Nordkoreas Soldaten sind nicht kriegsentscheidend
Pjöngjangs Truppen in der Ukraine werden keinen Weltkrieg auslösen. Die PR-Aktion des Kremls ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Die westliche Angst vor Eskalation spielt Putin in die Hände.
Durch die direkte Beteiligung am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werde Nordkorea völkerrechtlich zur Kriegspartei, sei damit nicht mehr durch das Gewaltverbot geschützt und dürfe als legitimes Ziel direkt angegriffen werden, analysiert Ralph Janik in seinem lesenswerten Kommentar. In den westlichen Medien und Politetagen sorgt diese völkerrechtlich qualitativ neue Rolle Nordkoreas seit Tagen für spürbare Unruhe. Einige Publizisten sehen gar den Ungeist eines Dritten Weltkrieges aufziehen.
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Dennoch ist das Ausmaß der Aufregung angesichts des Einsatzes eines – nach aktuellem Wissensstand auf 12.000 Mann – begrenzten Truppenkontingentes Nordkoreas gegen die Ukraine erstaunlich. Pjöngjang beliefert Moskau schon seit langem zuverlässig mit Artilleriegeschossen und ballistischen Raketen. Die nordkoreanischen Offiziere sind längst in Frontnähe anzutreffen, nicht zuletzt zur Analyse der Wirksamkeit eigener Waffen. Das vermochte den Westen bislang kaum aufzuregen. Vielmehr war es gerade dieses westliche Schweigen, das zu einem weiteren Dammbruch im Ukrainekrieg führte. Russland testet kontinuierlich die roten Linien des Westens und dehnt sie dabei stetig aus. Die westliche Zögerlichkeit und die allgegenwärtige Angst vor Eskalation spielen dem Kreml dabei in die Hände.
Die Warnungen vor einem aufziehenden Weltkrieg scheinen jedenfalls deutlich verfrüht zu sein. Der Einsatz nordkoreanischer Truppen gegen die Ukraine ist mitnichten eine Ouvertüre zum globalen Chaos. Wenn überhaupt, handelt es sich um eine Art vorbereitenden Probedurchlauf für einen potenziellen globalen Konflikt der Zukunft. Doch was sind die möglichen Gründe für den Einsatz nordkoreanischer Truppen und welche Folgen könnte dieser Einsatz mit sich bringen? Ein Gamechanger im Ukrainekrieg ist der Einsatz nordkoreanischer Truppen aus aktueller Sicht jedenfalls nicht.
Enormer Truppenhunger des Kremls
Während Nordkorea als verlässlicher russischer Lieferant von Artilleriegeschossen und ballistischen Raketen auftritt, wusste die Entsendung nordkoreanischer Truppen zu überraschen und beweist den enormen Truppenhunger Russlands. Nach medienöffentlichen Angaben westlicher Nachrichtendienste verzeichnet Russland seit Frühjahr 2024 Verluste von durchschnittlich über 1.000 Mann pro Tag. Seit Invasionsbeginn im Februar 2022 hat Russland einem Artikel des Wall Street Journal zufolge Verluste von bis zu 200.000 Toten und 400.000 Verwundeten zu beklagen.
Russland testet kontinuierlich die roten Linien des Westens und dehnt sie dabei stetig aus.
Aktuell gelingt es Russland, rund 30.000 Vertragssoldaten pro Monat zu rekrutieren. Der für russische Verhältnisse ohnehin hohe Sold der Soldaten steigt seit Monaten an; doch nur mit sehr mäßigem Erfolg für die konkreten Rekrutierungszahlen. Damit dürften die Rekrutierungskapazitäten Russlands schon längst an ihre Grenzen gelangt sein.
Doch der verlustreiche Kampf um ukrainische Städte, wie beispielsweise Myrnohrad und Pokrowsk, steht Moskau noch bevor. Beide Städte hatten vor Beginn der russischen Invasion jeweils rund 50.000 Einwohner, verfügen über eine komplexe städtische Struktur und sind mit Awdijiwka oder auch Bachmut vergleichbar. Städten, deren Belagerung von Russland einen überaus hohen Blutzoll verlangte.
