
Unsere Alpen in Not
Auf den Punkt gebracht
- Natur. Die Alpen zeigen sich als ein Hotspot der Reaktion von Pflanzen, Tieren und Ökosystemen auf ein neues Klima.
- Kultur. Die Kulturlandschaft ist der Ursprung der Resilienz der Alpen. Was muss getan werden, um diese Vielfalt zu stärken?
- Wirtschaft. Zwei Kräfte werden die Alpenökonomie prägen: Ausbau und Erweiterung der Nutzungen und die Grenzen der Natur.
- Zukunft. Die traditionellen Stärken der Alpen – Kleinräumigkeit, Vielfalt, Dynamik – können ein Modell auch für andere Regionen sein.
Betrachtet man das Video des gewaltigen Murgangs, der sich im August 2017 durch die Ortschaft Bondo in Graubünden schob, kommt einem unwillkürlich das Wort beiläufig in den Sinn. Man sieht eine Masse aus Schlamm und Geröll gemächlich vorbeiziehen, ein Wohnhaus unter sich begraben, später einen Baum. Man hört Männerstimmen, die das Geschehen gelassen zu kommentieren scheinen, einmal sogar lachen.
Der Murgang war eine unmittelbare Folge eines Bergsturzes vom Piz Gengalo, bei dem sich drei Millionen Kubikmeter Gestein lösten – auftauender Permafrost gilt heute als Hauptursache. Acht Menschen kamen ums Leben, ein erst kurz zuvor um 5,5 Millionen Euro errichtetes Auffangbecken war schon nach seinem ersten Einsatz obsolet, der Murgang war zu mächtig.
Die Alpen, das Gebirge und der Fels, sind in Bewegung geraten. Der offensichtliche Auslöser ist der Klimawandel. Doch die alpine Transformation, die derzeit stattfindet, geschieht nicht mehr beiläufig, sondern schnell. Die Bilder aus Zermatt und Noasca zeigen das.
Können wir Schritt halten?
In diesem Dossier gehen wir den fundamentalen Veränderungen der Natur, der Wirtschaft und der Kultur der Alpen nach und zeigen auf, welche Wege in eine positive Zukunft für diesen Lebensraum von 14 Millionen Menschen führen.
Die Zukunft der Alpen
- Gletscher (Glaziologin Andrea Fischer)
- Alpine Vegetation (Ökologe Harald Pauli)
- Steinböcke, Murmeltiere, Gämsen (Wildtier-Biologe Walter Arnold)
- Transit und Verkehr (Verkehrsplaner Stephan Tischler)
- Wasserkraft (Wasserbau-Experte Robert Boes)
- Wandern, Skifahren, Mountainbiken (Tourismusforscher Mike Peters)
- Skipisten auf Gletschern (Benjamin Stern, Alpenverein)
- Berglandwirtschaft (Soziologin Rike Stotten)
- Alpenbevölkerung (Demographie-Experte Rainer Münz)
- Die Hirten (Hirtin Sara Wintereder)
- Die Bergwiesen (Landwirt Florian Kogseder)
- Die Dörfer (Wissenschaftsjournalist Rolf Schlenker)
- Essay (Bergführerin Ana Zirner)
- Podcast: Kultur der Alpen (Geograph Werner Bätzing)
- Podcast: Wege und Hütten (Wolfgang Schnabl, Alpenverein)
- Podcast: Klimawandel (Meteorologe Andreas Jäger)
- Podcast: Wandern (Bergführerin Ana Zirner)
- Umfrage: Was bringt die Alpen in Gefahr?
- Diskussion: Die Zukunft der Alpen
Der demographische Wandel
Denn es wird nicht bei diesen 14 Millionen bleiben. Anders als man vielleicht geneigt ist zu glauben, sind die Alpen alles andere als ländlich-beschaulich: Sie sind ebenso Natur-Idyll wie Katastrophengebiet, romantischer Rückzugsort wie Industrie- und Kultur-Metropole.
Der Demograph Rainer Münz ist bei der Suche nach den Ursachen für das Wachstum der Alpenbevölkerung auf einen Alpentypischen Doublebind gestoßen: Der Transit und die Verkehrsrouten sind einerseits die Treiber der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Alpen. Und andererseits auch der Treiber ihrer ökonomischen Spaltung.
