Israel und Völkermord

Begeht Israel im Gazastreifen einen Genozid an den Palästinensern? Südafrika hat im Dezember 2023 den Internationalen Gerichtshof angerufen, um diese Frage zu klären.

Eine Innenansicht des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Am 11. und 12. muss sich Israel dem Völkermord-Vorwurf stellen.
Am 11. Und 12. Januar muss sich Israel erstmals vor dem Internationalen Gerichtshof für den Militäreinsatz in Gaza verantworten. Ende Dezember hatte Südafrika Israel vor dem höchsten UN-Gericht geklagt und des Völkermords beschuldigt. © Getty Images

Im Dezember 1948 hat die UN-Generalversammlung die Völkermordkonvention verabschiedet – sie soll Gruppen vor der Auslöschung sichern und ist damit gewissermaßen die Grundlage für alle anderen Menschenrechte und der erste menschenrechtliche Vertrag überhaupt: Die Genfer Flüchtlingskonvention folgte 1951, das UN-Rassendiskriminierungsübereinkommen 1965, im Jahr darauf die beiden UN-Menschenrechtspakte.

Der geschichtliche Hintergrund ist so offensichtlich wie allgemein bekannt: die Shoah, die gezielte und systematische Auslöschung des jüdischen Volkes in Europa. So bezeichnet die Völkermordkonvention den Genozid erstmals als „ein Verbrechen nach Völkerrecht, das dem Geist und den Zielen der Vereinten Nationen zuwiderläuft und von der zivilisierten Welt verurteilt wird“. 

Dass nun ausgerechnet Israel auf dieser Grundlage angeklagt wird, hat einen bitteren historischen Beigeschmack. Für die einen sind aus Opfern Täter geworden, die anderen sehen darin eine Politisierung und Inflationierung des Völkermord-Vorwurfs. 

Völkermord: weniger als Sie (vielleicht) denken

Der Vorwurf des Genozids hat neben der juristischen noch mindestens zwei weitere unterschiedliche Aspekte: einen historischen und einen politischen. Ersteres bezieht sich auf seine Entstehung und die ersten Opfer, von den Herero über die Armenier bis hin zu den europäischen Juden. Zweiteres meint die hinter der Anschuldigung liegende Absicht, wie die Lenkung der internationalen Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema oder die Legitimierung von Kriegen.

So hatte Russland im Februar 2022 seinen Angriff auf die Ukraine mit dem absurden Vorwurf begründet, die Ukraine habe einen Völkermord an den Russen im Donbass begangen – weswegen die Ukraine Russland vor dem Internationalen Gerichtshof geklagt hat. Er solle klarstellen, dass sie keinen Genozid begangen hat. Ganz im Gegenteil, Russland missbrauche die Völkermordkonvention, um seine Aggression zu rechtfertigen. 

Es geht nicht darum, ob ein Volk zur Gänze zerstört wird beziehungsweise werden könnte.

Völkerrechtlich ist der Begriff des Genozids eindeutig in der Völkermordkonvention definiert. Er bezeichnet fünf strafbare Handlungen, die mit dem Vorsatz begangen werden, eine „nationale, ethnische, rassische [sic!] oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Darunter fallen allen voran die Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe, aber eben nicht nur: Auch das Hinzufügen von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden, das Unterwerfen unter existenzbedrohende Lebensbedingungen, Maßnahmen zur Geburtenverhinderung und gewaltsame Kindesentführungen können einen Völkermord darstellen.

Wohlgemerkt geht es außerdem nicht darum, ob ein Volk zur Gänze zerstört wird beziehungsweise werden könnte. Wie der Internationale Gerichtshof im Verfahren zum Völkermord in Srebrenica betont hat, kann auch die massenhafte Tötung in einem räumlich abgegrenzten Gebiet einen Genozid darstellen. Damals war Bosnien und Herzegowina gegen Serbien – erfolgreich – vor Gericht gezogen und hatte dahingehend Recht bekommen, dass die Regierung in Belgrad nicht genug unternommen hatte, um den Völkermord an den bosnischen Muslimen zu verhindern. Allerdings hielt das Gericht damals auch fest, dass Serbien selbst keinen solchen verübt hatte.

Die Klage Südafrikas

Südafrikas Klage geht in eine ähnliche Richtung. Es fordert den Internationalen Gerichtshof dazu auf, eine Anordnung zu erlassen, derzufolge Israel die Militäroperation im Gazastreifen umgehend beenden und jegliche Maßnahmen unterlassen muss, mit denen das palästinensische Volk als solches gefährdet wird: Beispielsweise Vertreibungen, das Entziehen von ausreichender Nahrung und Wasser oder den Zugang zu humanitärer Hilfe.

