Wie die Titelsucht uns ausbremst

Eine Lehre hat in Österreich wenig Prestige. Schuld ist unter anderem eine unbegründete Titelsucht. Wenn es aber zu wenige Handwerker und Fachkräfte gibt, gefährdet das unseren Wohlstand.

Studentin schlägt den Kopf auf den Tisch
Nicht für alle ist das Studium die beste Wahl. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Der Titel ist alles. In Österreich gilt der Universitätsabschluss mehr als ein Meistertitel in einem gefragten Handwerk.
  • Es werden weniger Lehrlinge. Der Anteil junger Menschen, die eine Lehre aufnehmen, sinkt überproportional.
  • Ost-West-Gefälle. In Westösterreich können zahlreiche Lehrstellen nicht besetzt werden, während im Osten tausende junge Menschen keine Stelle finden.
  • Lehrstellen verändern sich. Berufe wie Webdesigner funktionieren gut als Lehrberufe und könnten den Ruf der Lehre verbessern.

Wer Kinder hat, weiß, wie die Sache läuft. Alles beginnt mit dem unerschütterlichen Vorhaben, die eigenen Nachkommen niemals anzubrüllen, zu bestrafen oder gar unter dem Einsatz von Drohungen zu einem bestimmten Verhalten zu überreden. Niemand will die Fehler der eigenen Eltern wiederholen. Wer sich beispielsweise in der Schule schwergetan hat, bekam nicht selten zu hören, dass ein anhaltend schleppender Lernerfolg harte Konsequenzen nach sich zöge: „Dann musst Du eben eine Lehre machen!“

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Eine Lehre! Gott behüte, für viele Eltern die Höchststrafe, vor allem für jene aus dem Bildungsbürgertum. Karrieren wie die des großen Denkers Karl Popper waren ja auch die absolute Ausnahme. Der Sohn einer wohlhabenden Wiener Intellektuellenfamilie brach die Schule vorzeitig ab, weil er das Tischlerhandwerk erlernen wollte. Die Matura holte er später nach, um dann zu einem der weltweit bedeutendsten politischen Philosophen aufzusteigen. Philosophen, die sich selbst einen Tisch zimmern können, sind auch heute noch eine Seltenheit.

Dabei ist in Gesprächen unter Eltern immer öfter zu hören, dass es ihnen ja überhaupt nichts ausmachen würde, wenn eines ihrer Kinder ein Handwerk erlernte. Interessanterweise macht es dann aber keines der Kinder, schon gar nicht aus sogenannten bildungsnahen Familien. Und wenn, dann kommt diese leicht selbstgefällige Geste von Eltern, deren Kinder nicht zu den schulischen Überfliegern zählen. In einem Akademikerhaushalt käme keine Mutter und kein Vater auf die Idee, einen ihrer mit hervorragenden Noten gesegneten Sprösslinge jemals eine Tischlerlehre machen zu lassen. Im Innersten wünschen sich viele Eltern, dass ihre Kinder einmal einen Uniabschluss in der Tasche haben werden. Getragen von der Hoffnung, dass sie es einmal besser haben sollen als sie selbst.

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Zahlen & Fakten

Hauptsache Bachelor

Bildung ist schließlich alles. Das ist auch nicht ganz falsch, eine gute Ausbildung senkt das Risiko beträchtlich, aufgrund von Arbeitslosigkeit in die Armut abzurutschen. Seit den 1970er Jahren ist der Anteil jener Bürger, die höchstens einen Pflichtschulabschluss vorweisen können, auch von rund 60 auf unter 20 Prozent gefallen. Dieses Land scheint aber auch einem geradezu krankhaften Titel- und Akademikerwahn verfallen zu sein. Es geht eben nicht immer nur um das „richtige“ oder das „beste“ Studium. Ob der eigene Nachwuchs mit seinem akademischen Grad auch einen Job findet, von dem er selbstbestimmt leben kann, scheint zweitrangig. Hauptsache einen Bachelor oder Magister vor dem Namen.