Die einen Regionen werden groß und reich; andere zunehmend verlassen und randständig.
Es wird eng, und auch wieder nicht
Rainer Münz hält es für wahrscheinlich, dass der Klimawandel dazu zwingen wird, Siedlungsraum aufzugeben. „Höhere Temperaturen bedeuten weniger Permafrost und damit eine wachsende Gefahr von Bergstürzen. Dadurch werden manche Alpentäler einen Teil ihres Siedlungsraums verlieren.“, schreibt er.
Die Luft ist übrigens nicht gut in den Alpen.
Zahlen & Fakten
Von Wind, Inversion und Abgasen
- Das Berg-Talwind-System ist der Normalfall für die Alpen: Der Talwind beginnt morgens vom Tal nach Oben zu strömen, weil die Sonne die Berghänge zuerst erwärmt und diese Warmluft weiter aufsteigt. Die Talluft zieht nach. Lässt die Sonneneinstrahlung ab dem Nachmittag nach, kühlt die Luft weiter oben zuerst ab, sinkt, weil sie schwerer ist, und lässt somit Bergwind durch die Täler strömen.
- Das Berg-Talwind-System transportiert auch Abgase in die Höhen der Alpen. Und diese Abgase wiegen schwer, wie der Meteorologe Sven Plöger in seinem gemeinsam mit Rolf Schlenker geschriebenem Alpenbuch erklärt: „Bei der Verbrennung von einem Liter Benzin, der – da leichter als Wasser – 0,75 Kilogramm wiegt, entstehen 2,38 Kilogramm CO2. Die Rückstände werden deshalb schwerer, weil beim Verbrennungsvorgang aus der Außenluft der deutlich schwerere Sauerstoff dazukommt und angelagert wird.“ Plöger errechnet, dass ein einwöchiger Alpenurlaub mit Auto 167 Kilogramm allein an CO2 in den Alpen hinterlässt. Der Talwind trägt diesen Sack nach Oben.
- Eine Inversionswetterlage dreht die Verhältnisse um: Ist es zum Beispiel windstill, bleibt schwere kalte Luft am Boden und wird durch einen Deckel aus warmer Luft unten gehalten. Bei Inversion bleiben auch alle schädlichen Emissionen im Tal, wo sie entstehen.
- Luftströmungen und damit Wolken können sich auch überlagern. So entstehen zum Beispiel so schöne Phänomene wie die Maloja-Schlange, berühmt geworden durch den Film Die Wolken von Sils Maria von Olivier Assayas.
Dass das so ist, hat damit zu tun, dass die Alpen ihr Verkehrsproblem nicht in den Griff bekommen. Warum nicht, hat der Verkehrsforscher Stephan Tischler von der Universität Innsbruck für uns versucht zu verstehen.
Hochdosiert: Verkehr in den Alpen
Der Wandel der Land(wirt)schaft
Diese Landschaft, die nicht nur Touristen so sehr mögen, auf die der Tourismus aber angewiesen ist, sie hängt am seidenen Faden der Widerstandsfähigkeit der Berglandwirtschaft und an der Identifikation der Bergbauern mit ihrem Tun.
Soweit sind sich die Soziologin Rike Stotten und der Kulturgeograf Werner Bätzing einig.
Kulturraum am Kipp-Punkt
Sie können den Podcast mit Werner Bätzing auch direkt hier anhören:
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Seit den 1960er Jahren hat sich die landwirtschaftliche Nutzfläche in den Alpen um 40 bis 60 Prozent reduziert. Die Berglandwirtschaft scheint auf dem Rückzug: „Diese ehemaligen Qualitätsprodukte, die man auf der Alm produziert hat, sind in den 1960er und 1970er Jahren überhaupt nicht wertgeschätzt worden. Das setzt erst wesentlich später ein. Das heißt, diese wirtschaftliche und kulturelle Entwertung hat die Menschen dann im Prinzip aus der Landwirtschaft rausgetrieben.“
Wer heute durch die Täler der Alpen fährt, wandert oder geht, wird sehr viel Grünland sehen. Um „Natur“ handelt es sich dabei nicht, auch wenn es Touristen so scheinen mag, als sei das was sie sehen, eine Landidylle.
