Europa, mehr Union bitte

Die EU-Länder müssen eine echte Föderation bilden. Andernfalls fehlt der Gemeinschaft die Macht, sich selbst zu verteidigen.

Globus mit EU-Flagge und Ortstafel "Brüssel"
Europa muss weiter zusammenwachsen, um geopolitisch noch eine Rolle zu spielen. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Nicht krisenfest. Die EU steht als Gemeinschaft vor einer Bewährungsprobe. Auf die Krisen der vergangenen Jahren hat sie mehr schlecht als recht reagiert.
  • Werteunion. Zu den Grundwerten der Union zählen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte können und müssen verteidigt werden.
  • Schwacher Schutz. Die Aggression Russlands gegen die Ukraine zeigt, wie wichtig ein gleichzeitiger Ausbau der militärischen Macht der EU ist.
  • Bewaffnete Neutralität. Erst durch die Bildung einer defensiven Verteidigungsunion wäre die EU dazu in der Lage, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen.

Diesen Text schreibe ich während der Invasion Russlands in die Ukraine. Dazu höre ich – eher zufällig, aber auf schaurige Weise passend – das neue Album von Avishai Cohen mit dem Titel „Naked Truth“. Der Einmarsch in die Ukraine offenbart, was viele Menschen im Westen zu lange für unmöglich gehalten hatten: Der Krieg ist ab sofort die nackte Realität.

Mehr im Dossier 5 Ideen für Europa

Zum jetzigen Zeitpunkt kann niemand wissen, wie die Welt, der Westen, die Ukraine in naher Zukunft aussehen werden. Eines ist aber klar: Für die Europäische Union beginnt eine neue Zeitrechnung, die einer grundsätzlichen Reflexion darüber bedarf, wer sie ist und wie sie ihre Zukunft sichern will.

Unvollendete Gemeinschaft

Die Europäische Union erzählt die Geschichte von der Überwindung des Krieges und der Zähmung der offenen Feindschaften. Die verbleibenden Animositäten zwischen ehemaligen Kriegsgegnern sind wenig mehr als Erinnerungen an kulturelle Differenzen und mit einer gewissen Zuneigung gepflegte Stereotype, die jedoch keine Bedrohung mehr für den inneren Zusammenhalt darstellen.

Gerade die Beziehung zwischen den ehemaligen Erzfeinden Deutschland und Frankreich ist ein bemerkenswerter Beweis dafür, wie aus Feindschaft eine Freundschaft werden kann, wenn man behutsam vorgeht. Dennoch ist es die Achse zwischen diesen beiden Ländern, die aus historischen Gründen eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union hat. Und die für den nächsten Entwicklungsschritt der EU nicht zum Hindernis werden darf. 

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Zahlen & Fakten

Während Deutschland aufgrund seiner Schuld jegliche Form von Krieg scheut, spricht der französische Präsident Emmanuel Macron offen über die Notwendigkeit einer „strategischen Autonomie“. Er trifft damit den offenen, ja wunden Punkt der Europäischen Union. Denn diese wurde – zu ihrem großen Verdienst – über ein halbes Jahrhundert zäher Integrationsprozesse eine „Gemeinschaft der Werte und des Rechts“: Ein unvergleichliches Gebilde, das der Gewalt abgeschworen und sich der gemeinsamen Schaffung von Demokratie, Frieden und Wohlstand verschrieben hat, und das seinesgleichen auf dem Globus sucht. 

Ära der Krisen

Diese Geschichte ist ein Erfolg, aber sie ist noch nicht zu Ende erzählt. Das hat besonders das vergangene Jahrzehnt gezeigt: eine Ära der Krisenkaskaden, von der Finanzkrise 2008 über die Flüchtlingskrise 2015 bis zur Pandemie der vergangenen zwei Jahre. In dieser Zeit hat sich die Union als eher mäßige, mitunter enttäuschende und wenig Vertrauen schaffende Institution präsentiert. Wohl konnte sie sich, unter Rückgriff auf ihre Wohlstandsverwöhntheit, auf finanzielle Weise aus den Krisen retten. Substanziell aber bleibt sie den Beweis nach wie vor schuldig, dass sie ihr eigenes Gebilde zusammenhalten und in eine gemeinsame stabile Zukunft führen kann.

Vielleicht erhält sie jetzt – so bitter es klingt – die Gelegenheit dazu. Denn zu den ersten und manchmal auch letzten Aufgaben eines staatlichen Gebildes gehört die Fähigkeit, sich selbst zu schützen – vor der Übermacht anderer, die unterschiedliche Werte und Vorstellungen pflegen und die nach nichts anderem trachten, als Andersdenkende zu zerstören und auszulöschen. 

Zu den Aufgaben eines staatlichen Gebildes gehört die Fähigkeit, sich zu schützen.

Dass Putin solche Pläne hegt, ist seit einem guten Jahrzehnt wohldokumentiert und heute brutale Realität. Demnach ist Macrons Forderung nichts Anderes als die – politisch und historisch – einzig überlebensfähige Kombination von Recht und Macht: die Macht, dem eigenen Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. 

Diese Macht bezeichnet man nach Jean Bodin, dem berühmten Staatstheoretiker des 16. Jahrhunderts, als Souveränität. Sie ist das, was der Staatsgewalt die Macht verleiht, ihre Werte und Rechte auch durchzusetzen – gegen innere wie äußere Feinde. Diese Macht hat Europa bisher immer abgelehnt, weil sie aus ihrer Geschichte heraus Macht nur als Gewalt verstehen konnte. Macht hingegen als positive Kraft, die sich selbst und die eigene Zukunft sichern kann, ist ein Instrument, ohne das kein Staat und auch keine Union auskommen kann. 

Bundestaat EU

Gerade aus meiner schweizerischen Perspektive lässt sich die vom französischen Präsidenten geforderte „strategische Autonomie“, die letztlich auf eine Verteidigungsunion zielt, die auch ohne NATO schlagkräftig genug ist, als „bewaffnete Neutralität“ interpretieren. Also eine politische Position, die sich – zumindest militärisch – nicht offensiv mit den USA, China oder Russland misst, sehr wohl aber fähig wäre, die eigene Unabhängigkeit gegenüber Aggressoren zu verteidigen. 

Wenn also Europa auch in Zukunft eine Gemeinschaft von stabilen und wohlhabenden Demokratien sein will, muss es fähig und willens sein, seine „Gemeinschaft der Werte und des Rechts“ um den Faktor der Macht zu ergänzen. Nur so kann es eine „souveräne Gemeinschaft der Werte und des Rechts“ werden. Die logische Folgerung wäre der Weg hin zu den Vereinigten Staaten von Europa: auf demokratischer Basis, konsequent föderal, aber global geeint. Viel Zeit bleibt nicht – aber die Notwendigkeit dafür scheint erkannt.

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Conclusio

Die EU hat in der Vergangenheit einen beachtenswerten Integrationsprozess durchlaufen. Allerdings nährt die gegenwärtige Ära der Krisen Zweifel, ob die Union nachhaltige Lösungen findet. Zwar lieferte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine einen neuen Impuls der Einheit. Doch um sich auch ohne Hilfe der USA vor einem äußeren Feind schützen zu können, wäre eine gemeinsame militärische Kapazität der EU notwendig. Durch sie würde Europa nicht nur von einer reinen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft zu einem echten Machtbündnis werden, sondern auch – nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten – seine Souveränität und Stellung in der Welt neu behaupten können.