In einer Tischlerstube zeigt eine Meisterin einem jungen Lehrling das Handwerk
Die Lehre ist die Grundlage für gutes Handwerk. © Getty Images

Für den Fall, dass es mit einer gut bezahlten Anstellung nach einem ausgiebigen Studium nicht klappt, sind nicht etwa Eltern und Kinder wegen der falschen Studienwahl schuld. Nein, es ist „das System“. Besonders der „böse Kapitalismus“, dessen Nachfrage nach Philologen, Anthroposophen, Historikern, Politologen, Publizisten und Absolventen der Gender Studies eben eine enden wollende ist. Wer hingegen erfolgreich eine Lehre zum Handwerker abschließt, sich möglicherweise auch noch selbständig macht und in Aufträgen untergeht, erntet zwar anerkennende Blicke, aber in erster Linie dafür, es als Ungebildeter so weit gebracht zu haben. Da staunt der studierte Anthroposoph, der trotz jahrelanger Ausbildung noch immer auf einen schlecht bezahlten Job wartet, wenn sich der handwerkende Klassenkollege dank guter Auftragslage und vieler Überstunden einen passablen Lebensstandard finanzieren kann.

Dabei ist die Lehre ausschlaggebend dafür, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Österreich zu den niedrigsten in Europa zählt. Auch wenn die Lehre in Österreich jungen Menschen immer noch einen guten Schutz vor Arbeitslosigkeit bietet, hat sich die Zahl der 15-jährigen Lehrlinge seit 1980 halbiert. Das auch deshalb, weil es heute um ein Drittel weniger 15-Jährige gibt als damals. Dass der Anteil der Lehrlinge an den jungen Menschen überproportional gesunken ist, liegt nicht zuletzt am niedrigen gesellschaftlichen Stellenwert der Lehre. Während sich in der Schweiz sechs von zehn Jugendlichen für eine Lehre entscheiden, sind es in Österreich vier von zehn. Wobei sich Fachkräfte mit einer abgeschlossenen Lehre die Jobs im ganzen Land aussuchen können. Nicht Lehrlinge suchen verzweifelt nach Ausbildungsplätzen, sondern Ausbildungsplätze nach Auszubildenden. In keiner Branche ist es so schwierig, gut ausgebildete Mitarbeiter zu finden wie im Handwerk.

Keine Anreize für eine Lehre

In Deutschland ist es nicht anders, dort versuchen die Handelskammern frustrierte Studenten für eine Lehre zu begeistern. Offensichtlich mit Erfolg. Bei unseren nördlichen Nachbarn treten deutlich mehr junge Menschen mit einer Studienberechtigung eine Lehre an als in Österreich. Hierzulande kommt das „Gratis-Studium“ erschwerend hinzu, ein Privileg gegenüber vielen anderen Ländern, in denen jungen Menschen zum Teil sehr hohe Studienbeiträge abverlangt werden. Die Sogwirkung an die Hochschulen ist groß, zudem wird hierzulande gerne ausgiebig studiert. Gerade sechs von 100 Studenten schließen ihr Studium am Ende der Regelzeit ab.

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Zahlen & Fakten

Bemerkenswert dabei ist, dass der Bedarf in jenen Teilen des Landes am höchsten ist, in denen ohnehin viele junge Menschen einen Lehrberuf erlernen. In Vorarlberg zum Beispiel, einem Land, in dem 44 Prozent der 15-Jährigen eine Lehre machen. Dort ist auch das Image ein deutlich höheres, schließlich ist es die Handwerkskunst, die im Bregenzer Wald die Architektur treibt. Je weiter man nach Osten geht, desto unpopulärer wird die Sache. Woraus wiederum auch gerne Rückschlüsse auf das Arbeitsethos gezogen werden, das ja im Westen des Landes ein deutlich höheres sein soll als im Osten. Dazu gibt es allerdings keine empirische Evidenz, bestenfalls anekdotische.

Die Schüler sind für eine qualifizierte Lehre oft zu schlecht ausgebildet.