In den 1960er Jahren gingen die ökologischen und kulturellen Nischen, die die kleinräumige Selbstversorgerlandwirtschaft weitgehend bis zur Mitte des 19. Jahrhundert gekennzeichnet hatten, endgültig verloren. Das satte, aber stille Grün der Talflächen ist Ausdruck davon: Diese Wiesen liefern meist Heu für Silage für die Milch- und Fleischwirtschaft.
Zahlen & Fakten
Bergwiesen: Etwas mit Gras
- Magerrasen: Die Nährstoffarmut des Bodens ist ausschlaggebend, meist sind die Böden auch flachgründig mit feiner Erde. Magerrasen wurden für die extensive Weidewirtschaft mit Schafen oder Ziegen genutzt. Man findet sie in der alpinen Höhenstufe bis zur subnivalen Zone.
- Trockenrasen: Ein Typus des Magerrasens und charakterisiert durch Trockenheit zum Beispiel in der pannonischen Steppe oder in den Alpen als Felsrasen.
- Der Halbtrockenrasen ist eine Variante des Magerrasens nur etwas feuchter als der Trockenrasen.
- Wird ein Magerrasen gedüngt, entsteht eine magere Fettwiese. Je mehr gedüngt wird, desto artenärmer werden die Wiesen.
- Fettwiesen findet man im Tal, oft auf planierten ehemaligen Ackerflächen (Terrassen), die von frühen Bauerngesellschaften noch im Rahmen der Selbstversorgerlandwirtschaft angelegt worden waren. Die Fettwiesen wurden im 19. Jahrhundert mit der Trennung von Ackerbau und Viehwirtschaft und der Umstellung auf Rinder notwendig, weil die kalorische Ausbeute höher ist.
- Dauergrünland. In Österreich sind 54,2 Prozent der Wiesen und Weiden intensiv genutztes Grünland. Für den Artenverlust durch die Umstellung auf Dauergrünland in den 1950er und 1960er Jahren ist neben Monokultur, Düngung und Pestiziden auch die Art und Weise der Bewirtschaftung verantwortlich: Nicht nur wird fünf bis sechs Mal im Jahr gemäht; die schweren Maschinen verdichten den Boden und zerstören das Bodenleben während die gleichzeitige und vollständige Mahd vom Rand zur Feldmitte Vögeln und anderen Tieren keine Ausweichmöglichkeiten lässt. Der Wachtelkönig etwa, ein Bodenbrüter, ist vom Aussterben bedroht.
Florian Kogseder ist Landwirt in Oberösterreich. Gemeinsam mit anderen will er die Bergwiesen retten. Es ist eine ökologische Maßnahme, die auch vielen Wildtieren zu Gute kommen wird. Aber es ist auch eine Art Reißleine, die Kogseder versucht zu ziehen:
„Wir dürfen die Bestäuberinsekten nicht verlieren, sonst ist jede Form der Landwirtschaft, auch die industrielle, unmöglich. Wir brauchen eine vielfältige Landwirtschaft, die qualitätsvolle Lebensmittel hervorbringt und wirtschaftlich lohnend ist. Und schließlich sind intakte Ökosysteme unsere einzige Lebensversicherung – nicht nur im Klimawandel.“
Wo die Alpen wurzeln
Sicher ist es kein ökologisches Problem, sollten Bergwiesen oder auch Almen verschwinden. Die „Natur“ selbst legt keinen Wert auf eine bestimmte Tier- oder Pflanzenart. Ob Almen verbuschen oder nicht, ficht sie nicht an. Ob der Bergwald noch ein Schutzwald ist, ist ihr gleichgültig. Wie Werner Bätzing sagt, sind die Alpen aber Kulturraum.
„Der Mensch hat ein Mosaik geschaffen, ein Mosaik von Wiesen, Weiden, Äckern, Wäldern und so weiter, eine sehr kleinräumige Landschaft, weil er nur in dieser Kulturlandschaft überhaupt Lebensmittel produzieren konnte, weil er nur in der Kulturlandschaft leben konnte. In den Waldgesellschaften wäre ihm das nicht möglich gewesen.“
Bergbauern geben nicht leicht auf, sagt Rike Stotten. Sie machten vielmehr vor, wie Resilienz geht. Das Mittel: regionale Wertschöpfungsketten. „Bislang sehen wir diese 'Wirtschaft der kurzen Wege' vor allem in familieninternen Kreisläufen, wenn beispielsweise ein Hof das Hotel des Cousins beliefert.“
Die Widerständigen
20 Milliarden Euro Gewinn wirft der Tourismus jedes Jahr ab, aber kleinere Familienbetriebe profitieren am wenigsten, wie Tourismusforscher Mike Peters schreibt.
