Putin professionalisiert den Krieg

Mit Putins jüngsten Personalentscheidungen stellt der Kreml Russland auf einen langen Krieg ein. Wirtschaft und Militär werden noch enger verzahnt. Für den Westen sind das keine guten Nachrichten.

Moskau, 9. Mai 2024: Wladimir Putin begrüßt die ranghöchsten Offiziere während der Parade zum Tag des Sieges auf dem Roten Platz. Das Bild illustriert einen Artikel über Putins jüngsten Personalentscheidungen, mit denen der Kreml Russland auf einen langen Krieg einstellt.
Moskau, 9. Mai 2024: Wladimir Putin begrüßt die ranghöchsten Offiziere während der Parade zum Tag des Sieges auf dem Roten Platz. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Personal. Putin hat Regierung und Verwaltung deutlich professionalisiert. Die neuen Mitglieder verfügen allesamt über hohe fachliche Kompetenz.
  • Kriegswirtschaft. Die Verantwortung für die Integration von Wirtschaft und Militär trägt künftig ein Quintett aus bewährten Spezialisten.
  • Nachfolge. Gleichzeitig wurde eine Reihe junger Technokraten in Stellung gebracht, die im Westen ausgebildet wurden aber nicht pro-westlich sind.
  • Krieg. Putin stellt in allen Bereichen die Weichen für einen langen Krieg, um dem Westen eine strategische Niederlage zuzufügen.

Wenige Tage nach der Angelobung Wladimir Putins begann der Kreml an den mittel- bis langfristigen innenpolitischen Stellschrauben des Konfliktes gegen die Ukraine und den Westen zu drehen. Bei der Zusammensetzung der Regierung und der Präsidialverwaltung entschied sich Wladimir Putin in der vergangenen Woche zwar gegen radikale Veränderungen, an Überraschungen mangelt es jedoch nicht.

Russlands ewiger Krieg

Die jüngsten personellen Veränderungen zeugen davon, in welchem Ausmaß Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mittlerweile als die eigentliche gesamtstaatliche Kernaufgabe betrachtet wird. In Bezug auf die Zukunft des Krieges ist die Signalwirkung eindeutig: Der Kreml wird nicht einlenken, setzt auf massive Aufrüstung und konzentriert sich darauf, die gesamte Wirtschaft auf die Bedürfnisse eines langen Krieges umzustellen.

Bei der Kriegswirtschaft, der Streitkräfteversorgung, der Korruptionsbekämpfung im Verteidigungsressort und der Koordinierung des Rüstungssektors dürfte der Kreml enormen Steuerungsbedarf erkannt haben. Dabei entschied sich Putin nicht für radikalisierte Kriegs-Ideologen, sondern für weltanschaulich weitgehend neutrale Fachleute. Gleichzeitig setzt Russlands Präsident die lang geplanten Schritte zur Verjüngung seines Machtsystems um.

Das gesamte politische System wird auf einen gleichsam ‚ewigen‘ Krieg eingeschworen.

Nach dem turbulenten Jahr 2023 gelang es Wladimir Putin, die Verwirrung und die Unsicherheit unter den politischen Eliten und in der Bevölkerung weitgehend unter Kontrolle zu bringen. Mangels Alternative fügten sich die Eliten widerspruchslos Putins Kriegsplänen. Gleiches gilt auch für die russische Öffentlichkeit, die sich zum Widerstand weder fähig noch willens zeigt. Durch eine schrittweise Radikalisierung des öffentlichen Lebens wird das gesamte politische System auf einen gleichsam „ewigen“ Krieg eingeschworen.

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Zahlen & Fakten

Das Quintett der Kriegswirtschaft

Das Ziel des Kremls ist eindeutig: Das Hochfahren der Kriegswirtschaft. Dabei werden vor allem fünf Personen die Hauptverantwortung für Russlands Kriegsführung tragen.

Andrej Beloussow (*1959) war viele Jahre Präsidentenberater für Wirtschaftsfragen und seit 2020 als Erster stellvertretender Regierungschef unter anderem für Wirtschaftsentwicklung, Außenwirtschaft, Gegensanktionspolitik, Transport sowie das Nationalprojekt zur Drohnenentwicklung zuständig. Der studierte Volkswirt wird nun das Verteidigungsministerium, die Regierung und den Wirtschaftssektor eng mit dem militärisch-industriellen Komplex verzahnen. Schon bisher war er für rüstungsrelevante Importe über den grauen Markt verantwortlich und damit mit der Umgehung der internationalen Sanktionen betraut. Neben dem Aufbau der Kriegswirtschaft wird er die schlimmsten Reibungsverluste durch Korruption ausmerzen müssen. 

