Die sieben goldenen Regeln der Digitalisierung
Was Estland besser macht. Im Vergleich zu Estland befindet sich Österreich in der Steinzeit der Digitalisierung. Vielleicht auch in der Eisenzeit; jedenfalls hinken wir weit hinterher.
Digitalisierung sollte man nicht nur als Geschäftsmodell, sondern aus der Bürgerperspektive wahrnehmen. Nachdem ich von 2014 bis 2023 in Estland lebte, kann ich sagen, dass sie den Alltag wesentlich einfacher macht.
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Als mein erstes Kind vor sieben Jahren in Estland zur Welt kam, wurde online der Name des Neugeborenen eingetragen. Die Daten waren dann, mit Einwilligung, beim Arzt für alle weiteren Termine. Die digitale Identität eines estnischen Bürgers wird automatisch generiert, wenn der Arzt die Geburtsdaten des Kindes in das E-Gesundheitssystem eingibt. Die Eltern haben dann eine Frist von einem Monat, um den Namen des Kindes zur digitalen Identität hinzufügen – online.
Das bedeutet, dass jedes Kind eine digitale ID hat. Ebenso können Ausländer, die sich in Estland längerfristig registrieren und damit gemeldet sind, eine digitale ID erwerben. Davon unabhängig gilt das Modell der antizipierenden Verwaltung: Das Krankenhaus meldet den Nachwuchs sofort bei den Behörden an. Damit einher geht die Anmeldung bei der Krankenversicherung (in Estland gibt es nur eine) sowie die Registrierung für Sozialleistungen wie Kindergeld und weitere Zuschüsse.
Die digitale ID war eines der ersten Puzzlestücke für die tatsächliche und auch die digitale Identität des neuen Bürgers. Alle Amtswege können entweder komplett digital abgewickelt werden, oder sie werden zumindest digital unterstützt. „Deutschland und Österreich sind wie Venedig“, meint Siim Sikkut, einer der Pioniere der staatlichen estnischen Digitaloffensive: Was ihn irritiere? Das geringe Vertrauen in den Staat. Die geringe Bereitschaft, Dinge auszuprobieren, einfach irgendwo anzufangen, etwaige Mängel im Betrieb zu beheben.
Estland ist vollständig digitalisiert und fördert Innovation und Disruption.
Diese Art zu leben, müsse man sich leisten können, meint Sikkut lächelnd. Das sei „ein Luxus, den Estland nicht hatte“, zumal das Land nach der Unabhängigkeit 1991 und jahrzehntelanger sowjetrussischer Besatzung quasi von null anfangen musste. Seither wird technologischer Fortschritt großgeschrieben. 1998 verabschiedete das estnische Parlament die „Prinzipien des estnischen Informationspolitikfeldes“, die vier Ziele formulierte: Modernisierung der Gesetzgebung, Förderung des privaten Sektors, Förderung der Kommunikation zwischen dem Staat und den Bürgern und die Schaffung eines Bewusstseins für die Probleme, eine Informationsgesellschaft zu schaffen. Im März 2000 wurde schließlich der „Digitale Unterschriftsakt“ beschlossen – seither haben digitale Unterschriften dieselben rechtlichen Folgen wie handschriftliche.
Die Verfassung schreibt in Paragraph 44 vor, dass jeder das Recht auf freien Zugang zur öffentlichen Information hat. Staatliche Behörden und die örtlichen Regierungsstellen stehen in der Pflicht, die Bürger über ihre Aktivitäten zu informieren und ihnen Zugang zu jenen Informationen zu geben, welche die Institutionen über sie haben. In Estland funktioniert die Steuererklärung per Mausklick. Fast alle Menschen nutzen dies, der Beruf des Steuerberaters ist für Privatpersonen unbekannt.
Seit 1999 arbeitet das estnische Kabinett papierlos – anfangs mit stationären Computern, mittlerweile mit Laptops und Tablets, welche die Ministerinnen und Minister zu den Sitzungen selbst mitnehmen. Viele Akten, etwa Grundbücher, existieren inzwischen nicht mehr in Papierform. Auch amtliche Mitteilungen erscheinen seit Juli 2003 ausschließlich online.
In Estland wurde nicht nur Skype erfunden, die einzige große kommunikationstechnologische Innovation, die von Europa ausgeht. Dessen Technologie basiert auf einer in Estland 2003 für den illegalen Download von Musik programmierten Software. Zugleich drängen kleine, erfolgreiche Start-ups auf den Exportmarkt – schließlich sind die Absatz- und Ertragsmöglichkeiten in Estland begrenzt.
Estland ist vollständig digitalisiert und fördert Innovation und Disruption. In Westeuropa hingegen sind viele öffentliche Dienste noch nicht vollständig digitalisiert, wie ich nach meinem Umzug von der estnischen Hauptstadt Tallinn in die österreichische Hauptstadt Wien feststellen musste. Alles war sehr mühsam in den ersten Monaten.
Digitalisierung soll in allen Anwendungsfeldern und Berührungspunkten zwischen Bürgern und Staat wie ein Teppich ausgerollt werden. Zentral ist eine elektronische Identifikationsmöglichkeit, die Schaffung einer digitalen Identität. Dies erfordert einen Paradigmenwechsel, der vom Bund, von den Ländern und von den Kommunen eingeläutet und vorgelebt werden muss.