Wen der Berg ruft
„Familienunternehmen stehen unter hohem Druck, ihr Unternehmen in die nächste Generation zu führen. Diese Nachfolger sind oftmals nicht in Sicht. Das führt in vielen ländlichen Gebieten zur Schließung von Gasthöfen – mit allen sozialen und kulturellen Folgen für die Region.“
In den nächsten sechs Jahren müssen 8.000 Nachfolger gefunden werden.
Und wenn das nicht gelingt? Regionale Wertschöpfung braucht alle Spieler auf dem Feld: Produzenten, Händler, Konsumenten, Verarbeiter.
Apropos.
„Anders als Milch oder Käse wirft Schafswolle sehr wenig Gewinn ab, derzeit bekommt man für ein Kilo 50 Cent. Für mich ist das Ausdruck eines generellen Problems: Es gibt relativ wenig (materielle) Wertschätzung, dafür aber sehr viel Verklärung, was die Berglandwirtschaft und speziell die Almen betrifft. Vielleicht ist diese Wahrnehmung sogar das größte Problem.“
Die Renaissance des Hütens
Diese Worte spricht Sara Wintereder. Sie ist derzeit Hirtin auf einer Alm mit 200 Schafen in Graubünden und hat ein Netzwerk für Hirten und Senner mitbegründet. Es geht dort um mehr Sichtbarkeit für den Beruf in der Öffentlichkeit – und ein realistisches Bild vom Leben auf der Alm.
Der Wandel der Berge
Die Gletscher werden als Wasserspeicher über kurz oder lang ausfallen. Und im Gefolge ihres Verschwindens wird der Rhythmus der Alpen ein anderer. Ohne frühsommerliche Gletscherschmelze, aber im Takt der Wasserkraft?
Batterien aus Wasser
„Der Klimawandel, die steigende Stromnachfrage und der Schutz der Gewässerökosysteme werden allerdings Investitionen in die Infrastruktur notwendig machen.“ Robert Boes, Professor für Wasserbau an der ETH Zürich, sieht in der Wasserkraft ein Regulativ – bei Trockenheit im Sommer, als Schutz vor Sturzfluten.
Zahlen & Fakten
Gemischtes Erbe: Was vom ewigen Eis bleibt
- Der Rückzug der Gletscher geschieht nicht leise: Durch das Abschmelzen der Eismassen verlieren die Bergflanken an Stabilität. Die Gletscherschmelze erhöht die Gefahr von Berg- und Felsstürzen.
- Das lockere Material von Ufer- und Endmoränen ist besonders anfällig für Murgänge, weil es sich bei Starkregen und stärkeren Abflüssen vom Gletscher leicht löst.
- Schmelzende Gletscher schleppen mitunter in ihrem Inneren Wassertaschen mit, die plötzlich aufbrechen können, wenn sie stark gefüllt sind.
- Die neuen Seen, in der Schweiz sind es derzeit etwa 18 im Jahr, sind ebenfalls eine potenzielle Quelle alpiner Gefahren: Durch Starkregen-Ereignisse oder Felsstürze in den See können Seeausbrüche und Flutwellen ausgelöst werden, die in dem dicht besiedelten Gebiet der Alpen viele Orte gefährden.
- Die Seen sind aber zugleich potenziell energetisch nutzbar oder können eine wichtige Rolle für Bewässerung und Trinkwasserversorgung spielen, wenn die Gletscher als Wasserspeicher wegfallen.
- Auf den zunächst vegetationslosen Gletschervorfeldern siedeln sich im Verlauf der Jahre verschiedene Pflanzen an, zunächst Pioniere mit geringen Ansprüchen, die auch als Bodenbildner wirken. Dieser Prozess der Sukzession braucht sehr viel Zeit.
Die Gletscherforscherin Andrea Fischer, die heuer als Wissenschaftlerin des Jahres ausgezeichnet wurde, hat sich fast damit abgefunden, dass sich ihr Forschungsgegenstand quasi vor ihren Augen auflöst. Die letzten Jahre waren Jahre der beschleunigten Schmelze, mit einer Null-Grad-Grenze, die im Sommer über 5.000 Metern lag.