Mobilmachung für Russland zu risikoreich
Eine erneute Mobilmachung würde den Truppenhunger Russlands gewiss lösen. Schließlich gelang es dem Kreml durch die Mobilmachung im Herbst 2022 über 300.000 Mann einzuberufen. Die innen- und wirtschaftspolitischen Kosten waren allerdings enorm hoch. Neben spontanen Protestkundgebungen verließen einige hunderttausend junge Männer ihre Heimat und stellten den russischen Arbeitsmarkt vor enorme Herausforderungen. Damit scheint eine erneute Mobilmachung für den Kreml aufgrund ihrer immensen innenpolitischen Unpopularität viel zu riskant zu sein.
Der aktuelle Deal zwischen Wladimir Putin und Kim Jong-Un wird das russische Problem des zunehmenden Truppenmangels freilich nicht lösen. Dennoch werden 12.000 nordkoreanische Soldaten Russland mit Sicherheit eine gewisse Hilfe und für die ukrainischen Streitkräfte ein wahrnehmbares Ärgernis sein. Jedoch genügt der Blick auf die ukrainische Angriffsoperation in der Region Kursk, wo die Nordkoreaner nach Angaben des ukrainischen Militärnachrichtendienstes HUR bereits zum Einsatz gelangen, um einschätzen zu können, wie überschaubar diese Truppenzahl für die Maßstäbe des Ukrainekrieges ist. Auf ukrainischer Seite nehmen in Kursk bis zu 15.000 Mann teil, auf russischer Seite bis zu 50.000 Mann. Vor diesem Hintergrund sind 12.000 Mann eine nennenswerte, doch letztlich keine kriegsentscheidende Größe.
Eine kooperative PR-Maßnahme
Nach wie vor bleiben viele Fragen unbeantwortet. Ob die Nordkoreaner unter eigenem Kommando in Abstimmung mit dem russischen Generalstab kämpfen oder in die russischen Truppen eingegliedert werden, ist unbekannt. Das Eingliedern nordkoreanischer Truppen in die russischen Streitkräfte dürfte allerdings administrativen, disziplinären und sprachlichen Problemen begegnen. Allein der Bedarf an qualifizierten Militärübersetzern wäre enorm. Auch dürfte ein sorgloser Umgang mit den Nordkoreanern oder gar das Verheizen in berüchtigten russischen Fleischstürmen aus diplomatischen Gründen keine Option darstellen.
Die westliche Zögerlichkeit und die allgegenwärtige Angst vor Eskalation spielen dem Kreml in die Hände.
Um im Ukrainekrieg für Russland militärisch einen echten Unterschied auszumachen, müsste Kim Jong-Un Truppen im niedrigen sechsstelligen Bereich entsenden. Letzteres ist aber aus gegenwärtiger Sicht nur schwer vorstellbar. Denn eine zu starke Annäherung Nordkoreas an Russland wird vor allem China als Schutzmacht Nordkoreas ein Dorn im geopolitischen Auge sein.
Letzten Endes dürfte sich das nordkoreanische Kontingent lediglich als eine gelungene, kooperative PR-Maßnahme von Wladimir Putin und Kim Jong-Un herausstellen: Bedeutend genug, um die internationale Gemeinschaft und insbesondere den Westen in Sorge zu versetzen, doch viel zu klein, um einen militärischen Unterschied auszumachen.
Nachdem aber Russland den Ukrainekrieg als einen komplexen politischen Prozess betrachtet, können aus Kremlsicht selbst kleinste Maßnahmen im Bereich der psychologischen Kriegsführung einen bedeutenden Beitrag zu Moskaus Erfolg leisten. Diese einfache Wahrheit darf der Westen niemals aus den Augen verlieren. Aufmerksam bleiben aber Ruhe bewahren, ist das Gebot der Stunde.
