstehen – die Kombination aus Moral, Ehrgeiz und Entschlossenheit, die über Sieg oder Niederlage einer Kampftruppe entscheiden kann.

Der ukrainische Vorstoß bei Kursk hat viele im Westen verblüfft, nicht nur weil er überrschend kam, sondern auch wegen der unklaren strategischen Ziele der Offensive. Nicht nur die Verbündeten sind verwirrt. Der russische Kommandostab ist eindeutig von den jüngsten Ereignissen erschüttert, große Teile der betroffenen russischen Zivilbevölkerung sind fassungslos und verwirrt, und gewöhnliche ukrainische Truppen versuchen, die Ereignisse in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen.

Wie ein Ringer, der gegen einen größeren Gegner allmählich an Boden verliert und plötzlich seinen Griff verlagert, zielt der Einfall der Ukraine in Kursk in erster Linie darauf ab, ein ungünstiges Gleichgewicht zu verändern. Also eine Neuordnung anzustreben, die eventuell Möglichkeiten für neue Hebelpunkte bieten könnte. Kurz gesagt, es handelt sich um ein Glücksspiel; mögliche zukünftige Gewinne werden gegen die unvermeidlichen Verluste des Status quo abgewogen.

Euphorie und gute Moral

Das augenfälligste Merkmal der derzeitigen grenzüberschreitenden Dynamik ist die schiere Energie, die sich offenbart. Auf der Autobahn H07 von Sumy bis zur russischen Grenze herrscht reger Verkehr, wobei etwa 200-300 Fahrzeuge pro Stunde russisches Gebiet erreichen. Dieser Hochgeschwindigkeitsverkehr in eine Richtung (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich von gepanzerten Fahrzeugen) erzeugt eine Staubwolke, die durch zerstörte ehemalige Grenzkontrollpunkte führt.

Die ukrainische Stimmung ist von Aufregung geprägt und grenzt an ein schwindelerregendes Gefühl. Der Enthusiasmus ist ansteckend und die Einheiten wetteifern um die Chance „reinzukommen und zu kämpfen“. Diese Stimmung zieht einen hohen Anteil an aggressiven Elementen an und im allgemeinen Durcheinander beteiligen sich viele an so genannten „Piraten“-Operationen. Das soll nicht heißen, dass das ukrainische Kommando keine Pläne hat oder nicht organisiert ist, sondern nur, dass alle kontaktierten Einheiten an der Front von einem allgemeinen Eifer erfüllt sind, den Kampf gegen die Russen aufzunehmen.

Die Initiative geht nicht nur vom ukrainischen Generalstab aus, sondern von der gesamten Kommandostruktur.

Diese Einheiten sind besonders eifrig: Mitglieder unseres Teams wurden eingeladen, an verschiedenen Missionen teilzunehmen. Die ukrainischen Einheiten wetteifern um „Manpower“, die sie benötigen, um in ausgewählte Zielsektoren vorzustoßen. Die Atmosphäre ist fast wie auf einer Party – Enthusiasmus und spontane Initiative sind überall zu spüren, von den Reparaturwerkstätten bis zu den Tankstellen, die als soziale Zentren und Last-Minute-Vorratsdepots fungieren.

Es ist schwer zu sagen, ob dieser spürbare Eifer effektiv kanalisiert wird oder nur eine unkonzentrierte Anstrengung darstellt. Es ist offensichtlich, dass die Initiative nicht nur vom ukrainischen Generalstab, sondern von der gesamten militärischen Kommandostruktur ausgeht.

Natürlich hat dieser Ekstase auch einige Spinner und Sonderlinge angezogen. Einige von ihnen, die seit den Anfängen der Kämpfe im Donbass vor mehr als einem Jahrzehnt aktiv sind, haben sich eifrig an die Front begeben, um Chaos anzurichten. Sie stehen zwar nominell unter militärischem Kommando, wechseln aber von Kommando zu Kommando und suchen nach Gelegenheiten für Kämpfe und Adrenalin. Es handelt sich um einen seltsam undisziplinierten Haufen, aber sie stellen einen bedeutenden Teil der Initiative an der Front und werden daher von den ukrainischen Kommandostrukturen offenbar toleriert.

