Wie die Ukraine weiterkämpfen kann
Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert. Aktuelle Eindrücke von der Front bieten wertvolle Lektionen für den weiteren Kampf.
Auf den Punkt gebracht
- Lehrreich. Die Gegenoffensive der Ukraine ist zwar gescheitert, doch zeigt sie auf, wie ein nächster Versuch besser gelingen kann.
- Ursachen. Mangelnde Koordination, moderne Aufklärung und unerwartet intensive russische Gegenangriffe waren die größten Hürden.
- Training. Die Ukraine muss nun in die Defensive gehen und ihre Truppen auf die neuen Bedingungen vorbereiten.
- Rückhalt. Der Westen sollte seine Unterstützung der Ukraine fortsetzen – auch um Glaubwürdigkeit auf der Weltbühne zu bewahren.
Wer die ukrainischen Truppen an der Front besucht, stellt unweigerlich zwei Dinge fest: Erstens, die seit sechs Monaten andauernde Offensive gegen die russische Verteidigungslinie verlangt den Männern und Frauen Unglaubliches ab. Soldaten, mit denen ich mich nur wenige Monate zuvor unterhalten hatte, erkannte ich bei meinem jüngsten Besuch im November an Frontabschnitten im Süden und Osten des Landes kaum wieder – der Krieg steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Das Zweite, was ich überall sofort feststellte: Der Kampfeswille der Ukrainer ist ungebrochen.
Dem Westen muss daher bewusst sein: Die Frage der Waffenlieferungen ist nicht an die Entscheidung der Ukrainer gebunden, den Widerstand fortzusetzen. Ohne weitere Unterstützung würde die Ukraine wohl lediglich ihre Strategie an eine asymmetrische Situation anpassen, den Kampf in die Städte und Dörfer verlagern und vermehrt auf Guerillamethoden setzen. Gleichzeitig haben auch die Russen für viele Beobachter unerwarteten Kampfeswillen gezeigt und intensiv auf die Angriffe der ukrainischen Einheiten mit sofortigen und kostspieligen Gegenangriffen reagiert.
Putin will neben der territorialen Ausdehnung langfristig auch ein fügsames Regime in Kiew installieren.
Außerdem sind beide Seiten noch weit von ihren politischen Zielen entfernt: Putin will neben der territorialen Ausdehnung langfristig auch ein fügsames Regime in Kiew installieren. Die Ukrainer wollen ihr Land zurück, wie es ihnen völkerrechtlich zusteht. Beide Seiten signalisieren also, dass sie bereit sind, den Krieg so intensiv wie möglich fortzuführen.
In der Praxis bedeutet das einen zähen Abnutzungskrieg, bei dem vor allem der Einsatz und Nachschub der Artillerie und der Flugabwehr eine entscheidende Rolle spielen wird. Wichtig ist nun, die richtigen Lektionen aus der Gegenoffensive zu ziehen, damit die Ukraine den russischen Aggressor so bald wie möglich bezwingen kann.
Kein Patt, sondern ein Stellungskrieg
Der oberste General der Ukraine meinte jüngst, dass im Konflikt ein Patt eingetreten ist, nachdem keine wesentlichen territorialen Gewinne erzielt wurden. Das Ziel, die russischen Kräfte zu teilen und bis zum Asowschen Meer vorzustoßen, wurde nicht erreicht. Die Gegenoffensive ist de-facto vorüber. Persönlich glaube ich aber, dass das Wort Patt die Situation nicht ganz akkurat beschreibt. Patt bedeutet, dass keine der beiden Seiten die Überhand gewinnen kann. Vielleicht stimmt das in unmittelbarer Zukunft, aber langfristig mit Sicherheit nicht. Stellungskrieg wäre vielleicht das passendere Wort. Das Gefechtsfeld ist nach wie vor dynamisch. Beide Seiten greifen noch immer an mehreren Stellen an und der Frontverlauf verschiebt sich. Früher oder später kann sich aus diesem Stellungskrieg zumindest an Teilen der Front ein Bewegungskrieg entwickeln.
Dass die operativen Zielsetzungen der Gegenoffensive verfehlt wurden, hat mehrere Gründe: Die fehlende Luftüberlegenheit spielte mit Sicherheit eine Rolle, obwohl auch die modernsten Kampfflugzeuge wenig gegen die neue Bedrohung durch Drohnen hätten ausrichten können. Die neuen, hastig aufgestellten Brigaden waren auch nicht ausreichend vorbereitet und zu wenig im gemeinsamen Kampf untereinander abgestimmt. Mit nur wenigen Monaten Vorbereitungszeit fiel es den ukrainischen Streitkräften schwer, die verschiedenen Waffengattungen und Einheiten koordiniert in den Angriff zu schicken. Auch hätten diverse Waffensysteme und Munition früher und in größeren Mengen geschickt werden können, obwohl dieser Punkt in der medialen Debatte oft überzeichnet wird.
