Über die Entscheidung
Weder Wahrheit noch Authentizität nötigen einen, sich festzulegen. Nicht einmal in den intimsten Bereichen des Lebens wird uns eine Entscheidung abverlangt. Es reicht, so zu tun, als ob.

Eine Denklandschaft, umgeben von einer Armee von Problemen: Auctoritas, non veritas facit legem – Autorität, nicht die Wahrheit macht das Gesetz. Das hat uns der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes eingebrockt. Politiker müssen die Konsequenzen auslöffeln. Aber nicht nur sie.
Mehr von Michael Köhlmeier
Diese Theorie wird Dezisionismus genannt. Das ist – nach Definition von Oxford Languages – „die rechtsphilosophische Anschauung, nach der das als Recht anzusehen ist, was die Gesetzgebung zum Recht erklärt“. Vertreter dieser Richtung kümmern sich auch um das Phänomen der Entscheidung und erklären, dass sowohl in der Politik als auch in der Juristerei es nicht so dringend oder gleich gar nicht darauf ankommt, was entschieden wird, sondern dass überhaupt entschieden wird.
Wie wichtig ist die Entscheidung an sich?
Carl Schmitt hat seine Gedanken dazu in dem schmalen Buch Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität dargelegt. Der berühmte erste Satz lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Vom Ausnahmezustand lässt sich jeder beliebige Zustand ableiten. Daraus folgt: Wer definiert, was der Ausnahmezustand ist, der bestimmt die Normalität. Kann daraus folgen, die Macht hat, wer mächtig genug ist, um festzuschreiben, was normal ist? Antwort: Ja. Carl Schmitt, heißt es, war ein brillanter Jurist. Sogar seine Feinde sagen das. Ich weiß nicht, was darunter zu verstehen ist.
Meine Unsicherheit resultiert nicht daher, dass ich nicht definieren könnte, was unter „brillant“ zu verstehen ist, sondern im Gegenteil, weil ich es weiß: Ein brillanter Jurist ist einer, der die bestehenden Gesetze außergewöhnlich gut kennt und sie außergewöhnlich geschickt auszulegen vermag. So einer war Carl Schmitt.
Wo es hundert Wahrheiten gibt, das sagt einem schon der Hausverstand, gibt es gar keine.
Die bestehenden Gesetze seiner Zeit waren die Gesetze, die unter dem Nationalsozialismus beschlossen wurden. Carl Schmitt war der „Kronjurist“ des Dritten Reiches, darin bestand seine Brillanz. Schon während der Weimarer Republik war er ein vehementer Gegner der liberalen, parlamentarischen, pluralistischen Demokratie.
Seine Faszination für Hitler gründete in dessen Auftreten. In einer Zeit, in der Dutzende Parteien im Parlament saßen, die sich auf nichts einigen konnten – als „Quatschbude“ wurde das Organ der gewählten Volksvertretung diffamiert –, vermittelte Hitler den Eindruck, er werde entscheiden. Was richtig oder falsch ist, was gut oder böse – wer soll das wissen? Nirgendwo wird die an sich absurde Meinung, dass es verschiedene Wahrheiten gibt, deutlicher vorgeführt als in der Politik.
Was tun, wenn es hundert Wahrheiten gibt? Die Antwort kann nur lauten: Sich für eine entscheiden. Für welche auch immer. Wo es hundert Wahrheiten gibt, das sagt einem schon der Hausverstand, gibt es gar keine. – Hauptsache, es wird entschieden. Ist das die Hauptsache?
Ich meine damit, die Hauptsache, die ein angehender Politiker sich vornehmen sollte. Ich meine damit einen Politiker, der tatsächlich glaubt, die Dinge, die entschieden werden sollen, seien gar nicht so wichtig, wichtig sei nur die Entscheidung an sich. Meistens sind die Dinge ja auch sehr kompliziert und über eine Wahlkampfrede nur schwer zu kommunizieren.
Der Eindruck genügt
Nein, es ist nicht die Hauptsache, dass entschieden wird. Die Hauptsache ist, dass der Eindruck erweckt wird, es werde entschieden. Ob dann wirklich entschieden wird oder nicht, kann ja doch nur mit den Dingen belegt werden, die entschieden wurden – und die sind bekanntlich kompliziert und schwer zu kommunizieren. Also kann jederzeit behauptet werden, es sei entschieden worden. Wer sollte das anzweifeln? Doch nur der politische Gegner, also die Opposition. Und die ist in Opposition, weil sie vor der Wahl eben nicht den Eindruck erweckt hat, sie könne entscheiden. – Wir haben es mit einem populistischem Zirkelschluss zu tun. Das Als-ob genügt.
Als ob
Ein meiner Meinung nach unterschätztes Buch ist die Abhandlung Die Philosophie des Als Ob von Hans Vaihinger. Es stellt uns eine Analyse über menschliches Denken und Handeln im Allgemeinen zur Verfügung, zeigt uns zugleich aber eine grundlegende Verfasstheit unserer Zeit auf. Das lag gewiss nicht in der Absicht des Verfassers.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir uns nur noch für Fiktives entscheiden wollen.
Er lebte von 1852 bis 1933, von den unbegrenzten Möglichkeiten, im Internet ein anderer zu sein, als man ist, konnte er nichts ahnen. Nicht einmal in den intimsten Bereichen des Lebens wird von uns verlangt, uns zu entscheiden, und von einem Wofür wir uns entscheiden, ist erst gar nicht die Rede. Es genügt, wenn wir den Eindruck erwecken. Und nicht einmal „den“ Eindruck müssen wir erwecken, „ein“ Eindruck genügt.
Hier die erfreuliche Nachricht: Wir sind auf dem Weg, uns zu literarischen Figuren zu entwickeln. Auf Authentizität ist gepfiffen! Das Wort konnten wir eh nie leiden. Es lässt sich ja kaum aussprechen. Tun wir so, als ob wir authentisch wären! Sie werden sehen: Mit der selber gemachten Authentizität kann es die sogenannte „wahre Authentizität“ nicht aufnehmen. Wir müssen nur so tun, als ob wir uns dafür entscheiden. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir uns nur noch für Fiktives entscheiden wollen. Auf geht’s!