Was einen guten Erzähler ausmacht

Die Formel „Es war einmal ...“ heißt: Fürchte dich nicht, es ist vorbei. Meine Großmutter hat die schlimme Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt. Sie wollte, dass es vorbei ist. Darum erzählte sie. 

Eine Frau erzählt in einer Bücherecke fünf Kindern eine Geschichte aus einem aufgeschlagenen Buch. Das Bild illustriert einen Artikel zum Thema, was gute Erzähler ausmacht.
Mai 1978: Geschichtenerzählen im O.T.C.-Haus in Verbindung mit der Konferenz über Kinderliteratur. © Getty Images

Die beste Erzählerin, die mir in meinem Leben begegnet ist, war meine Großmutter. Mit Erzähltheorie hat sie sich nie beschäftigt.

Was ist wahr? Wahr ist, was für wahr gehalten wird. Wie erzeugt der Erzähler Glaubwürdigkeit? Zu dieser Frage sind seit Aristoteles unzählige Abhandlungen geschrieben worden. Meine Antwort: durch Abschweifung. Nun ist Abschweifung doch eher ein Mangel, weist sie doch auf einen schlechten oder mittelmäßigen Erzähler hin. Der Zuhörer möchte ihm zurufen: Bleib bei der Sache! Halte dich an das Wesentliche! Schweif nicht ab!

Hier herrscht ein Paradoxon: Ein guter Erzähler muss bisweilen nicht gleich als ein schlechter, aber als ein nicht allzu guter Erzähler erscheinen, denn bei einem allzu guten Erzähler sind wir Zuhörer auf der Hut, wir trauen ihm zu, dass er uns mit seiner Brillanz hinters Licht führt, wir denken, ja, er ist so gut, dass er uns, wenn wir nicht aufpassen, tatsächlich hinters Licht führt, und deshalb passen wir auf und sind misstrauisch und vergessen nicht, dass er nur tut, als ob seine Geschichte wahr wäre, selber aber nicht daran glaubt. Wir durchschauen ihn. Gerade weil er so gut ist, durchschauen wir ihn. 

Der wahrhaft gute Erzähler wägt Abschweifungen ab

Bei dem scheinbar nicht so guten Erzähler dagegen, bei dem, der abschweift, von dessen Abschweifungen wir auf mangelhafte Erzählkunst schließen, denken wir, er könnte uns gar nicht hinters Licht führen, auch wenn er es wollte, also ist wahrscheinlich wahr, was er erzählt, denn wenn nicht, hätten wir ihn längst durchschaut. Der wahrhaft gute – also nicht allzu gut scheinende – Erzähler wägt seine Abschweifungen genau ab, ihren Inhalt, ihre Platzierungen, die Häufigkeit ihres Auftretens. Er ist ein Meister im Timing und in der Dosierung. 

Kasperl und Krokodil

Wenn ich als Kind manchmal in ein Wursteltheater mitgenommen wurde und dem Kasperl zusah und zuhörte oder der bösen Königin in „Schneewittchen“ oder dem Pinocchio, dann war ich unglücklich und fühlte mich bedrängt! Zu laut! Zu viel Gefuchtel!

Ich lachte nicht, wenn alle um mich herum lachten, ich schrie nicht, wenn das Krokodil erschien.

Jeder Vokal, besonders das A, riss das Gesicht des Schauspielers auseinander, dass mir angst und bange wurde – bei Angst so sehr zittern, dass die Ärmel flatterten, bei Freude so hoch hüpfen, dass der Bühnenboden ächzte, bei Schwerhören sich schräg stellen bis knapp vorm Umfallen und dabei die Mundwinkel nach unten ziehen und ein dummes Gesicht machen und eine Hand ans Ohr halten, sodass schließlich sogar die Fliege auf meinem Knie kapierte, jetzt lauscht er. Ich lachte nicht, wenn alle um mich herum lachten, ich schrie nicht, wenn das Krokodil erschien. Ich patschte am Ende meine Hände zusammen, nur weil alle um mich herum so taten. 

Meine Großmutter erzählte ganz anders. Ihre Stimme war monoton und wurde im Lauf der Erzählung immer monotoner und auch immer leiser. Ich musste an sie herankriechen, um sie zu verstehen. Endlich lag ich auf ihrer Brust, mein Ohr nahe bei ihrem Mund. Sie erzählte mich in einen vorschlafähnlichen Zustand.

Rumpelstilzchen und Herr Korbes

Je spannender die Geschichte wurde, und spannend hieß bei ihr grausam, nämlich wirklich grausam, so grausam wie die Geschichte vom Rumpelstilzchen, das sich aus lauter Zorn selbst in der Mitte auseinanderreißt, oder die vom Mädchen ohne Hände, dessen eigener Vater sie verstümmelt, damit der Teufel sie und nicht ihn holt, oder die vom Herrn Korbes, der von den Tieren und den Dingen erst gequält und dann ermordet wird, und wir nicht wissen, warum – je unzumutbarer für das Kind ihr Märlein wurde, desto unbeteiligter schien die Erzählerin zu sein. 

Das Vertrauen des Zuhörers in den Erzähler sei nur zu vergleichen mit dem Vertrauen des Säuglings in die Mutter, an deren Brust er saugt.

Ein Altphilologe, der den Homer studiert hat wie kein anderer, erklärte mir, die Rhapsoden jener Zeit – genau wisse man es nicht, wahrscheinlich aber sei es – hätten die Trommel geschlagen oder auf einem Saiteninstrument die immer gleiche Abfolge von Tönen und Akkorden gezupft und dazu in einem monotonen Singsang ihre Epen vorgetragen. Mit Gesichts- und Körperfaxen ließen sich, meinte er, so viele Verse nicht bewältigen. Ein kurzer Song ja, ein Epos nein. Auf die Dauer sei für ein Publikum nur Monotonie erträglich.

Das Vertrauen des Zuhörers in den Erzähler sei nur zu vergleichen mit dem Vertrauen des Säuglings in die Mutter, an deren Brust er saugt. So der Philologe. Und dann, sagte er, ohne dass ich ihn darauf ansprach, solle ich auf die Abschweifungen achten, die sich Homer leiste … – Ohne dass sie es wusste, schloss meine Oma an den ersten und größten Erzähler an.

Es war einmal ...

Die Formel „Es war einmal …“ heißt: Fürchte dich nicht, es ist vorbei. Fersen, die abgehackt werden, bluten nicht mehr. Was vorbei ist, kann erzählt werden. Die Erzählung ist der Garant dafür, dass es vorbei ist. Das Geschehen soll durch die Erzählung nicht wiederholt werden – das sagen jene, die keine Ahnung haben, sie meinen es als Lob: „Der Erzähler hat durch seine Erzählung das Vergangene gegenwärtig werden lassen!“ Das Gegenteil ist der Fall. Der Erzähler punziert das Vergangene als vergangen. Es ist vorbei!

Meine Großmutter hat die schlimme Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt. Sie wollte, dass es vorbei ist. Darum erzählte sie.

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