Zahlen & Fakten
Die Ukraine hat außerdem bisher vor allem ältere Jahrgänge unter den Reservisten eingezogen, denen es im Vergleich zu den Jüngeren an körperlicher Fitness für langwierige Infanterieangriffe mangelt. Zudem dünnten mehrere Angriffsachsen die Einheiten aus. Auch die hohen Verluste, die die ukrainische Armee beim Kampf um die Stadt Bachmut während der Wintermonate erlitten hatte, wirkten sich aus. Und letztlich spielten auch die russischen Verteidigungsanlagen, inklusive der ausgedehnten Minenfelder, sowie die erwähnten intensiven Gegenangriffe der russischen Armee eine Rolle.
Ein beinahe transparentes Schlachtfeld
Ein wichtiger Punkt für das Scheitern der Gegenoffensive liegt am neuen Charakter des Krieges selbst: Durch die technische Möglichkeit, Angriffe oder Truppenbewegungen jeder Seite auf dem Schlachtfeld in Echtzeit zu überwachen, scheint es, dass große Durchbrüche mit massierten Kräften zurzeit nicht möglich sind. Der klassische Bodenangriff mit Panzerformationen funktioniert im Moment nicht mehr, vor allem ohne zumindest lokale Dominanz des Luftraums. Auf einem fast gänzlich transparenten Schlachtfeld ist es beinahe unmöglich, sich für einen Angriff zu sammeln, schwere Fahrzeuge zu konzentrieren, ohne durch Artilleriegeschosse, Raketen und Kamikaze-Drohnen getroffen zu werden. Das kann sich aber in der Zukunft ändern, wenn eine der beiden Seiten mit innovativen Konzepten, gepaart mit neuen technischen Hilfsmitteln, Feuerüberlegenheit und ausreichend Reserven einen neuen Angriff wagt.
Paradoxerweise führen die modernen technologischen Aufklärungsmöglichkeiten dazu, dass traditionelle Soldatentugenden wie Standhaftigkeit und körperliche Leistung, sowie die historisch immer wieder maßgeblichen Umweltbedingungen über militärischen Erfolg entscheiden. Wie hat sich all das in der Praxis gezeigt?
Zermürbender Stellungskrieg
Ein typischer Angriff von ukrainischen Einheiten auf die befestigten russischen Stellungen benannt lief folgendermaßen ab: In der Nacht dringen Pioniere oft allein oder zu zweit vor, um Minen zu räumen. Artillerie deckt die gegnerische Stellung mit Feuer und Nebelgranaten ein, um das Gefechtsfeld für die Aufklärung zu verbergen.
Sky Shield und Neutralität
Noch im Schutz der Dunkelheit dringt eine Infanterie-Gruppe, etwa acht bis 16 Mann stark, mithilfe von zwei Kampfpanzern und zwei bis drei Schützenpanzern bis zu einer Stellung vor und sofort in das Grabensystem ein. Die Panzer müssen sich dann zurückziehen, weil sie aufgrund der beinahe lückenlosen Aufklärung binnen kürzester Zeit Kamikaze-Drohnen und Artilleriefeuer anziehen. Die Soldaten sind dann den Tag über auf sich allein gestellt. Sie müssen die Stellung nehmen und diese gegen den russischen Gegenangriff halten, bis in der folgenden Nacht Nachschub kommen kann – ein Kraftakt, der nicht nur Mut und Disziplin, sondern auch physische Fitness erfordert.
Das Beispiel zeigt mehrere Dinge:
- Entgegen der Erwartung einiger Militärexperten haben Panzer weiterhin eine wichtige Rolle auf dem Schlachtfeld.
- Wegen der dichten Aufklärung durch Drohnen und Satelliten geben der Tag-Nacht-Zyklus sowie die witterungsbedingten Sichtverhältnisse den operativen Takt an.
- Der massive Einsatz von Drohnen und Artillerie sowie die Gegenangriffe führen dazu, dass territoriale Gewinne sehr teuer erkämpft werden müssen: In einem solchen Abnutzungskrieg sind einzelne Schlachten nicht ausschlaggebend.
- Wichtiger ist, in welchem Verhältnis zum Gegner Menschen und Material vernichtet werden. Da beide Seiten noch erhebliche militärische Ressourcen haben, ist davon auszugehen, dass der Krieg in ähnlicher Weise weitergehen wird.