Der Abstieg des Völkerrechts
Der neue völkerrechtliche Status Nordkoreas dürfte die Gefahr einer Konflikteskalation jedenfalls nicht wesentlich erhöhen. In einer zunehmend vom machtpolitischen Kalkül bestimmten Weltunordnung gerät die stabilisierende Rolle der regelbasierten Ordnung zunehmend in den Hintergrund. Und unglücklicherweise haben gerade die westliche Ignoranz und Gutgläubigkeit seit spätestens 2014 und die angstdurchtränkte Zögerlichkeit angesichts einer potenziellen Konflikteskalation seit 2022 wesentlich zum Abstieg des Völkerrechts beigetragen.
Das Beschwören eines angeblich wachsenden Eskalationspotenzials liefert Munition für die russische Propagandamaschine.
Denn das eigentliche Problem liegt darin, dass der wiederholte offene Bruch des Völkerrechts weder Wladimir Putin noch Kim Jong-Un schlaflose Nächte bereitet. Tatsächlich ist es gerade die Möglichkeit, durch demonstrative Völkerrechtsbrüche den Westen einzuschüchtern, welche die Zusammenarbeit zwischen den beiden Diktaturen so attraktiv macht.
Für die westlichen Entscheidungsträger gilt es endgültig anzuerkennen, dass das Beschwören eines angeblich wachsenden Eskalationspotenzials – so sehr dies auch aus aufrichtiger Sorge erfolgt – willkommene Munition für die ohnehin auf Hochtouren laufende russische Propagandamaschine liefert.
Die eigentliche Gefahr für den Weltfrieden
Die lähmende Angst vor einem unkontrollierbaren Abgleiten in einen Weltkrieg und die daraus resultierenden endlosen Debatten verstärken die ohnehin zunehmende Kriegsmüdigkeit im Westen, schwächen die Bereitschaft zur dringend notwendigen militärischen Unterstützung der Ukraine weiter und schaffen neue rote Linien, die Moskau aus machtpolitischem Kalkül demonstrativ ignorieren wird, um den Westen weiter zu demütigen. So verständlich der Wunsch nach klaren roten Linien auf westlicher Seite auch ist, jede Form der Selbstbeschränkung wird vom Kreml als Zeichen der Schwäche interpretiert und wirkt nicht deeskalierend, sondern heizt den Konflikt weiter an.
Nur klare militärische Erfolge der Ukraine könnten eine realistische Chance für einen Waffenstillstand und ernsthafte Friedensverhandlungen eröffnen.
Statt über die Gefahr eines Weltkrieges durch den Einsatz einiger tausend nordkoreanischer Soldaten zu spekulieren, sollten sich westliche Entscheidungsträger stärker mit der möglichen Weitergabe militärischer Spitzentechnologie – einschließlich Nuklearwaffentechnologie – an Pjöngjang befassen, ihr durch wirksame Sanktionskontrollen entgegenwirken und regionale Akteure, insbesondere die Schutzmacht Nordkoreas China, in die Pflicht nehmen. Denn hier liegt die eigentliche Gefahr der nordkoreanisch-russischen Kooperation für den Weltfrieden.
Denn letztlich bleibt die Rolle des Westens der entscheidende Faktor in diesem Krieg. Um die Situation nachhaltig zu verändern, muss der Westen seine Strategie überdenken. Kyjiw erhält nach wie vor nicht genügend westliche Waffen, um einen nachhaltigen militärischen Sieg zu erringen. Russland hingegen hat mit China, Iran und Nordkorea verlässlichere Partner für Waffenlieferungen und mit China und Indien stabile Abnehmer für seine Energieexporte.
Doch nur klare militärische Erfolge der Ukraine könnten eine realistische Chance für einen Waffenstillstand und ernsthafte Friedensverhandlungen eröffnen. Bevor Russland in die Nähe einer entscheidenden militärischen Niederlage gerät, wird es nicht zur Atombombe greifen, sondern sich – aus politisch-rationalem Kalkül – verhandlungsbereit zeigen. Ohne ein klares Bekenntnis des Westens bleibt dieses Szenario jedoch Wunschdenken.