Lohnt sich Landwirtschaft noch?
Der Agrarökonom Franz Sinabell kann verstehen, dass sich ein Landwirt heute fühlen kann wie „der letzte Mohikaner“. Ein Interview über ein System voller Widersprüche.
Landwirt zu sein ist heute nicht nur nicht einfach, sondern erfordert geschicktes wirtschaftliches Kalkül. Die Agrarpolitik reguliert dabei zu viel und scheut zugleich vor den wichtigsten Änderungen zurück, sagt der Ökonom Franz Sinabell.
Der Jahresbeginn war geprägt von den so genannten Bauernprotesten. Als die Subventionen für Agrardiesel gekürzt werden sollten, sind in Deutschland Landwirte auf die Straße gegangen, später haben Bauern aus andern Ländern Europas Autobahnen und schließlich Brüssel mit brennenden Autoreifen und Heuballen blockiert. Können Sie die Proteste verstehen?
Franz Sinabell: Die Gründe für diese Proteste sind vielfältig und hängen zum Teil mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU zusammen, aber auch mit den nationalen Agrarpolitiken, und die sind unterschiedlich. In dem einen Land gibt es eine Rückvergütung von Steuern, in einem anderen nicht. Und ein dritter Punkt ist die Inflation, verbunden mit der Situation, dass die Preise für Agrargüter in vielen Fällen schon wieder gefallen, aber die Lebenshaltungskosten noch hoch sind. Es ist eine Gemengelage.
Waren die Proteste erwartbar?
Solche Situationen gab und gibt es immer wieder. Ich erinnere mich da an die Abschaffung der Milchquote 2015, die sehr viele Bauern aufgebracht hat. Das gleiche war dann die Abschaffung der Quoten für Zuckerrüben. Immer, wenn es spürbare Änderungen gibt, gibt es eine Gruppe von Landwirten, die das als Anlass nimmt, deutlich sichtbare Proteste zu starten. Heute kommt zusätzlich dazu, dass ich den Eindruck habe, dass rechte politische Gruppen Interesse haben, zusätzlich Unfrieden zu schüren, um das für ihre eigenen Bewegungen zu instrumentalisieren.
Regenerative Landwirtschaft: Nur Greenwashing?
Warum kann das gelingen, immerhin ist das Agrarbudget das größte Subventionsbudget der EU?
Das Gewicht der Subventionen ist für die Steuerzahler eine sehr große Position, aber durch die Inflation und die Geldentwertung und dadurch, dass das Niveau immer gleich gehalten wird, kommt bei den Bauern immer weniger an. Eine neue Facette sind die Änderungen, die durch den Green Deal, durch die Farm to Fork-Strategie initiiert worden sind. Das finden viele übertrieben, als einen Übergriff auf die Art und Weise, wie produziert wird, so können Aufrufe zum Protest auf fruchtbaren Boden fallen.
Die Landwirtschaft war ja schon früh industrialisiert und ist durch viele Phasen des Strukturwandels gegangen. Ist das heute wieder eine Zeit der Transformation?
Vor etwa 150 Jahren waren 80 Prozent der Menschen in irgendeiner Weise mit der Landwirtschaft verbunden. Aus Armut haben viele Menschen, die am Land gelebt haben, jeden Grashalm genutzt, um über die Runden zu kommen. Seitdem künstliche Dünger und Maschinen verfügbar sind, gibt es Strukturwandel. Die Generation heute kennt keine andere Zeit als die des Strukturwandels. Sie nehmen wahr, dass die Hilfen immer weniger werden. Die Betriebe müssen wachsen, um die Familie ernähren zu können. Wenn sie das nicht schaffen, dann hängt es vom jeweiligen Land ab, welche Auswege es gibt. In Österreich können Betriebe Landwirtschaft betreiben und noch ein anderes Erwerbseinkommen haben ohne wichtige Förderungen zu verlieren. In anderen Ländern gibt es diese Möglichkeit nicht, und da kann ich mir vorstellen, dass man sich manchmal wie der letzte Mohikaner fühlt und sehr emotional auf zusätzliche Veränderungen reagiert.
Es scheint so zu sein, dass sich Landwirtschaft für alle vor- und nachgelagerten Bereiche mehr lohnt, als für die Bauern selbst.