Trojanisches Pferd

Es lohnt sich aber, die Mechanismen der Offensive im Detail zu betrachten. So wurde uns beispielsweise (mit großem Vergnügen gezeigtes) Filmmaterial aus den ersten Stunden vor dem Grenzangriff vorgelegt. Ein Video zeigt, wie sich vorgeschobene Aufklärungs- und Angriffseinheiten als Mitglieder des (russisch-tschetschenischen) Achmat-Bataillons ausgeben, das mit der sekundären Grenzsicherung in der Nähe von Sudzha beauftragt ist. Die ukrainischen Einheiten verwendeten erbeutete Uniformen und Waffen und färbten sogar ihre falschen Bärte mit schwarzen Markern, um die Täuschung zu vervollständigen. Ihr Überraschungsangriff wurde dann mit Panzerunterstützung fortgesetzt, die zu den berühmten Kapitulationsszenen führten, die am nächsten Morgen per Telegramm um die Welt gingen. Die Überraschung scheint tatsächlich gelungen zu sein.

Bei den laufenden Operationen haben wir festgestellt, dass relativ wenig schwere Panzer in Richtung russisches Territorium mobilisiert wurden. Stattdessen überwiegen Fahrzeuge mit mittlerer und leichter Panzerung: Amerikanische Humvees, ukrainische Dozor-Bs, britische Ocelots, australische Bushmasters und dergleichen. Eine Konstellation von informell militärisch ausgerüsteten zivilen Lastwagen fungiert als allgegenwärtige Transportkette, die meisten von ihnen sind ungepanzert, um wendiger zu sein.

Gut gerüstet

Die meisten Fahrzeuge, die nach Russland gelangen, sind relativ neu und in gutem bis ausgezeichnetem Zustand – mit der entsprechenden logistischen Unterstützung für Wartung, Reparatur und Instandhaltung. Insgesamt entsteht der Eindruck einer gut ausgerüsteten, kompetenten Truppe, die im vollen Besitz ihrer Aufgaben und Mittel ist.

Unterstützungsfeuer (wir wurden Zeuge des Abschusses von HIMARS oder eines gleichwertigen Systems) und schwere Artillerie (155 mm) werden offenbar hauptsächlich vom ukrainischen Territorium aus abgefeuert, obwohl auch ein Einsatz an der Frontlinie zu beobachten ist. Interessant ist auch, dass nahezu alle Fahrzeuge Störsender montiert haben, und (zumindest) die Iridium-Satellitenbandbreiten scheinen vollständig deaktiviert zu sein, höchstwahrscheinlich um GPS-gesteuerter Munition entgegenzuwirken.

Wir haben innerhalb von 24 Stunden nur ein zurückkehrendes medizinisches Evakuierungsfahrzeug gesehen, was entweder auf umfangreiche medizinische Einrichtungen an der Front (was zu bezweifeln ist) oder auf geringe Opferzahlen schließen lässt. Wir erhielten direkte Berichte über einen amerikanischen Freiwilligen, der in der Region Kursk gefallen ist (einer von mehreren ausländischen Freiwilligen), aber insgesamt scheint es relativ wenige Verluste zu geben.

Keine Anzeichen für Widerstand

Während auf der ukrainischen Seite der Grenze ein fast euphorisches Ambiente herrscht, besteht auf der russischen Seite ein Vakuum. Die Evakuierung der Zivilbevölkerung ist fast abgeschlossen, nur einige wenige, meist ältere Bürger sind übrig geblieben. Die ehemaligen Grenzkontrollpunkte sind nur noch Haufen aus verbogenem Metall und pulverisiertem Mauerwerk. Von einem organisierten Widerstand gegen den ukrainischen Einmarsch ist nichts zu sehen.

Nachdem ich den ukrainischen Widerstand in Irpin und Bucha miterlebt habe, als sie noch unter der russischen Besatzung leideten, könnte der Unterschied kaum größer sein. Im Jahr 2022 waren überall Beweise für den erbitterten ukrainischen Widerstand zu sehen: Kisten mit Molotow-Cocktails an Straßenecken und Schmähbotschaften auf Fassaden sowie Patronenhülsen, die sich hinter behelfsmäßigen Barrieren gegen die Eindringlinge stapelten.

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Zahlen & Fakten

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In Russland ist die Lage völlig anders. Die Bürger flohen vor dem ukrainischen Vormarsch, ohne sich zu wehren, und ließen ihre Häuser und ihr Hab und Gut völlig unverteidigt zurück. Ich habe nur eine behelfsmäßige Straßensperre dokumentiert, die aus einem Stapel Stühle und ein paar Gartengeräten bestand. Es scheint keine offiziellen Bemühungen gegeben zu haben, sich dem ukrainischen Vormarsch zu widersetzen.