Ein genozidaler Vorsatz ist enorm schwierig nachzuweisen.

Als Beweis für „genozidalen Vorsatz“, das Haupt-Charakteristikum des Völkermords, führt Südafrika zahlreiche Aussagen israelischer Offizieller an, die belegen sollen, dass Israel nicht nur gegen die Hamas, sondern die Bevölkerung des Gazastreifens vorgehe. Beispiele sind Premierminister Benjamin Netanyahus Verweise auf die biblische Figur Amalek, der „niemanden verschonen“ solle oder die Aussage des israelischen Präsidenten Jitzchak Herzog, dass „eine gesamte Nation verantwortlich“ sei, es nicht stimme, dass Zivilisten beim Massaker vom 7. Oktober nicht involviert waren und „wir kämpfen werden, bis wir ihr Rückgrat brechen“. 

Bei alledem muss man bedenken, dass genozidaler Vorsatz enorm schwierig nachzuweisen ist. Ob diese und weitere Aussagen ausreichen, sei dahingestellt. Kritiker werfen Südafrika jedenfalls Rosinenpickerei vor.

Intuitiv mögen sich manche nun fragen, wieso Südafrika, das wenig bis nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun hat, Israel klagt beziehungsweise überhaupt klagen kann. Um eine ausschweifende völkerrechtliche (und mitunter etwas langweilige) Erklärung zu vermeiden, hier die Kurzfassung: Weil der Völkermord eines der schwerwiegendsten, wenn nicht das schwerwiegendste völkerrechtliche Verbrechen ist, sind alle Staaten dazu angehalten, ihn zu verhindern. Und das können sie unter anderem dadurch tun, indem sie jene Staaten klagen, in denen ein Völkermord stattfindet und/oder die einen solchen begehen oder begehen könnten.

Politisierung und Inflationierung

Südafrikas Vorgehen ist kein Novum. Den Anfang hatte Gambia im November 2019 gemacht, das stellvertretend für die Organisation Islamischer Staaten (die als solche nicht vor dem Internationalen Gerichtshof nicht klagen kann, das können nur Staaten) Myanmar wegen des Völkermords an den Rohingya geklagt hatte. Spätestens seit damals ist klar, dass auch Länder, die nicht unmittelbar betroffen sind – etwa, weil ihre eigenen Bürger getötet werden – vor Gericht ziehen können. Also eben auch Südafrika wegen des israelischen Vorgehens im Gazastreifen.

Menschen- und völkerrechtlich konsistente Außenpolitik sieht anders aus.

Die einen sehen darin eine Gefahr der Verwässerung des Völkermord-Begriffs. So gehe es primär darum, Israel in den Augen der Weltöffentlichkeit zu delegitimieren oder auch abzulenken: von den Hamas-Massakern vom 7. Oktober, den Raketenangriffe auf israelisches Gebiet und der anhaltenden Geiselnahme. Hinzu kommt, dass Südafrika gute Beziehungen mit Russland unterhält und den Krieg gegen die Ukraine nicht verurteilt hat. Menschen- und völkerrechtlich konsistente Außenpolitik sieht anders aus.

Andere sehen darin eine Bestätigung dafür, dass Staaten zumindest fallweise ihre gemeinsamen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte ernst nehmen. Also immerhin dann, wenn genug weltweite Aufmerksamkeit und ein entsprechendes politisches Interesse vorliegen – was im Übrigen erklärt, weshalb so viele andere Konflikte und Menschenrechtsverletzungen, etwa in Bergkarabach oder im Sudan, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bekommen und auch nicht zu ähnlichen Klagen führen werden.

Wie auch immer man dazu steht. Das Verfahren gegen Israel findet in einem größeren weltpolitischen Kontext statt. Dabei geht es um mehr als um Völkermord, was für sich genommen schon mehr als ausreichend wäre, nämlich um das neue Selbstbewusstsein des „globalen Südens“ und die Kritik an „westlicher Doppelmoral“, die – abhängig davon, um wen es geht – „mit zweierlei Maß misst“. Diese Kritik muss man nicht teilen, ganz im Gegenteil. Im Raum stehen derartige Vorwürfe dennoch. Es liegt am Westen, ihnen glaubhaft entgegenzutreten. 

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