Anton Alichanow (*1986) zählt zur neuen Elitengeneration der sogenannten Jungtechnokraten und war von 2017 bis 2024 Gouverneur der strategisch wichtigen Exklave Kaliningrad. Als neuer Industrie- und Handelsminister wird Alichanow gemeinsam mit Beloussow den Umstieg auf die Kriegswirtschaft verantworten.

Alexej Djumin (*1972) war Leibwächter Wladimir Putins. Als stellvertretender Leiter des Militärgeheimdienstes GRU und Kommandant der Spezialeinsatzkräfte der Streitkräfte war Djumin 2014 in die Annexion der Krim eingebunden. Gouverneur des Gebietes Tula (2016-2024) war er einer der beliebtesten russischen Regionalpolitiker. Djumin wird in seiner Rolle als Präsidentenberater in der Präsidialverwaltung vor allem die Auf- und Ausrüstung der russischen Streitkräfte sowie den Umstieg auf die Kriegswirtschaft koordinierend überwachen.

Waleri Gerassimow (*1955) bleibt als Generalstabschef weiterhin für die militärischen Fragen zuständig. Dass Gerassimow nicht abgesetzt wurde, ist insofern interessant, als bislang bei jedem Wechsel des Verteidigungsministers auch der Generalstabschef ausgetauscht wurde.

Sergej Schoigu (*1955) war einflussreicher Minister für Katastrophenschutz (1994-2012), kurzzeitiger Gouverneur des Gebietes Moskau. Mit über einem Jahrzehnt an der Spitze des Verteidigungsministeriums (2012-2024) stand er im Epizentrum des 2014 begonnenen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Aufgrund seiner Loyalität zu Putin wird Schoigu nicht entmachtet, sondern befördert und als Sekretär des Sicherheitsrates die koordinierende Begleitung der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ Russlands gegen die Ukraine zu seiner Hauptaufgabe haben.

Loyalität als Lebensretter

Russlands langjähriger Verteidigungsminister (2012-2024) Sergei Schoigu wurde wider Erwarten nicht degradiert. Denn schließlich zeigte sich Schoigu an der Spitze des Verteidigungsministeriums nicht von seiner besten Seite. Insbesondere nach Beginn der russischen Invasion gegen die Ukraine wirkte Schoigu über weite Strecken überfordert und schlicht inkompetent.

Das von ihm im Verteidigungsministerium zwar nicht etablierte, jedoch perfektionierte kleptokratische System führte zur akuten Mangelversorgung und zu einer ganzen Reihe von desaströsen Niederlagen der russischen Streitkräfte. Und seine persönliche Fehde mit dem Financier der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gipfelte beinahe in einer ausgewachsenen Staatskrise.

Schoigus persönliche Loyalität Putin gegenüber dürfte ihn, wie einst schon Dmitri Medwedew, gerettet haben und der wahre Grund für seine Ernennung zum Sekretär des Sicherheitsrates gewesen sein. Indessen sorgte die Degradierung des einflussreichen Sekretärs des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew für die wohl größte Überraschung.

Patruschew: Von der grauen Eminenz zum Schiffbauer

Seit 2022 galt Nikolaj Patruschew vielen Beobachtern als graue Eminenz des Kremls in ideologischen Fragen. Über die neue Verwendung Patruschews wurde intensiv spekuliert, darunter auch über die Gründung einer neuen Struktur zur Koordination der Geheimdienstaktivitäten.

Am 14. Mai gab der Kreml bekannt, dass Patruschew die Rolle eines Präsidentenberaters für Schiffbauangelegenheiten übernehmen wird. Nicht wenige Beobachter sahen darin eine erniedrigende Degradierung. Tatsächlich weist seine Biografie eine Verbindung zu Fragen des Schiffbaus auf. Patruschew schloss 1974 das Leningrader Schiffbauinstitut ab und arbeitete vor seinem Wechsel zum KGB 1975 einige Monate in einem Konstruktionsbüro. Die Entscheidung bildet jedenfalls eine amüsante historische Parallele zum Schicksal von Stalins Volkskommissar für Inneres und Generalkommissar für Staatssicherheit, Nikolaj Jeschow, der für die Umsetzung der Säuberungen des Großen Terrors hauptverantwortlich zeichnete. Vor seiner endgültigen Demontage und Hinrichtung wurde Jeschow aller seiner Positionen enthoben und zum Volkskommissar für Binnenschifffahrt degradiert.