Die Agrargüter, die die Landwirtschaft produziert, werden über industrielle Prozesse erst zu Lebensmitteln. Es ist ja nicht mehr so, dass Nahrungsmittel vor allem zuhause zubereitet werden, also Eier, Fleisch und Mehl im Haushalt in Nahrung verwandelt wird, sondern das macht die Industrie, das macht die Kantine, das macht das Restaurant. Insofern ist es logisch, dass immer mehr Wertschöpfung auf diese Bereiche fällt, und dadurch sinkt der Anteil der Landwirtschaft an dem Kuchen. Landwirtschaft ist ein gutes Geschäft, aber es ist ein extrem risikobehaftetes Geschäft, und jeder Bauer, der überlegt, eine Investition zu machen, muss sich das fünfmal überlegen, denn er konkurriert mit der ganzen Welt um die günstigsten Produktionsmöglichkeiten. Und da sind wir beim Thema Produktivität. Da ist es so, dass wir in Europa bestimmte technische Möglichkeiten den Bauern nicht zur Verfügung stellen: In der ganzen Welt wird zum Beispiel gentechnisch verändertes Saatgut eingesetzt, in Europa ganz wenig. Das erhöht natürlich die Produktionskosten und macht das Leben für die Bauern nicht leichter.
Mit Gentechnik wäre es profitabler, Landwirt zu sein?
Soweit würde ich nicht gehen. Ich will damit sagen, dass Produktivitätsentwicklung ein langfristiger Prozess ist, und wenn wir als Gesellschaft einem im internationalen Wettbewerb stehenden Sektor nicht die Möglichkeiten eröffnen, an den technischen Entwicklungen teilzuhaben, dann kann es mit diesem Sektor nur bergab gehen, es sei denn, wir greifen ihm mit öffentlichen Geldern unter die Arme, und dafür wird die Bereitschaft immer geringer.
Von technologischen Neuerungen wie Automatisierung und Digitalisierung scheinen aber auch nicht die Landwirte zu profitieren. Entwertet Technologie generell die eigentliche Herstellung von Lebensmitteln?
Sobald Landwirte Dinge, die sie selbst herstellen oder leisten konnten, zukaufen müssen, um am Ball zu bleiben, fließt Wertschöpfung in die vorgelagerten Sektoren. Das sehen wir seit 150 Jahren. Die Produktivität steigt, aber die Wertschöpfung am Hof sinkt. Ein gutes Beispiel ist die Milchwirtschaft, wo sich Melkroboter durchgesetzt haben. Nur um diese Maschinen zu warten, muss ein Bauer so viel Milch verkaufen, wie zwei Kühe im Jahr an Milch geben. Ein Durchschnittsbetrieb hat 20 Kühe, daher lohnt sich ein Roboter nur für große Betriebe. Hinzu kommt, dass Technologen nur langsam diffundieren. Hybrid-Saatgut für Mais wurde im vorigen Jahrhundert entwickelt und kam nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA großflächig auf die Felder. Bis das in Österreich stattgefunden hat, sind weitere 20 Jahre gegangen. Landwirte müssen aber Investitionsentscheidungen treffen. Sie zahlen zwanzig Jahre einen Kredit zurück, ohne zu wissen, ob der Markt für ihr Produkt dann noch da ist oder ob sie eine Kultur noch anbauen können.
Ist das der Grund für Verschuldung?
In Österreich ist die Verschuldung nicht so hoch. Die Eigenkapitalquote ist vergleichsweise hoch und Betriebe sind dem Finanzmarkt-Risiko damit nicht so ausgesetzt. Der Nachteil, der damit ein-hergeht, ist, dass die Betriebe relativ klein sind. In anderen Ländern, beispielsweise in Osteuropa, ist die Eigenkapitalquote sehr niedrig. Diese Betriebe merken es sehr stark, wenn die Zinsen um einen Prozentpunkt steigen.
Die Technologien gehören meist großen Konzernen – etwa bei der Robotik, beim Saatgut, bei Pestiziden und Dünger. In den letzten Jahren hat man außerdem gesehen, dass Saatgut- und IT-Hersteller fusionieren. Wie wirken sich diese Strukturen auf die Märkte aus?
Die Effekte sind unterschiedlich. Im Bereich Geflügel sind es eine handvoll Unternehmen weltweit, die die Genetik der Lege- und Masthühner de facto im Griff haben. Das ist ein extrem konzentrierter Markt. Bei Gras ist es aber ein deutsches Familienunternehmen, das offenbar die besten Grassorten hat und europaweit verkauft, in Österreich gibt es Genossenschaften, die ihr eigenes Saatgut herstellen. Bei den Bienen wiederum sind es ganz kleine Unternehmen, die Königinnen produzieren und in die ganzen Welt verkaufen. Das heißt, die Märkte sind sehr heterogen. Auch kleine Unternehmen können sich in hoch konzentrierten Märkten behaupten. Es muss auch bei den technologischen Entwicklungen nicht zwangsläufig so sein, dass die großen Unternehmen die Märkte beherrschen.
Ein weiterer Trend ist die Arbeitsteilung in der Wertschöpfungskette: Schweine werden ja nicht mehr dort gemästet, wo sie gezüchtet werden. Wird sich die Segmentierung noch fortsetzen in Zukunft?
