Das Goa-Syndrom
Warum es uns allen ganz guttäte, uns mehr mit der aufregenden Welt und etwas weniger mit uns selbst und unseren Befindlichkeiten zu beschäftigen. Zeit für die gesellschaftliche Konterrevolution.

Der amerikanische Unternehmer Peter Thiel, einer der einflussreicheren libertären Denker unserer Zeit, hat jüngst eine eher steile Theorie formuliert: Der Menschheit, so behauptet er in einem öffentlichen Gespräch mit dem kanadischen Psychologen Jordan Peterson, gelinge seit einigen Jahrzehnten trotz einzelner Innovationen kein echter Fortschritt mehr, stattdessen sei auf breiter Front Stagnation zu beobachten.
Mehr von Christian Ortner
Als Beispiel nennt Thiel die Art, wie wir uns von Punkt A nach Punkt B bewegen: „Seit dem Jahr 1500 sind wir in jedem Jahrzehnt schneller geworden, mit schnelleren Segelschiffen, schnelleren Eisenbahnen, schnelleren Autos und schnelleren Flugzeugen. In den letzten fünfzig Jahren haben wir aufgehört, uns physisch schneller zu bewegen.“
Das Gleiche gelte, so Thiel, mehr oder weniger ausgeprägt für viele andere Bereiche des Lebens, vom noch lange nicht gewonnenen Kampf gegen den Krebs über den mehr oder weniger stagnierenden Wohlstand der meisten Menschen in der westlichen Welt bis hin zur Abwesenheit technologischer Großprojekte wie etwa der Mondlandung vor mehr als einem halben Jahrhundert. Dass es in einzelnen Bereichen, etwa derzeit der KI und der Robotik, enorme Fortschritte gebe, ändere wenig am grundsätzlichen Befund.
Angst und Folgen der Innovation ...
Es gibt vermutlich eine Reihe von Ursachen, die zu dieser relativen Stagnation geführt haben und führen. Da ist etwa die zunehmende Angst immer größerer Teile der Bevölkerung vor den möglichen negativen Auswirkungen von Innovationen – Stichwort Kernkraft, Stichwort Gentechnik, Stichwort Impfungen –, die angesichts der Überalterung der Gesellschaft nicht gerade kleiner wird.
Eine Rolle spielt sicher auch, dass seit der 1968er-Revolution im Westen gerade unter den akademischen Eliten eine gewisse Abwendung von der kalten Außenwelt, verbunden mit einer eskapistischen Hinwendung zur Innenwelt, zu beobachten ist. Dass Yoga heute in diesem Milieu zum Alltag gehört wie früher am Land der sonntägliche Kirchgang, kann man getrost als Indiz dafür nehmen. „Im Grunde fand eine Verlagerung vom äußeren Raum, von der Erforschung der Welt außerhalb von uns, zum inneren Raum hin statt … Die Hippies haben die Macht übernommen“, meint Thiel.
… und Freude am Flug zum Yoga-Retreat
Parallel dazu kann man auch eine gewisse Feminisierung der männlichen Hälfte der Menschheit konstatieren, was sich ebenfalls negativ auf die Risikobereitschaft auswirkt. Natürlich kann man sich damit zufriedengeben, dass wir in vielerlei Hinsicht auf hohem Niveau stagnieren und es uns trotzdem leisten können, regelmäßig zum Yoga-Retreat an die Mittelmeerküste zu fliegen.
Man kann eine gewisse Feminisierung der männlichen Hälfte der Menschheit konstatieren.
Man kann, aber man muss nicht. Ich halte dergleichen im Grunde für eine Art von Kapitulationserklärung vor jenen Mühen und Anstrengungen, ohne die das Erringen von Fortschritt nun einmal nicht möglich ist. Dem inneren Hippie in uns mag das frommen, sehr erwachsen ist eine derartige Anstrengungsverweigerung aber nicht gerade.
Es bedarf vermutlich einer Art gesellschaftlicher Konterrevolution und einer Veränderung des kollektiven Mindsets, um wieder Fortschritt zu ermöglichen. Das wird kein leichtes Unterfangen, aber es ist im Grunde alternativlos, wenn wir uns nicht alle in eine Art inneres Goa zurückziehen wollen.