Zahlen & Fakten
Was ihr Sorgen macht: „Damit bewegen wir uns auch aus dem Bereich gesicherten Wissens hinaus, das uns helfen könnte, uns anzupassen. Unser Umgang mit der Natur, Forst- und Landwirtschaft, Schutzmaßnahmen vor Naturgefahren und Raumordnungspläne basieren auf Erfahrungswissen. Überschreiten wir eine globale Erwärmung von zwei Grad Celsius im globalen Mittel, kann Anpassung sehr teuer oder unmöglich werden.“
Alpen ohne Eis
Teuer ja. Snowfarming, künstliche Beschneiuung, die Energie. Winter- und Sommertourismus werden von der alpinen Transformation unterschiedlich erfasst. Noch können Tourismusbetriebe dem Winter in den Sommer ausweichen.
Flucht nach oben
Perspektivisch betrachtet wollen alle nach Oben: die Skigebiete, die Touristen, die Tiere, die Pflanzen. Es bewahrheitet sich, was der Ökologe und Botaniker Harald Pauli von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften befürchtet. Der Druck auf die Alpen als Lebensraum einer einmaligen Artenvielfalt wird stetig größer – und die Chancen, sich an das neue Klima anzupassen, kleiner.
„Eine intakte und artenreiche Biosphäre, auch ‚Natur‘ genannt, ist aber unsere wichtigste Verbündete gegen den weiteren Anstieg der Treibhausgase – Klima- und Biodiversitätskrise sind miteinander verbunden. Durch artenreiche Ökosysteme – seien es Wälder, Wiesen, Moore oder Feuchtgebiete – könnten wir auf relativ einfache Weise atmosphärisches CO2 entziehen.“
Refugium und Artenfalle
„Oben ist der Berg zu Ende“, schreibt Walter Arnold. Der Wildtierbiologe hat das Ausweichen in höhere Höhen für die Kältespezialisten wie das Murmeltier analysiert.
Ihre letzten Sommer
Murmeltiere sind zwar nicht so weit nach oben ausgewichen wie Gams und Steinbock. Aber dennoch scheint der Berg auch für sie bereits zu Ende zu sein. „Das traurige Fazit ist, dass wir das Verschwinden der Kältespezialisten wohl nicht mehr aufhalten können“, so Arnold.
Zahlen & Fakten
Der Lebensraum für Wildtiere in den Alpen wird immer kleiner. Es gibt nur noch einige wenige alpine Freiflächen, noch seltener sind alpine Moore, wie etwa das Platzertal in Oberösterreich. Ökologische Nischen und Refugien, die unersetzlich sind, denn, wie Arnold sagt, oben sind die Berge zu Ende.
Dass die Berge endlich sind, erlebt auch der Skitourismus. Viele Gletscherskigebiete wurden erschlossen, als das Eis noch ewig zu sein schien.
Zahlen & Fakten
Inzwischen mussten die ersten Gletscherskigebiete schließen. Können neue Erschließungen in noch höheren Lagen die Antwort sein? Ein Blick auf die Temperaturentwicklung zeigt, dass eher früher als später auch diese Skigebiete werden schließen müssen. Was an Natur im Zuge ihres Ausbaus verloren ging, bleibt allerdings verloren. Ökosysteme regenerieren sich nicht so schnell.
Benjamin Stern, beim Österreichischen Alpenverein in der Abteilung für Raumplanung und Naturschutz tätig, plädiert daher dafür, klare Grenzen zu setzen, was den Ausbau von Skigebieten betrifft. Er will dies nicht als Absage an das Skifahren verstanden wissen, sondern als ein Element eines Tourismus, der sich an die Entwicklungen anpassen kann und daher nachhaltiger ist – im Sinne der Zukunft der Tourismusbetriebe.
Skigebiete: Gründe für den Ausbau-Stopp
„Es geht nicht darum, diesen Skitourismus abzuschaffen, sondern darum, ein diversifiziertes Angebot zu schaffen, um nicht in der Abhängigkeit vom anlagenbezogenen Skitourismus zu verharren, denn diese Art des Skitourismus wird mit fortschreitender Erwärmung immer prekärer und teurer.“
Zahlen & Fakten
Gletscherskigebiete in Österreich
- Dachsteingletscher: Das Skigebiet in Oberösterreich und der Steiermark wurde 1969 eröffnet und musste im Winter 2022/23 den Betrieb einstellen, weil die Gletscherschmelze zu stark war.