Das dritte Kriegsjahr
Im Westen entstand durch den ursprünglichen Einsatz und die Methoden der Gruppe Wagner in Bachmut der fälschliche Eindruck, die russische Armee würde hauptsächlich von Gefangenen und anderen genötigten, unmotivierten Reservisten bemannt. Tatsächlich ist Russland effektiv darin, Freiwillige für den Krieg anzuwerben. Diese Soldaten kommen oft aus den ärmeren Gebieten der Föderation und erhalten eine, aus ihrer Sicht, gute Bezahlung. Die Invasoren haben derzeit rund 500.000 Soldaten in den besetzten Gebieten.
Auch die Ukraine verfügt über große personelle Reserven. Bisher wurden aus politischen Gründen bewusst die jüngeren Altersgruppen der Reservisten zwischen 18 und 28 nur zum Teil einberufen beziehungsweise an die Front geschickt. Insgesamt hat die Ukraine 700.000 Mann mobilisiert, von denen natürlich nur ein Teil an der Front ist.
Militärhilfen an die Ukraine sind weiterhin wichtig. Allerdings sieht es so aus, als würde das Versprechen Europas, bis März eine Million Schuss schwerer Artilleriemunition zu liefern, nicht eingehalten werden. Auch im Bereich Fliegerabwehrmunition gibt es nach wie vor Defizite. Die europäische Rüstungsindustrie wurde zu spät hochgefahren, obwohl schon bald nach Beginn der Invasion klar war, wie wichtig es für die Ukraine wäre, ausreichend Artillerie ins Feld zu führen. Gleichzeitig rächt sich der in der Vergangenheit vom Westen forcierte Abbau des Anti-Personen-Minen-Arsenals, das bei der Abwehr der nächsten russischen Offensive wertvoll gewesen wäre.
Russland temporär im Vorteil
Die russische Rüstungsindustrie wird im kommenden Jahr aller Voraussicht nach, trotz Sanktionen, mehr Kriegsmaterial produzieren können als 2023. In den Bereichen schwere Artilleriemunition, FPV Drohnen, sowie elektronischer Kampfmittel (Störsender) wird Russland zumindest auf quantitativer Seite einen klaren Vorteil gegenüber der Ukraine in der ersten Jahreshälfte 2024 haben, und wird diese Vorteile nutzen, um voraussichtlich in die Offensive zu gehen.
Derzeit ist China ein zögerlicher Partner und lieferte etwa die für den Aufbau der Verteidigungslinien so wichtigen Bagger. Entscheidender für 2024 sind ausländische Waffenlieferungen vor allem aus Nordkorea und dem Iran.
Das Ziel sollte nicht sein, ukrainische Streitkräfte in eine NATO-Armee zu verwandeln.
Die Ukraine sollte nun in die Defensive gehen, Verteidigungsstellungen ausbauen, und die Zeit nutzen, um ihr Arsenal aufzubauen, ihre Soldaten zu trainieren, an der effektiveren Kooperation der Einheiten zu arbeiten (dem „Kampf der verbundenen Waffen“) und Lehren aus der Gegenoffensive ziehen. 2024 sollte das Aufbaujahr der ukrainischen Streitkräfte werden.
Das Ziel sollte nicht sein, ukrainische Streitkräfte in eine NATO-Armee zu verwandeln. Vielmehr geht es darum die bestehenden Stärken der ukrainischen Kriegsführung weiter auszubauen. Das beinhaltet vor allem eine weitere Leistungssteigerung der Artillerie, die noch stärkere und effizientere Integration von Drohnen in allen Angriffs- und Verteidigungsoperationen, der breitere Einsatz elektronischer Kampfmittel sowie der Ausbau der Raketen- und Flugabwehr.
Der Westen sollte sich bewusst sein, dass Zaudern oder gar Zurückfahren der Militärhilfe massiv an seiner Glaubwürdigkeit kratzt. Gleiches gilt, wenn westliche Politiker die Ukraine zu Verhandlungen drängen wollen, bei denen sie einen Teil ihres souveränen Territoriums an Russland abtreten müsste. Wenn der Westen nicht in Wort und Tat hinter Kiew steht, kann das seinen weltweiten Einfluss beeinträchtigen. Moskau wähnt die Zeit auf seiner Seite. Es liegt am Westen, das als Fehler zu entlarven.
Conclusio
Fehlende Luftüberlegenheit, Koordinationsprobleme der ukrainischen Streitkräfte, moderne Aufklärung, stark befestigte russische Stellungen und intensive russische Gegenangriffe vereitelten die seit sechs Monaten andauernde Gegenoffensive. Im nunmehrigen Stellungskrieg spielen Artillerie, Drohnen, und elektronische Kampfmittel eine Schlüsselrolle. Die Ukraine sollte nun in die Defensive gehen, ihre Truppen trainieren und Kapazitäten aufbauen. Der Westen muss die Unterstützung fortsetzen, um zu verhindern, dass Russland durch eine Verzögerungstaktik am Ende als Sieger dasteht.