Die Last der Freiheit

Die jungen Deutschen wählen die politischen Ränder. Dabei bräuchte Deutschlands zunehmend infantile Gesellschaft dringend mehr Liberalismus und weniger Ideologie.

Landesparteitag der AfD in Magdeburg am 2. März 2025. Immer mehr junge Menschen wählen politische Ränder wie AfD und Die Linke. Das Bild illustriert einen Kommentar über die Last der Freiheit.
Landesparteitag der AfD in Magdeburg am 2. März 2025. Immer mehr junge Menschen wählen politische Ränder wie AfD und Die Linke. © Getty Images

Die Deutschen sind nicht gerade bekannt für ihre Eigenverantwortung. Der Liberalismus und das damit zusammenhängende Wertesystem haben es im Land der Dichter und Denker schon immer schwer gehabt. Einige Historiker glauben, dass dies vor allem am genuin deutschen Verlauf der Aufklärung liegt.

Während sich in England und Frankreich das Volk selbst entdeckte und brutal die Köpfe der Herrscher rollen ließ, saßen die Deutschen in ihren Wohnzimmern auf dem Kanapee und schauten dabei zu, wie Friedrich II. die Erleuchtung über das Land brachte. Nickend bestätigten sie seine Entscheidungen und waren froh, sich die Hände nicht schmutzig gemacht zu haben. Aus dieser fehlgeschlagenen Aufklärung können etliche historische Ereignisse abgeleitet werden. Der Nationalsozialismus ist eines davon.

Erst ich, dann die anderen

Aber noch ist kein Ende in Sicht. Denn schaut man sich die Wahlergebnisse der Jungwähler bei der letzten Bundestagswahl an, muss man sich die Augen reiben. Die Sieger: AfD und Die Linke. Die radikalen politischen Ränder haben es den jungen Leuten offensichtlich angetan. Keine dieser Parteien kann als liberal bezeichnet werden. Beide verdanken ihren Erfolg der Strategie, sich als Partei der Rebellen zu inszenieren und auf die „da oben“ zu schimpfen. Was sie unterscheidet, ist der Feind. Was sie verbindet, ist, dass sie ihn im Außen ausmachen.

Genau diese Strategie verabscheuen die Liberalen. Ihnen ist die Freiheit und die daraus resultierende Selbstverantwortung viel zu wichtig. Wegen Letzterer wird ihnen gerne vorgeworfen, dass sie egoistische Idioten sind, die ihr Eigeninteresse immer an die erste Stelle setzen würden. Nach mir die Sintflut und so.

Dabei ist diese Perspektive, nämlich sich selbst als freiheitlich handelndes Individuum zu betrachten, sozialer als ihr Ruf. Im Judentum wird die höchste Stufe der Wohltätigkeit, genannt Zedaka, als Hilfe zur Selbsthilfe definiert. Schon vor Tausenden von Jahren verstand eine überschaubare Menschengruppe aus dem Nahen Osten, dass sich die Gesellschaft vom Individuum ausgehend entwickelt und nicht andersherum. Und dass vor allem der Gesellschaft nicht geholfen ist, wenn sich in ihr unselbständige Individuen befinden.

Nie ich, immer die anderen

Nun erleben wir tragischerweise eine Zeit, in der all diese Erkenntnisse nicht nur nicht mehr gelten, sondern sogar als feindlich betrachtet werden. Keiner hat Schuld an seiner eigenen Misere. Es sind immer die anderen. Die Eltern, der Arbeitgeber, das System, die Politik, die Regierung. Oder noch genialer: die Juden, die Flüchtlinge, die Kapitalisten, die Kommunisten.

Selbstverständlich gibt es Probleme, die außerhalb des eigenen Einflusses liegen. Dennoch ist eine Gesellschaft eben keine Entität, von der das Individuum getrennt ist, sondern eine Gruppe von Individuen kreiert die Gesellschaft. Es gibt kein System ohne mich und meine Unterstützung.

Keiner hat Schuld an der Misere. Es sind immer die anderen. Die Eltern, der Arbeitgeber, das System, die Regierung.

Deswegen sind der Liberalismus und die Individuen, die sich ihm verbunden fühlen, so notwendig für eine Gesellschaft. Deswegen ist diese politische Ausrichtung auch so viel sozialer. Denn ähnlich wie beim jüdischen Zedaka hat man verstanden, dass sich ohne Eigenverantwortung keine Gesellschaft verändern lässt. Und noch schlimmer, sie bräche unter der Last der Verweigerung der Einzelnen irgendwann zusammen.

Die unvollendete Aufklärung

Es gibt ein Meme, das schon seit geraumer Zeit auf Social Media kursiert. Auf dem Bild sieht man Spider-Man, aber eben nicht nur einen, sondern sechs. Alle sehen identisch aus. Jeder zeigt mit dem Finger auf eine andere Spider-Man-Version. Es steht sinnbildlich für eine infantile Gesellschaft, in der jedes Individuum einem anderen die Schuld gibt.

Kants erste Sätze aus seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? lauten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Die wichtigsten Sätze der Aufklärung sind bis heute in weiten Teilen nicht verinnerlicht worden. Auch, weil die Verinnerlichung das Dilemma zutage fördern würde: Die Last der Freiheit, die uns geschenkt wurde, ist schwer. Denn sie beinhaltet, Schuld in Verantwortung und Probleme in Lösungen zu verwandeln. Die Jungen und ihre Wahlentscheidungen zeigen allerdings, dass diese Last nicht getragen werden will. Ständig behaupten sie, einer Generation anzugehören, die das schwerste Los aller Generationen gezogen hat: Wirtschaftskrise, Pandemie, Klimakrise, Populismus. Dies sei der Grund für ihre Lethargie.

Was die Gesellschaft braucht

Doch diese Perspektive ist nicht nur einem fehlenden Geschichtsverständnis geschuldet, sondern vor allem der Arroganz. Nämlich zu glauben, da wäre nichts vor ihnen passiert und alle anderen hätten es leichter gehabt.

Nichts davon stimmt, aber spricht man junge Leute darauf an, schließen sie die Augen, stecken ihre Finger in die Ohren und wählen populistische Parteien. Parteien, die ihnen die Last abnehmen. Gleichzeitig hat die FDP, die Partei, die für liberale Werte steht, eines der schlechtesten Ergebnisse eingefahren. Was unterschiedliche Gründe hat.

Dabei braucht die Gesellschaft nichts so sehr wie einen freiheitlichen Ansatz, um die Zukunft zu formen und die aktuellen Probleme schlau anzugehen. Einen Ansatz, der im Gegensatz zur AfD und der Linken antiautoritär und antiideologisch ist.

Ja, die Jungwähler wechseln oft ihre Meinung. Und vielleicht sieht es in vier Jahren (wenn die Koalition nicht zerbricht) schon ganz anders aus. Aber das Ergebnis steht repräsentativ für einen Blick auf sich selbst und die Welt, der schon viel zu lange die deutsche Gesellschaft negativ beeinflusst. Dass jetzt auch die nächste Generation davon erfasst wurde, ist mehr als tragisch.

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