- Stubaier Gletscher: Eröffnet 1973, umfasst das Skigebiet gleich fünf Gletscher; den Daunferner, den Eisjochferner, den Gaißkarferner, den Fernauferner und den Windachferner,
- Kaunertaler Gletscher: Nicht, dass das Kaunertal unberührt wäre. Das Skigebiet wurde 1980 erschlossen.
- Pitztaler Gletscher: Das Skigebiet wurde 1983 eröffnet und umfasst den Mittelbergferner sowie das Skigebiet Rifflsee. Erweiterungen sind geplant. In der Vergangenheit wurden Erweiterungen auch gegen bestehende Gesetze umgesetzt.
- Mölltaler Gletscher: Eigentlich müsste das Skigebiet nach dem ehemaligen Gletscher Wurtenkees heißen. Das Skigebiet wurde dort 1983 eröffnet. Es wird unterirdisch mit der längsten unterirdischen Standseilbahn erreicht.
Stern ist damit ganz auf der Seite der 800 Österreicher und Österreicherinnen, die Unique Research in unserem Auftrag zur Zukunft der Alpen befragt hat. Skifahren wollen alle, nur fünf Prozent würden einen Ausbau von Skigebieten gutheißen. Ein Viertel der Befragten in unserer Umfrage möchte sogar einen Rückbau bestehender Pisten.
Die Ergebnisse der Umfrage sind interessant, denn die Einstellungen zu Reizthemen wie Skifahren, Wasserkraft oder Klima scheinen ganz unabhängig davon zu sein, ob jemand sich oft in den Alpen aufhält oder nicht. Wer in den Alpen lebt, weiß sie offenbar zu schätzen.
Umfrage: Was bringt die Alpen in Gefahr?
Der Klimwandel in den Alpen hat viele Gesichter, und er verändert die gesamte alpine Landschaft. Betroffen sind nicht nur Skigebiete, sondern auch Wanderwege. Das Ausweichen in den Sommer wird nicht so leicht, wie es scheint. In diesem Podcast berichtet der Präsident des Österreichischen Alpenvereins, Wolfgang Schnabl, davon wie dieser mehr als 700.000 Mitglieder zählende Verein mit den Herausforderungen umgeht: Ohne Investitionen droht der Verlust von Hütten und Wegen.
Der Alpenverein, die Hütten und das Klima
Welches Fazit können wir ziehen? Vielleicht das Eingeständnis, dass tatsächlich einschneidende Veränderungen bereits im Gange, wenn nicht vollzogen sind. Walter Arnold:
„Natürliche Gleichgewichte sind stets im Fluss. Von allen Tier- und Pflanzenarten, die jemals die Erde besiedelten, lebt heute nur noch ein Bruchteil. Dass Arten entstehen und wieder verschwinden, ist der Kern der nie innehaltenden Evolution. Aber erstmals in der Geschichte des Lebens auf der Erde ist eine Art, nämlich der Mensch, für ein Massensterben verantwortlich. Hoffentlich lehrt uns das, die richtigen Schlüsse zu ziehen, denn letztlich sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.“
Conclusio
Die derzeitige ist nicht die erste große Transformation, die die Alpen erlebt haben. Bereits ihre Entdeckung (oder Erfindung?) als Bergidyll und Gegenentwurf zu Moderne und Industrialisierung hat eine Kette an Umwälzungen in Gang gesetzt und darüber hinweggetäuscht, dass die Alpenregionen eigentlich oft Vorreiter waren: in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Tourismus. Jetzt geht die Transformation von der Natur aus und erzwingt ein Umdenken in allen Bereichen. Folgt man den Experten dieses Schwerpunkts, so scheint die adäquate Antwort auf die Herausforderungen die Regionalität zu sein: Der Umbruch ist die Chance für die lokale Wertschöpfung, die Energieversorgung, die Landwirtschaft und für einen sanften Tourismus mit Respekt für die Einzigartigkeit des Kultur- und Naturraums. Die Alpen haben noch viel Zukunft vor sich!