Die politische Unterwerfung der Ukraine bleibt als das unmittelbare Kriegsziel Moskaus unverändert.

Gut möglich, dass Putin der Gerüchte über Patruschews Rolle als graue Eminenz des Kremls und der angeblichen Nachfolgerolle von Patruschews Sohns Dmitri müde geworden ist und ein deutliches Machtzeichen setzen wollte. Gut möglich auch, dass Patruschew mit 73 Jahren aus gesundheitlichen Gründen den Staatschef um einen ruhigeren Posten bat. Ungewöhnlich wäre das nicht. 

Freilich sagt die offiziell übertragene Aufgabe nichts Abschließendes über den künftigen Einfluss Nikolaj Patruschews aus. Angesichts des personalistischen Machtsystems Russlands bestimmt weniger die offizielle Position, sondern vielmehr die persönliche Nähe zu Wladimir Putin den tatsächlichen Einflussgrad. Schließlich bleibt Patruschews ständiges Mitglied des Sicherheitsrates.

Junge Technokraten auf dem Vormarsch 

Putin setzt mit den jüngsten Personalentscheidungen zugleich wichtige Schritte zur Verjüngung seines Machtsystems und zur Vorbereitung des Übergangs hin zu einem Post-Putin Russland. Diese Fragen beschränken sich nämlich nicht auf die Person eines einzelnen Nachfolgers.

Seit Jahren bezieht eine ganze Nachfolgergeneration machtpolitisch Stellung und gewinnt dabei die an Stärke, Profil und Einfluss. Die Jungtechnokraten sind in vielen einflussreichen Positionen zu finden, so zum Beispiel Anton Wajno (*1972), Vorsitzender der Präsidialadministration, Aysen Nikolajew (*1972), Oberhaupt der Republik Jakutien, Maxim Oreschkin (*1982), neuer stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, oder auch der neue Industrie- und Handelsminister Anton Alichanow (*1986). 

Für sich selbst dürfte Putin die denkende und lenkende Rolle beim Generationenwechsel und dem evolutionären Umbau des gesamten Staats- und Machtsystems vorgesehen haben – dies wohl nach dem Vorbild von Deng Xiaoping oder Lee Kuan Yew.

Die sogenannten Jungtechnokraten haben vielfach an renommierten Universitäten im westlichen Ausland studiert, pflegen ein betont angelsächsisches Auftreten und sind dennoch nicht pro-westlich eingestellt. Sie gehen lösungsorientierter an die komplexen Probleme heran, scheuen sich nicht davor, Konflikte einzugehen und wirken dabei erstaunlich unpolitisch. 

Sie ähneln nicht der alten (Post)Sowjetbürokratie – kriecherisch gegenüber den Vorgesetzten und der Politik, gebieterisch gegenüber den Untergebenen und der Bevölkerung –, sind aber kühle Pragmatiker der Macht und Wladimir Putin als ihrem politischen Ziehvater treu ergeben.

Die politische Unterwerfung der Ukraine bleibt als das unmittelbare Kriegsziel Moskaus unverändert. Das Hauptziel ist aber der Westen. Diesem möchte der Kreml eine erniedrigende strategische Niederlage zufügen. Schließlich sollen die westlichen Gesellschaften Russland wieder fürchten lernen.

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Conclusio

Wladimir Putin bereitet Russland mit seinen jüngsten personellen Entscheidungen auf einen langen Krieg vor. Durch eine schrittweise Radikalisierung des öffentlichen Lebens werden sowohl die politischen Eliten als auch die Bevölkerung gleichgeschaltet und auf einen „ewigen“ Krieg eingeschworen. Die Hauptverantwortung für die russische Kriegsführung sowie die Kriegswirtschaft liegt in Zukunft bei fünf Personen: Verteidigungsminister Andrej Beloussow, Industrie- und Handelsminister Anton Alichanow, Präsidialberater Alexej Djumin, Sicherheitsratssekretär Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Die einstige graue Eminenz des Kremls, Nikolaj Patruschew, wurde entmachtet. Das Hauptziel des russischen Angriffskrieges bleibt die politische Unterwerfung der Ukraine und damit eine strategische Niederlage des Westens.

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