Von den wenigen verbliebenen Zivilisten sind einige bereit, sich (auf Ukrainisch!) mit den Besatzern zu unterhalten. Wir sprachen mit einer Frau, die sichtlich verwirrt von den abrupten Veränderungen war und glaubte, dass das ukrainische und das russische Militär gemeinsame Sache machten und nur die knappen Ressourcen ihres Dorfes stehlen wollten. Sie lehnte ein Angebot für ukrainisches Bargeld ab und fragte uns verbittert: „Wo soll ich das ausgeben?“

Das mangelnde Interesse der Ukrainer an Diebstählen ist auf ihre Abscheu vor der Armut der Russen zurückzuführen.

Der Rest der zurückgebliebenen Zivilisten lebt im verborgenen. Es hat den Anschein, dass einige von ihnen relativ systematisch, wenn auch auf niedrigem Niveau, die Häuser ihrer ehemaligen Nachbarn geplündert haben. Grob aufgebrochene Türschlösser, geplünderte Kellerräume und gestohlene Kleinigkeiten wie veraltete Computerfestplatten deuten darauf hin, dass einige Zurückgebliebene (aus Notwendigkeit oder Opportunismus) die frisch geräumte Stadt ausgenutzt haben.

Die Ukrainer ihrerseits sind durch diese Städte gezogen und haben auf ihrem Weg zur sich ausbreitenden Frontlinie alles im Wesentlichen unangetastet und unbesetzt gelassen. Sie hinterlassen lediglich das Invasionssymbol eines umgedrehten Dreiecks, um Gebäude und Fahrzeuge als „geräumt“ zu kennzeichnen. Diese Zurückhaltung ist nicht auf eine militärische Autorität zurückzuführen, denn es gibt keine – wenn überhaupt, wurde nur wenig zivile, militärische oder polizeiliche Autorität eingesetzt.

Das mangelnde Interesse der Ukrainer an Diebstählen (abgesehen von einigen symbolischen Trophäen wie Nummernschildern) ist vielmehr auf ihre unverhohlene Abscheu vor der Armut der Russen zurückzuführen. Toiletten, Waschmaschinen und sogar unverschlossene Motorräder haben keinen Reiz für die vergleichsweise wohlhabenden ukrainischen Soldaten, die sich über die schäbigen materiellen Besitztümer ihrer Feinde lustig machen.

Alles in allem ist die Situation außerordentlich unbeständig, fast schon spontan. Die ukrainischen Streitkräfte ergreifen auf Gedeih und Verderb die Initiative und müssen ihren überraschenden Vormarsch noch vollständig konsolidieren. Der Unterschied in der Stimmung zwischen den gegnerischen Seiten ist eklatant – eine Tatsache, die im weiteren Verlauf des Konflikts von strategischer Bedeutung sein könnte.

Die Zeit danach

Am wenigsten wahrscheinlich ist, dass sich die Ukraine auf eine langfristige Besetzung einlassen wird.
Entgegen den Gerüchten (auf beiden Seiten der Grenze) über eine Wiederherstellung historischer ukrainischer Gebiete wie der „Sloboda Ukraine“ (Freies Grenzland) erscheint dies äußerst unwahrscheinlich. Die Ukraine hat einfach nicht den Willen oder die Fähigkeit zu so etwas wie einer langfristigen territorialen Annexion.

Wesentlich wahrscheinlicher ist es aber, dass die Ukraine einen Teil des eroberten Territoriums für eventuelle Verhandlungen nutzen wird. Die Nachschublinien sind zu lang und die Besatzung der Verteidigungsanlagen zu dünn, um einen nennenswerten Brückenkopf für einen Winterfeldzug unter dem vernichtenden Bombardement von KAB-500-Gleitbomben zu errichten. Vielmehr wird die Ukraine wahrscheinlich bald einen strategischen Rückzug einleiten. Eventuell bis zum Fluss Seym bei Rylsk oder zum Fluss Psel bei Sudzha, wo sie sich eingraben und das eroberte russische Territorium verteidigen kann, um es als Verhandlungsmasse zu nutzen, während sie ihre Kräfte auf den russischen Vorposten Pokrowsk im Donbass und die Operationen auf der Krim ausrichtet.

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Conclusio

Der schnelle ukrainische Vorstoß in der Region Kursk überraschte nicht nur die Russen, sondern auch die Verbündeten im Westen. Die Ukrainer sind von Euphorie und Eigeninitiative getrieben, was sich positiv auf die Moral im Kursker-Frontabschnitt auswirkt. Dennoch hat die Ukraine nicht das Interesse und die Möglichkeit das russische Territorium langfristig zu besetzten. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass das besetzte Territorium als Verhandlungsmasse genutzt wird.

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