Die Widerständigen
Was die Alpen lebenswert und für Touristen so attraktiv macht, ruht auf einer wenig beachteten Grundlage: der Berglandwirtschaft. Was hält die Höfe am Leben?
Auf den Punkt gebracht
- Lebendig. Bergbauern gelang es, traditionelle Produktionsweisen zu bewahren, obwohl diese in der industrialisierten Landwirtschaft keinen Platz haben.
- Identitätsstiftend. Der eigene Hof ist die Quelle der Widerständigkeit und Resilienz der Berglandwirtschaft, die oft genug nur ein geringes Einkommen bringt.
- Gemeinschaftlich. Brauchtum und Traditionen der Berglandwirtschaft sind sowohl sozialer Kitt als auch Kulturgut für Dörfer und Gemeinden.
- Offen. Die Berglandwirtschaft erweist sich als Ursprung für nachhaltige Innovationen, die Zukunftsperspektiven für den gesamten Alpenraum bieten.
Mit der Landwirtschaft in den Bergen müsste es längst vorbei sein, wird ihr Niedergang doch seit Jahrzehnten vorhergesagt. Und dennoch gibt es sie noch, die Bergbauern und Bergbäuerinnen. In einer Welt der Massenproduktion von Lebensmitteln hält sich diese Lebens- und Wirtschaftsweise hartnäckig. Das ist gut so, aber die Frage ist: Warum eigentlich?
Die Zukunft der Alpen
- Gletscher (Glaziologin Andrea Fischer)
- Alpine Vegetation (Ökologe Harald Pauli)
- Steinböcke, Murmeltiere, Gämsen (Wildtier-Biologe Walter Arnold)
- Transit und Verkehr (Verkehrsplaner Stephan Tischler)
- Wasserkraft (Wasserbau-Experte Robert Boes)
- Wandern, Skifahren, Mountainbiken (Tourismusforscher Mike Peters)
- Skipisten auf Gletschern (Benjamin Stern, Alpenverein)
- Alpenbevölkerung (Demographie-Experte Rainer Münz)
- Die Hirten (Hirtin Sara Wintereder)
- Die Bergwiesen (Landwirt Florian Kogseder)
- Die Dörfer (Wissenschaftsjournalist Rolf Schlenker)
- Essay (Bergführerin Ana Zirner)
- Podcast: Kultur der Alpen (Geograph Werner Bätzing)
- Podcast: Wege und Hütten (Wolfgang Schnabl, Alpenverein)
- Podcast: Klimawandel (Meteorologe Andreas Jäger)
- Podcast: Wandern (Bergführerin Ana Zirner)
- Umfrage: Was bringt die Alpen in Gefahr?
- Diskussion: Die Zukunft der Alpen
- Zurück zur Übersicht: Unsere Alpen in Not
Landwirtschaftlich im aktuellen Ernährungssystem oft unrentabel, leisten Bergbauern einen unverzichtbaren Beitrag zum Erhalt der Alpen als Kulturlandschaft und sind ebenso unverzichtbar, wenn es um die Zukunft dieses Lebensraums geht. Aus soziologischer Sicht liegt der Schlüssel zu dieser Zukunft in der Identifikation mit dem Hof und mit dem Leben als Bergbauer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ursprünglich auf Subsistenz ausgerichtete Berglandwirtschaft schubweise in den Markt integriert. Kleinbäuerliche Betriebe wurden – betriebswirtschaftlich gesehen – effizienter organisiert, um mehr günstige Lebensmittel für eine wachsende Bevölkerung zu produzieren und um Arbeitskräfte für die aufstrebende Industrie freizusetzen. So wandelte sich die Landwirtschaft in den Alpen von einer Lebensform zu einer Wirtschaftsform. Allerdings nur vermeintlich.
Zahlen & Fakten
Die Verdrängung der Bergbauern
- Grenzertrag: Im Zuge der ersten Technisierung und der Erhöhung der Produktivität vor allem in den niedrigeren Lagen der Alpen wurden immer mehr landwirtschaftliche Flächen zu Grenzertragsböden, deren Bewirtschaftung sich ökonomisch nicht lohnt. Diese Böden werden ab 1900 alpenweit zum größten Teil aufgegeben.
- Spezialisierung: Traditionelle Höfe in den Alpen produzierten eine ganze Produktpalette von Kleidung über Holz bis zu Käse und Fleisch. Schon im Mittelalter wurde diese Bandbreite immer schmaler, bis sie sich schließlich ab etwa den 1940er-Jahren auf Ackerbau und Viehzucht reduzierte. Damit einher ging eine zunehmende Arbeitsteilung in der landwirtschaftlichen Produktion.
- Ackerbau: Ab den 1960er-Jahren wird in den Tief- und Mittellagen der Alpen der Ackerbau aufgegeben. Die Spezialisierung schreitet fort, hin zu Betrieben, die nur ein Segment der Viehwirtschaft bedienen, etwa Zucht oder Milchwirtschaft. Es ist der endgültige Bruch mit der Subsistenzwirtschaft.