Diese Arbeitsteilung gab es bis zu einem gewissen Grad immer schon. Im tierischen Bereich sieht man nun aber, dass sich immer weniger Rassen als wirklich vorteilhaft und zukunftsfähig herausstellen. Das hat mit Investitionen zu tun, die auch durch den Markt gegeben sind. Die traditionellen Schweinezucht-Verbände in Österreich haben da nicht die Vorteile der großen Schweinezüchter in Dänemark, wo man mit allen wissenschaftlich-technischen Methoden und sehr viel Geld in der Lage ist, Zuchtlinien zu entwickeln, die länger produktiv sind. Kleinere Betriebe haben da Nachteile, aber niemand verbietet ihnen, sich zusammenzuschließen. Österreich ist immer noch kleinstrukturiert im Vergleich etwa zu Deutschland, wo die größte Molkerei mehr Milch verarbeitet als in ganz Österreich produziert wird. Österreich hat immer noch 71 Molkereien und Käsereien.
Werden sich diese kleinen Strukturen halten können?
Ich sehe jedenfalls für die Zukunft nicht, dass es Österreich nur noch ein paar Betriebe gibt, die das ganze Land bewirtschaften. Österreich ist sehr heterogen. Es gibt Landstriche, die von großen Betrieben dominiert sind, aber zugleich viele kleine. Ein Beispiel: In Österreich gab es 2020 22.000 Milchviehbetriebe – die gleiche Anzahl wie in den USA auch.
Die Widerständigen
Warum konnte sich das halten?
Es sind generell vier Bestimmungskräfte, die die Zukunft der Landwirtschaft beeinflussen. Das sind die Marktbedingungen, weiters die Technologie, die Unternehmerinnen und Unternehmer selbst, also die Bauern, die in diesem Sektor eine Zukunft sehen oder eben nicht, und die Agrarpolitik. In Österreich ist das Ziel, dass Familienbetriebe erhalten werden. Der Politik sind sozusagen alle Bauern gleich recht, egal ob der Hof im Nebenerwerb geführt wird oder nicht. In Frankreich hat man vor 60 Jahren entschieden, nur Vollerwerbsbetriebe zu unterstützen. Somit gibt es in Frankreich jetzt größere Betriebe. Deren Eigentümer sind genauso unzufrieden wie die kleinen Bauern in Österreich, weil alle dem Markt und den Technologieentwicklungen ausgesetzt sind. Da sind alle gleich, da geht es niemandem besser.
Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Änderungen, die Agrarpolitik vornehmen müsste?
Die Politik muss sich natürlich ändern, weil sich die Welt ändert. Dahinter steht aber vorrangig die Frage, ob sich auch die Ziele der Agrarpolitik anpassen müssen, also welche Art der Landwirtschaft ein Land haben möchte. Eigentlich hat Politik die Aufgabe, die Bauern ordentlich und in Ruhe arbeiten zu lassen und sie nicht zu überfrachten.
Mit was werden die Landwirte überfrachtet?
Ein Beispiel: Ab dem nächsten Jahr gilt die Nachhaltigkeitsberichterstattung, die alle großen Unternehmen einhalten müssen., Dafür verlangen sie Zertifikate von den Landwirten. Diese müssen dafür jemanden bezahlen, der auf den Betrieb kommt und ihn kontrolliert. Wenn es mehrere Abnehmer gibt, müssen mehrere Kontrolleure kommen. Ein Datenaustausch ist nicht möglich. Wie verrückt ist das? Niemand hat etwas davon. Der politische Prozess hätte meiner Meinung nach auch die Aufgabe, die Umsetzung nicht zu verkomplizieren. Das ist ein Beispiel, warum Bauern so frustriert sind. Die Umsetzung ist zu einem Geschäftsmodell für Zertifizierungsunternehmen geworden, und daher gibt es politischen Druck, Abläufe immer komplizierter zu machen.
An der Gemeinsamen Agrarpolitik ist seit Jahren die Kritik, dass die Förderung nach der Fläche eines der Hauptprobleme ist, weil sie den Druck auf kleinere Höfe erhöht während große Betriebe je größer sie sind, umso mehr Förderungen erhalten.