Der digitale Staat kann im globalen Wettbewerb zum unaufgeregten wie nachhaltigen Erfolgsprinzip werden. Dafür gilt es aber, seine Funktion als Dienstleister zu entwickeln und dynamischer als bisher auszubauen. Hierzulande werden E-Government-Lösungen zu langsam eingeführt und papierbasierte Prozesse, die in Estland längst digitalisiert sind, herrschen vor. Im Bildungssektor war Digitalisierung vor Corona ein Fremdwort, ein Szenario für den digitalen Unterricht existierte nicht.
Der digitale Staat kann im globalen Wettbewerb zum unaufgeregten wie nachhaltigen Erfolgsprinzip werden.
In Estland müssen seit zwei Jahrzehnten alle Lernmaterialien online gestellt werden. Im Kindergarten gibt es bereits Roboterklassen. 100 Prozent der staatlichen Einrichtungen, also auch der Schulen, sind miteinander vernetzt. Alle Schulen sind an das Internet angeschlossen, mit interaktiven Smartboards, PCs und Tablets ausgestattet. E-Learning-Unterrichtsmaterialien gelten als Standard, Schulbücher sind digitalisiert. Mit e-Kool wurde ein Schul-Management-System eingeführt, das nicht nur die Schulverwaltung, sondern auch viele Funktionalitäten für Schülerinnen, Schüler und Eltern umfasst. Dazu zählen ein digitales Aufgabenheft, Lernmaterialien, Noten- und Leistungsübersicht und vieles mehr. Über das E-Schulsystem können sich die Eltern zu jeder Tageszeit über das Schulverhalten ihrer Kinder informieren. Das Resultat: Bei der letzten Pisa-Studie in Europa erreichte man Platz eins. Österreich kam auf Platz 12, Tendenz fallend.
Föderale Strukturen sind oft ein Hindernis für eine schnelle Digitalisierung. Während Städte wie Wien oder Salzburg gut vernetzt sind, hinken viele ländliche Gebiete hinterher, was die digitale Teilhabe erschwert. Westeuropa braucht eine stärkere Fokussierung auf Infrastruktur und die Förderung digitaler Geschäftsmodelle, um im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Der Glasfaserausbau hinkt hinterher, insbesondere in ländlichen Gebieten. Österreich ist hier deutlich langsamer als viele andere EU-Länder. Die Nutzung moderner High-Speed-Internettechnologien bleibt begrenzt, was die digitale Wettbewerbsfähigkeit hemmt.
Goldene Regeln der Digitalisierung
Die Digitalisierung des öffentlichen Sektors ist mit einem Digitalisierungsparadoxon konfrontiert: Der Verbraucher gibt ohne weiteres persönliche Daten an gewinnorientierte internationale Unternehmen. Der Staatsbürger scheut sich, dem Staat bzw. der Verwaltung persönliche Daten anzuvertrauen, deren Nutzung strikten Regeln unterliegt. Die sieben goldenen Regeln einer erfolgreichen staatlichen Digitalisierung beginnen alle mit „V“.
- Vertrauen: Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger muss eine neue Vertrauenskultur entstehen, die weit mehr umfasst, als Dokumente online zur Verfügung zu stellen. Digitalisierung muss zur staatlichen Kernkompetenz gehören.
- Veränderungsbereitschaft: Moderne Technologien beherrschen nicht nur die Kommunikation, sondern dringen fast alternativlos in alle Lebensbereiche ein. Gerade deshalb braucht es eine Veränderungsbereitschaft, gerade auch beim Totschlagargument des Datenschutzes.
- Verantwortung: Der Staat steht nicht nur in der Verantwortung, sondern hat sie auch. Er muss für Transparenz und Sicherheit im Umgang mit persönlichen Daten sorgen. Die Bürger sind auch deshalb skeptisch, weil in der Vergangenheit private Konzerne mit Daten Schindluder betrieben haben.
- Vorsorge: Der Mangel an Strategie, Vision und Kompetenz erzeugt Verunsicherung bei den Bürgern, die sich einem rasanten Modernisierungsschub gegenübersehen. Der Staat muss hier Vorsorge und Fürsorge betreiben.
- Vehemenz: Überzeugungskraft hat derjenige, der für seine Sache „brennt“, mit Nachdruck wirbt. Gerade dieser Impetus hat in der Vergangenheit gefehlt.
- Verbesserung: Die bestehenden systemischen Mängel sind dringend abzustellen. Zu viele Projekte wurden in der Vergangenheit in den Sand gesetzt.
- Vogelperspektive: Ein Blick über die Grenzen, gerade nach Estland, hilft, neue Duftmarken zu setzen, neue Wege zu gehen und von guten Beispielen Kraft und Motivation zu schöpfen, gerade mit Blick auf die Diskussion um die Denkweise.
Die Digitalisierung bietet den Menschen als Individuen und der Gesellschaft als Kollektiv eine positive Veränderung. Wünsche und Ängste sind in die digitalen Transformationsprozesse einzubinden. Wir könnten wahrscheinlich in drei bis fünf Jahren aufbauen, wofür Estland 20 Jahre brauchte. Wir müssen nur endlich anfangen, die Grundlagen zu schaffen, in Österreich, in Deutschland, in ganz Europa.