- Gunstlagen: Während die Berglandwirtschaft zurückgedrängt wird, boomt die Landwirtschaft auf den Talböden – Obst-, Wein- und Gemüseanbau und, als Anhängsel der Viehwirtschaft, die Heuwiesen und Weiden. Insbesondere beim Grünland zeigt sich die Problematik von Monokulturen gegenwärtig besonders deutlich. Anders als traditionell bewirtschaftete Bergwiesen sind die intensiv bewirtschafteten Heuwiesen Monokulturen mit sehr wenigen Arten.
Anders als Höfe in den Gunstlagen der Ebenen konnten die Bergbauernhöfe nicht vollkommen von der Subsistenzwirtschaft in eine wettbewerbsorientierte Landwirtschaft umgeformt werden. Die Landwirtschaft sicherte zwar immer weniger das Überleben, aber das war für viele Bergbauern kein Grund, den Betrieb aufzugeben. Somit prägen Bergbauernhöfe nach wie vor sehr stark das Leben im Berggebiet.
Ein Lebensstil
Dies ist umso bemerkenswerter, als das Einkommen in Bergbetrieben heute oft im Tourismus oder durch andere berufliche Tätigkeiten erwirtschaftet wird. Die bäuerliche Identität, die sich in der tiefen Verbundenheit zu Traditionen, zum Brauchtum und zur Natur ausdrückt, ist hartnäckig geblieben.
Die Renaissance des Hütens
Erkennbar ist dies daran, dass die Einkünfte aus dem Tourismus nicht selten in den Hof investiert werden, zum Beispiel in einen neuen Stall. Diese Form der „Quersubventionierung“ betrifft nicht nur Betriebe, die „Urlaub am Bauernhof“ anbieten und damit ihre Landwirtschaft zusätzlich touristisch vermarkten, sondern auch andere Höfe.
So kommt es, dass ein Bergbauernhof auch ein Hotel sein kann, wie das Hotel Edelweiss & Gurgl in Obergurgl im Ötztal. Die Gäste können Milch, Wurst und Fleisch aus der hoteleigenen Landwirtschaft genießen. Auf diese Weise unterstreicht der Hoteleigentümer noch einmal seine Identifikation mit dem Leben als Bergbauer.
Die bäuerliche Identität lässt Bergbauern und -bäuerinnen also an der Berglandwirtschaft festhalten und macht diese zugleich robust gegenüber dem Strukturwandel: Neben Förderungen durch die öffentliche Hand sichert das Nebenerwerbseinkommen die Berglandwirtschaft ab und umgekehrt. Diese „Pluriaktivität“ der Bergbauern und -bäuerinnen hat sich bisher als widerstandsfähig erwiesen.
Sozialer Kitt statt Musealisierung
Die bergbäuerliche Widerstandsfähigkeit ist wesentlich für die kulturelle, wirtschaftliche und ökologische Anpassungsfähigkeit alpiner Lebens- und Kulturräume.
Zum Beispiel die Dörfer: Das Bergbauerntum ist der soziale Kitt, der bis heute viele Orte der Alpen zusammenhält. Nicht nur Bergdörfer, auch wachsende Gemeinden in der Nähe von urbanen Zentren berufen sich stark auf ihren bäuerlichen Ursprung.
Das soziale Miteinander ist von Vereinen und Dorffesten geprägt, die aus bäuerlichen Traditionen und Bräuchen stammen und die auch heute noch von der nicht (mehr) bäuerlichen Bevölkerung weitergetragen werden. Die aktiven Bergbauern und -bäuerinnen verhindern dabei eine Musealisierung dieser Traditionen und Bräuche wie zum Beispiel der Almabtriebe, Jungbauernbälle oder Jubiläumsausstellungen der Zuchtverbände. Ohne diesen sozialen Kitt wären viele Orte für den Tourismus weit weniger attraktiv, als sie es heute sind, und nicht wenige Orte wären sicherlich bereits ausgestorben.
Die Berglandwirtschaft erbringt dabei der Gesamtgesellschaft einen großen Nutzen: So erzeugen die Bergbauern nicht nur qualitativ hochwertige Lebensmittel, sie stellen auch öffentliche Güter bereit, für die es keinen Markt gibt und die daher von Bund und Ländern abgegolten werden müssen oder müssten. Das sind beispielsweise die (Agro-)Biodiversität, der Beitrag der Landwirtschaft zur Klimaregulation und die klein strukturierte Kulturlandschaft mit Almen, Wäldern und Wiesen.