Es sind vor allem Probleme mit den Direktzahlungen. Eines davon ist, dass manche Mitgliedsstaaten viel weniger Förderungen je Hektar erhalten als andere. Ein zweites ist, dass etwa ein Viertel dieser Zahlungen gar nicht den Bauern zugute kommt, sondern den Landeigentümern, und das sind meist wohlhabende Personen.. Und es ist nicht ganz klar, was der Zweck der Zahlungen ist. Sie sind für das Risikomanagement eines Betriebes sehr wichtig. Weil es aber Steuergeld ist, will die Öffentlichkeit dafür natürlich etwas haben. So sind wir bei den Blühstreifen, den Fruchtfolge-Vorschriften, den GLÖZ-Standards usw. Ich habe eine Uni-Ausbildung. Ich muss mir die Regularien zwei Stunden aufmerksam durchlesen, um sie zu verstehen. Muss das so kompliziert sein? Als Bürger denke ich, man sollte den Landwirten die Beträge einfach zahlen, damit sie im Krisenfall da sind und Agrargüter produzieren.
Und der Anspruch auf ökologische Verträglichkeit?
Dafür sind die Direktzahlungen nicht das richtige Instrument. Das wären zielgerichtete Programme sinnvoller. Es gibt in Österreich Landschaften, die sind völlig ausgeräumt und bräuchten vermutlich dringend Maßnahmen, um die Biodiversität zu erhöhen. Dann wieder gibt es Gegenden, wo ein zusätzlicher Blühstreifen nichts bringt, weil der Zustand bereits gut ist.
Die Gesellschaft zahlt die Kosten für die ausgeräumten Landschaften ja doppelt, weil die Schäden, die entstehen, sich nicht in den Verbraucherpreisen widerspiegeln, ökologisch produzierte Lebensmittel, die weniger Schaden anrichten, aber teurer sind.
Das ist eine Frage der Internalisierung der externen Kosten. Da würde ich zustimmen – diese sind nicht ausreichend internalisiert.
Was sind externe Kosten, und was müsste sich politisch konkret ändern, um sie zu internalisieren?
Die Kosten der Umweltschäden werden ausgelagert, sie spiegeln sich nicht im Preis einer potentiell schädigenden Substanz. Es ist so, dass externe Kosten wie eine versteckte Subvention funktionieren. Eine Besteuerung ist das Mittel, um diese implizite Subvention abzuschöpfen und Kostenwahrheit herzustellen. Anders als ein Verbot hat eine Steuer nicht das Ziel, den Effekt völlig zu unterbinden. Beispiel Stickstoff: Stickstoffdünger etwa kann Schaden anrichten, wenn er nicht sorgfältig ausgebracht wird. Wenn er teurer ist, geht man sorgfältiger damit um. In der EU ist die Steuerpolitik Sache der Mitgliedstaaten. Sie können die Reduktionsprogramme eigenständig umsetzen. In Österreich haben wir einen Stickstoffüberschuss von 35 Kilogramm je Hektar, in den Niederlanden sind es 115 Kilogramm je Hektar. Würde Stickstoff einheitlich besteuert, würde die Internalisierung über die Preissignale den Einsatz verringern. Der Widerstand gegen solche Instrumente kommt aus verschiedensten Bereichen. Sie haben betriebswirtschaftliche Nachteile, sie verändern die Wettbewerbsfähigkeit zwischen Ländern und schließlich werden diese Kosten dann auf die Preise von Lebensmitteln überwälzt. Meine Vermutung ist, die Gesellschaft schreckt genau davor zurück. Daher nimmt sie es in Kauf, dass externe Kosten einfach ausgelagert werden. Und zwar in dem Fall an die nachfolgenden Generationen und an Menschen in Afrika, die stärker von den Emissionen betroffen sind. Das scheint politisch akzeptabler zu sein, als bei uns Lebensmittel teurer zu machen.
Könnte es Landwirtschaft ohne Agrarförderung geben?
Sicher. Aber sie sähe anders aus.
Wie?
Wir machen dazu gerade eine Analyse. Meine Vermutung ist, dass wir dann keine Berglandwirtschaft mehr hätten und eine noch intensivere Landwirtschaft dort, wo die Landwirtschaft jetzt schon intensiv ist.
Über Franz Sinabell
Franz Sinabell ist Ökonom und seit 2002 als Senior Economist Teil der der Forschungsgruppe „Klima-, Umwelt- und Ressourcenökonomie“ des Wirtschaftsforschungsinstituts in Wien, WIFO. Seine Schwerpunkte sind Agrar- und Ernährungspolitik, Umwelt- und Ressourcenökonomie sowie Risikomanagement. Er ist wissenschaftlicher Koordinator zahlreicher Studien über die Auswirkungen der Klimapolitik und der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) in Österreich.
Mehr über Landwirtschaft
Die dunkle Seite des Düngers
Der Denkfehler der Gentechnik
Die Agrarpolitik und die Landwirtschaft
Mehr vom Pragmaticus
Fakten gibt’s jetzt im Abo.
10 Mal im Jahr unabhängige Expertise, bequem in Ihrem Briefkasten. Die großen Fragen unserer Zeit, beantwortet von führenden Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Jetzt abonnieren