Ein Faktum hingegen ist, dass im äußersten Westen des Landes viele Lehrstellen nicht mehr besetzt werden können, während in Wien über 3400 junge Menschen keine Ausbildungsstelle finden. Was auch mit den enormen Problemen an den heimischen Schulen zu tun hat. Junge Menschen, die mit schweren Defiziten in Lesen, Schreiben und Rechnen aus den Schulen kommen, haben naturgemäß keine allzu hohen Chancen am Lehrstellenmarkt. Ein Fünftel der 15-jährigen Pflichtschüler kann nicht sinnerfassend lesen, nahezu dieselbe Anzahl beherrscht die Grundrechenarten nicht. Mit anderen Worten: Die Schüler sind für eine qualifizierte Lehre oft zu schlecht ausgebildet.

Fehlende Grundkenntnisse betreffen nicht nur die Schüler der großen Städte, aber vor allem diese. In vielen Fällen fehlt es an den Sprachkenntnissen. 62 Prozent der Wiener Volksschüler haben eine andere Umgangssprache als Deutsch, in den Neue Mittelschule sind es über 76 Prozent. Das bedeutet nicht, dass diese Kinder niemals Deutsch lernen oder nicht schon ausreichend Deutsch sprechen (darüber gibt es aber leider keine Daten). Vielmehr gibt es einen klaren Hinweis darauf, dass es enormen Integrationsbedarf gibt. Aber dieses Thema auch nur anzusprechen, kommt mittlerweile einem politischen Selbstmord gleich. In den Social Media-Kanälen werden gute Deutschkenntnisse beinahe als eine Art sprachliche Verengung geächtet.

Lehre: Grundlage des Wohlstands

Die unerfreuliche Nachricht ist, dass Österreich eine Heerschar an exzellent ausgebildeten Menschen brauchen wird, um den alternden Wohlfahrtsstaat finanziell über die Runden zu bringen. Bis zum Jahr 2050 wird Österreich um 1,1 Millionen Pensionisten mehr haben als heute, während die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um knapp 200.000 sinken wird. Erwerbsfähig heißt noch nicht erwerbstätig. Heute kommen 3,3 Menschen im erwerbsfähigen Alter auf einen Pensionisten – aber nur 1,7 Erwerbstätige. In drei Jahrzehnten werden es 1,15 sein. Zu finanzieren ist das nur über eine Produktivitätsexplosion oder über die massenhafte Zuwanderung Hochqualifizierter. Derzeit geht die Sache allerdings eher in die andere Richtung. Aber auch darüber spricht man lieber nicht.

Die tobende Corona-Krise wird diesen Trend – wie so viele andere auch – verschärfen. Der Staat wird als sicherer Arbeitgeber weiter an Attraktivität gewinnen, wodurch sich die Produktivität der Bevölkerung weiter verschlechtern wird. Nicht um seinen Job fürchten zu müssen und pünktlich am ersten des Monats das Gehalt überwiesen zu bekommen und eine höhere Pension erwarten zu dürfen, ist eine feine Sache. Zumal diese Gesundheitskrise Einblicke in ein tief gespaltenes Land offenbart. Dabei geht es längst nicht mehr um reich oder arm, sondern um geschützt oder ungeschützt. In der Gastronomie hatten im vergangenen April laut Erhebungen der Agenda Austria gerade einmal 6,7 Prozent der Erwerbswilligen dieser Branche einen Job – der Rest war in Kurzarbeit, kurzfristig oder ohnehin schon länger arbeitslos. In der öffentlichen Verwaltung waren 98 Prozent der Erwerbswillligen beschäftigt.

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Zahlen & Fakten

  • 50 Prozent weniger 15-jährige Lehrlinge gibt es heute in Österreich im Vergleich zu 1980.
  • Sechs von zehn Jugendlichen entscheiden sich in der Schweiz für eine Lehre, in Österreich sind es vier von zehn.
  • 3400 junge Menschen finden in Wien keine Ausbildungsstelle. In Vorarlberg können hingegen 50 Prozent der Lehrstellen nicht besetzt werden.
  • Laut OECD werden 40 Prozent der Jobs, für die sich Schüler heute interessieren, in 15 Jahren nicht mehr existieren.