Das Problem: In den kommenden Jahren wird sich die Generation der Babyboomer, die bisher am „Bergbauernleben“ festhielt, von den Höfen zurückziehen. Was überzeugt also zukünftige Bergbauern und -bäuerinnen weiterzumachen? Wohl kaum die Aussicht auf ein gutes Einkommen. Im Sinne der genannten Leistungen kann man nur hoffen, dass die Verbundenheit der Nachfolgegenerationen stark genug ist, um sie in der Berglandwirtschaft zu halten.
Quereinsteiger gesucht
Was können (oder müssen) Gesellschaft und Politik aber tun, um die Verbundenheit zu erhalten? Die außerbetriebliche Hofnachfolge im Berggebiet ist eine Rarität, jedoch sollten Möglichkeiten geschaffen werden, um Quereinsteiger für die Berglandwirtschaft zu gewinnen. Und hier wäre es auch an der bäuerlichen Gemeinschaft, diesen Neulingen mit Offenheit zu begegnen und sie in die Gemeinschaft zu integrieren.
Der Klimawandel wird Bergbauern vor neue Probleme stellen, unter anderem etwa die drohende Wasserknappheit. Almen und Magerwiesen sind Hotspots der Biodiversität und wichtige dämpfende Faktoren für die Folgen der Erwärmung – zum Beispiel Bergstürze, die auch ein Problem für den Tourismus sind.
Werden noch mehr Almen aufgelassen, müssen andere und womöglich kostspieligere Maßnahmen getroffen werden, um Verbuschung und Verwaldung zu verhindern. Dabei sollten auch Diskussionen über eine mögliche Entwicklung zurück zur Wildnis geführt werden. Ein Beispiel ist das norditalienische Val Grande, ein Nationalpark, der nach dem Rückzug der Almwirtschaft entstand. Ein weiterer Grund, dies zu diskutieren, ist auch die Rückkehr der Raubtiere Wolf und Bär. Bislang fehlen praxistaugliche Strategien für eine Koexistenz.
Aus kulinarischen wie wirtschaftlichen Gründen wäre dennoch zu wünschen, dass die letzten Melkalmen in Vorarlberg, Tirol und Salzburg erhalten bleiben, denn diese produzieren ein wertvolles Kulturgut: den Almkäse. Spezialitäten, die sich von der Massenware abheben, sind generell eine Marktnische. Allerdings haben sie ihren Preis – den die Gesellschaft zu zahlen bereit sein muss. Darüber hinaus sollte sie ihre Wertschätzung den Bergbauern gegenüber auch aktiv artikulieren.
Wo die Alpen wurzeln
Das Potenzial der Berglandwirtschaft ist nämlich groß: Schafhaltung zum Beispiel ist extensive Landschaftspflege, und die Produkte bedienen potenziell neue Märkte, etwa regionales Lammfleisch für die wachsende muslimische Gemeinschaft in Österreich oder Schafkäsespezialitäten für heimische Grillmeister. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft sollte auch die Verwertung von Wolle stärker mitgedacht werden. Einzelne Beispiele dafür gibt es bereits: Ein Südtiroler Hersteller von Outdoorbekleidung nutzt die Wolle von Tiroler Bergschafen für thermoisolierende Kleidung.
Auch in Bezug auf den Tourismus schlummern noch Möglichkeiten für kurze Wertschöpfungsketten, die die Wertschöpfung in der Region halten. Bislang sehen wir diese „Wirtschaft der kurzen Wege“ vor allem in familieninternen Kreisläufen, wenn beispielsweise ein Hof das Hotel des Cousins beliefert. Eine Lebensmittelbestellung im Großhandel lässt sich zwar schneller abwickeln, aber für die Zukunft wäre es wünschenswert, wenn Küchenchefs und -chefinnen mehr Engagement für diese saisonal schwankende Kooperation zeigen würden.
Kurzum: Neben den zahlreichen nationalen und EU-weiten Konzepten (Gemeinsame Agrarpolitik, Green Deal etc.) wäre wohl auch eine Strategie vonnöten, um den zentralen Aspekt der Berglandwirtschaft zu schützen: die bäuerliche Identität. Sie ist schließlich die Basis, um die zahlreichen anderen Herausforderungen zu meistern.
Conclusio
Die traditionelle Berglandwirtschaft wäre längst verschwunden, würden nicht viele Bergbauern nachhaltig an dieser Produktionsweise und diesem Lebensstil festhalten. Auf diese Weise blieben ökonomische und ökologische Nischen erhalten, die keinen Platz in einer intensiven, stark industrialisierten Landwirtschaft hatten. Diese Nischen könnten nun wichtige Faktoren für Anpassungsstrategien an die veränderten Bedingungen sein. Damit dies gelingt, braucht die Berglandwirtschaft neben gezielten Förderungen auch immaterielle Anerkennung und Wertschätzung. Vor dem Hintergrund allerdings, dass laut Grünem Bericht Bergbauern ein um vierzig Prozent niedrigeres Einkommen haben, scheint die Absicherung dieser Landwirtschaft vordringlich.
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