„Ein Buch wie die Bibel“
Ein rarer Fall von wirkmächtiger Kunst: Harriet Beecher Stowe veröffentlicht 1850 ihre Geschichte „Onkel Toms Hütte“ – und trägt damit zum Verbot des Menschenhandels bei.

Die Frage an Schriftsteller, ob sie denn mit ihren Werken die Welt verändern wollen, taucht in Literaturdebatten immer wieder auf und ab, als würde sie auf einer Welle schwimmen, die den Pegelstand des moralischen Bewusstseins der Leser und der Autoren einer bestimmten Zeit markiert. Hinter dieser Frage lauert allerdings eine andere, die eigentliche Frage, nämlich: Was für einen Wert hat deine Arbeit, wenn sie die Welt nicht besser machen kann, nicht einmal will?
Mehr von Michael Köhlmeier
Als Autor duckt man sich und hat ein schlechtes Gewissen. Ich möchte etwas Schönes machen, genügt das nicht? Nein, sagen die Zeigefinger, die auf mich gerichtet sind, das genügt nicht. Wenn damit nur ich herabgesetzt wäre, das ginge ja noch, gemeint ist allerdings mein Beruf, er als Ganzes. Die Kunst überhaupt soll in den Bereich des Unnützen geschoben werden. Wir Schreiberlinge bürsten daraufhin die Literaturgeschichte durch und suchen nach wenigstens einem Fall, wo Dichtung die Welt besser gemacht, die Welt verändert hat.
Wir finden: Onkel Toms Hütte, Roman von Harriet Beecher Stowe.
Es geht die Legende, Abraham Lincoln habe bei einem Treffen mit der Autorin gesagt: „Sie sind also die kleine Frau, deren Buch diesen großen Krieg verursacht hat.“
Gemeint war der Amerikanische Bürgerkrieg. Es war ein grauenhafter Krieg, der vier Jahre dauerte, von 1861 bis 1865. Weit über 600.000 Soldaten starben. Auslöser und Hauptursache waren die unterschiedlichen Auffassungen des Nordens und des Südens in der sogenannten „Rassenfrage“ und in der Folge die Abtrennung der Konföderierten. Die Bundesstaaten südlich der Mason-Dixon-Linie, deren Reichtum und Glanz ganz und gar auf der Sklaverei beruhten, beharrten auf dem Recht, die Menschen in unterschiedliche Kategorien einzuteilen – Herren und Knechte, Weiße und Schwarze. Der Norden drängte mit aller Kraft auf die Abschaffung der Sklaverei.
Leid, das zum Himmel schrie...
Harriet Beecher Stowe stammte aus einer überaus frommen, aber aufgeklärten, toleranten Familie aus dem Norden. Ihr Vater war presbyterianischer Pfarrer. Sie waren zu Hause elf Kinder. Die Mutter starb früh. Auch einige Schwestern und Brüder wählten einen geistlichen Beruf. In der Familie wurde viel gelesen und viel diskutiert. Keine hundert Jahre vor Ausbruch des Bürgerkriegs hatte Thomas Paine eine Streitschrift gegen die Sklaverei veröffentlicht. Auf sie berief sich die Bewegung des Abolitionismus. Harriets Familie verteidigte diese moralische Weltanschauung und warb für deren Ideen, wo immer sie mit Menschen zusammentraf: Die Sklaverei sei die Ursünde Amerikas.
Viele Sklaven flohen in den Norden und verdingten sich dort als Arbeiter in den Fabriken, die in den großen Städten gegründet wurden, in Chicago, New York, Philadelphia, Detroit. Sie waren nun Lohnarbeiter, auf sich gestellt, frei.
Das neue Gesetz empörte sie so sehr, dass sie in eine schwere Depression fiel.
Sie glaubten, sie seien frei. Aber dann, im Jahr 1850, also elf Jahre vor Ausbruch des Krieges, wurde der Fugitive Slave Act beschlossen, das war ein Bundesgesetz, das die Nordstaaten verpflichtete, entflohene Sklaven an den Süden zurückzugeben. Viele erwarteten dort Quälerei und Tod. Hunderttausende waren betroffen. Das Leid dieser Menschen schrie zum Himmel.
Harriet Beecher Stowe hatte öfter gemeinsam mit ihrem Ehemann die Südstaaten bereist und gesehen, unter welchen Bedingungen die Sklaven auf den Feldern von Louisiana, Georgia, Tennessee und Virginia arbeiten mussten, sie hatte sich ein Bild gemacht von den „Negermärkten“ in New Orleans, wo Kinder wie Vieh verschachert wurden. Das neue Gesetz empörte sie so sehr, dass sie in eine schwere Depression fiel. Sie mache sich mitschuldig, sagte sie, wenn sie nichts dagegen unternehme. Aber was konnte sie tun? – Schreiben.
Die Abolitionisten brachten eine Zeitung heraus, in der sie ihre humanistischen Ideen verkündeten, hier veröffentlichte Harriet Beecher Stowe im Jahre 1851 in vierzig Fortsetzungen Uncle Tom’s Cabin. Von der Buchausgabe wurden in einem knappen Jahr eine halbe Million Exemplare verkauft. Der Roman basiert auf den Memoiren eines ehemaligen Sklaven, er erzählt, wie Onkel Tom, ein gutmütiger, frommer Mann, geschunden, verkauft und erniedrigt wird und dennoch nicht seinen Glauben an Gott und die Menschen verliert. Der Roman erschütterte Amerika in einem Ausmaß, wie es niemand, auch nicht die Autorin, für möglich gehalten hätte.
...und ein Roman, der Geschichte schrieb
Nein, es gibt nicht viele Beispiele in der Geschichte der Literatur, die davon berichten, dass ein Roman, ein Lied, ein Drama die Welt besser gemacht hätte.
Heinrich Heine verglich das Buch mit der Bibel.
Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe jedoch ist so ein Beispiel. Leo Tolstoi verehrte die Autorin mehr als jeden seiner Kollegen, in einer typisch „tolstoischen“ Übertreibung stellte er ihr Werk über alles, was Shakespeare geschrieben hat. Für den britischen Historiker Thomas Macaulay ist der Roman der wertvollste Beitrag Amerikas zur Weltliteratur, und Heinrich Heine verglich das Buch schlichtweg mit der Bibel.
Der Roman Onkel Toms Hütte steht am Beginn einer langen, mühseligen Arbeit, der Arbeit an der Gleichberechtigung aller Menschen.