Während also im Lockdown bis zu 1,6 Millionen Menschen in Kurzarbeit oder arbeitslos waren und hunderttausende Unternehmer um ihre Existenz bangen mussten, herrschte im Staatsdienst Vollbeschäftigung. Wer also der Corona-Krise endlich wieder Zeit für sich hatte, ein gutes Buch zur Hand nehmen, gemeinsam mit der Familie kochen oder schlicht ein wenig „entschleunigen“ konnte, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim Staat beschäftigt. Dabei war und ist diese Krise für viele Menschen keine Entschlackungskur, sondern ein beinharter Überlebenskampf, der sich noch über die nächsten Jahre hinziehen wird.

Ein Blick in die Lohn- und Einkommensstatistik zeigt aber, warum so viele Menschen in den öffentlichen Dienst wollen. Der durchschnittliche Bruttolohn eines österreichischen Beamten liegt bei 66.300 Euro im Jahr, von der deutlich höheren Pension nicht zu reden. Erklärt werden die höheren Einkommen unkündbarer Staatsdiener von der Beamtengewerkschaft mit dem hohen Akademikeranteil. Warum es für die meisten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst ein abgeschlossenes Hochschulstudium braucht, scheint niemanden wirklich zu interessieren. Auch nicht, warum das in vergleichbaren Ländern Europas nicht der Fall ist.

Renaissance des Handwerks

Die Politik hat mittlerweile auf die Titelsucht der Österreicher reagiert. Einerseits wurde überlegt, den Handwerksmeistern einen „Mst.“ zu verleihen. Dafür gibt es seit mehr als zehn Jahren die Lehre mit Matura. Eine hervorragende Idee, schließlich leidet das Land unter zu vielen Akademikern, die sich ihr Geld nach abgeschlossener Ausbildung im Staatsdienst verdienen, ohne jemals mit einem Unternehmen in Berührung gekommen zu sein. Wenn nun ausgebildete Lehrlinge ihre Matura machen und anschließend studieren, ist das in jedem Fall ein zivilisatorischer Fortschritt.

Österreich wird eine Heerschar an exzellent ausgebildeten Menschen brauchen, um den alternden Wohlfahrtsstaat finanziell über die Runden zu bringen.

Überhaupt könnte das Handwerk ausgerechnet in Zeiten der technologischen Revolution ein Revival erleben. In der digitalisierten Welt von morgen werden insbesondere Routinetätigkeiten an die künstliche Intelligenz ausgelagert werden, das wird viele Akademiker treffen, die derzeit in der öffentlichen Verwaltung oder auch in der mittleren Ebene großer Firmen ihr Geld verdienen. Einer Schätzung der OECD zufolge werden 40 Prozent der Jobs, für die sich Schüler heute interessieren, in 15 Jahren nicht mehr existieren. Dafür sind neue entstanden, wie Webdesigner, Programmierer oder E-Commerce-Kaufmann. Für diese Arbeit braucht man allerdings kein Hochschulstudium. Sondern einfach eine gute Ausbildungsstelle. Damit könnte auch die Lehre wieder deutlicher „hipper“ werden.

Es wäre höchst an der Zeit, dass die Politik die Lehre noch attraktiver für junge Menschen macht. Einerseits über das Forcieren der Lehre mit Matura, andererseits mit einem erleichterten Zugang in die Selbstständigkeit. So sollte jeder Bürger in diesem Land die Möglichkeit haben, mit einer abgeschlossenen Lehre und einem Jahr Berufserfahrung sein eigenes Unternehmen zu gründen. Denn wie der große österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises so treffend festgestellt hat: Damit es allen besser geht, braucht es Kapitalisten (mit viel Geld), Unternehmer (mit viel Mut) und Erfinder (mit vielen Ideen). Und gut ausgebildete Mitarbeiter mit hohem Arbeitsethos. All das scheint es in Österreich ja nicht gerade im Überfluss zu geben.

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Conclusio

In Österreich machen immer weniger junge Menschen eine Lehre, während die Studentenzahlen steigen. Während die Lehre in Westösterreich einen guten Ruf genießt, ist sie in Ostösterreich oft Auffangbecken für die, die es nicht an die Uni schaffen. In Wien finden zahlreiche junge Menschen keine Lehrstelle. Die Politik muss die Attraktivität der Lehre erhöhen, um diese auch den Maturanten schmackhaft zu machen. Der Sprung in die Selbstständigkeit oder an eine Universität im Anschluss an die Lehre muss einfach gemacht werden.