Entschieden unentschieden

Die Wahlen in der Republik Moldau haben keinen klaren Sieg gebracht, auch das Referendum zum EU-Beitritt zeigt, wie zerrissen das Land zwischen Russland und der EU ist.

Die amtierende pro-europäische Präsidentin Maia Sandu von der Partei der Aktion und Solidarität (PAS) am 20. Oktober 2024 in Chisinau, Moldawien, bei ihrer Stimmabgabe. Am Sonntag fanden in der Republik Moldau Präsidentschaftswahlen und das Referendum über die Europäische Union statt. Die Wahlen in der Republik Moldau hatten keinen klaren Sieger gebracht.
Die amtierende pro-europäische Präsidentin Maia Sandu von der Partei der Aktion und Solidarität (PAS) am 20. Oktober 2024 in Chisinau, Moldawien, bei ihrer Stimmabgabe. Am vergangenen Sonntag fanden in der Republik Moldau Präsidentschaftswahlen und das Referendum über die Europäische Union statt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wahlergebnis. In der Republik Moldau wurde gewählt. Die amtierende proeuropäische Präsidentin Maia Sandu konnte keine absolute Mehrheit erringen.
  • Konkurrenz. In einer Stichwahl muss sie sich dem Sozialisten Alexandr Stoianoglu stellen. Er gilt als Russland freundlicher Kandidat.
  • EU-Referendum. Auch das parallel durchgeführte EU-Referendum zeigt die Gespaltenheit. Die proeruropäische Mehrheit ist hauchdünn.
  • Stichwahl. Präsidentin Maia Sandu wirft Russland Stimmenkauf vor. Sie muss in die Stichwahl. Ausgang ungewiss.

Am 20.10.2024 haben in der Republik Moldau gleichzeitig Präsidentschaftswahlen und ein Referendum über die EU-Integration stattgefunden. Die seit 2020 amtierende, prowestliche Präsidentin Maia Sandu konnte dabei eine relative Mehrheit von 42,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und muss, anders als von ihren Anhängern erhofft, in eine Stichwahl gegen den überraschend starken Sozialisten Alexandr Stoianoglo, der 26 Prozent der Stimmen bekam.


Beim Referendum stimmten 50,4 Prozent zu, den Beitritt zur Europäischen Union als Staatsziel in der Verfassung zu verankern. Nur 11.400 Stimmen liegen zwischen Befürwortung und Ablehnung dieser eher symbolischen, aber für die grundsätzliche Ausrichtung der moldauischen Außenpolitik entscheidenden Frage. Obwohl beide Abstimmungen einen vorläufigen Sieg der prowestlichen Kräfte in der Republik Moldau bedeuten, zeigt ihr Ausgang auch das Dilemma, in dem sich die moldauischen Gesellschaft befindet: Mit dem Rücken zur Wand und gleichzeitig zwischen allen Stühlen.

Mit dem Rücken zur Wand

Die Vollinvasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Sicherheitslage auch für die Republik Moldau grundlegend geändert. Zwischen der Front und der moldauischen Grenze liegen nur wenige Hundert Kilometer, dazwischen befindet sich der abtrünnige, prorussische De-Facto-Staat Transnistrien. Dort hat Russland seit der blutigen Sezession des schmalen Landstreifens im Jahr 1992 zirka 1.500 Mann einer „Friedenstruppe“ stationiert. Im transnistrischen Dorf Cobasna nahe der ukrainischen Grenze befindet sich eines der größten Waffendepots Europas, voll mit abgelaufener Munition aus der Sowjetzeit.

Bereits seit mehreren Jahren führt Moskau einen hybriden Krieg gegen das kleine Land, das etwas mehr als 2,5 Millionen Einwohner zählt. Zuerst mittels Importverboten vor allem für landwirtschaftliche Produkte, mittlerweile auch im Rahmen direkter und indirekter Einflussnahmen auf die politische Entwicklung. Nicht nur Politiker verschiedener Parteien stehen auf der Payroll Moskaus. Auch die Wähler werden mit Kleinbeträgen bestochen.

Auch die Europäische Union sollte größtes Interesse daran haben, die Situation in der Moldau stabil zu halten.

Fake News über die Auswirkungen eines EU-Beitritts sollen die Spaltung der moldauischen Gesellschaft noch weiter befördern. Die oft zynisch als Hinterhof Europas bezeichnete Moldau ist längst zum Frontstaat eines bislang „nur“ hybrid geführten Krieges geworden. Ohne Unterstützung kann sich das Land, das zu den ärmsten Europas zählt, gegen diese massiven Eingriffe in die staatliche Souveränität kaum verteidigen. Zudem bestehen kaum Zweifel, dass Russland „seine“ ehemalige Sowjetrepublik Moldawien auch in die militärischen Revisionsbestrebungen einbeziehen würde, käme es dazu in die Lage. Eine Hinwendung zum Westen scheint angesichts dieser militärischen, ökonomischen und politischen Bedrohungen alternativlos. Und auch die Europäische Union sollte größtes Interesse daran haben, die Situation in der Moldau stabil zu halten.

Zwischen den Stühlen


Das knappe Ergebnis des EU-Referendums und der ungewisse Ausgang der für den 2.11. geplanten Stichwahl für das Präsidentenamt zeigen jedoch, dass die moldauische Gesellschaft nach wie vor zwischen Ost und West hin- und hergerissen ist. Dies wird vor allem in jenen Regionen sichtbar, die sich eindeutig gegen die EU-Integration und eine zweite Amtszeit von Sandu ausgesprochen haben.
So haben im Autonomen Gebiet Gagausien nahezu 95 Prozent der Bevölkerung gegen die Annäherung an die EU ausgesprochen. Maia Sandu landete dort mit 2,3 Prozent der Stimmen gar nur auf Platz fünf der elf Kandidaten. Die 2023 gewählte Gouverneurin der Region, Evghenia Guțul, die sich gemäß der Tradition ihres turkstämmigen Volkes „Bașkan“ nennt, tritt offen für eine Zusammenarbeit mit Putin ein.

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Deutlich antiwestliche bzw. moskaufreundliche Tendenzen finden sich zudem im Süden und im Norden des Landes, wo bulgarische bzw. ukrainische und russische Minderheiten stark vertreten sind. Ohne die Stimmen der traditionell proeuropäisch eingestellten Diaspora wäre das Referendum eindeutig gegen Europa ausgefallen.

Historische Traumata

Aber auch in der rumänischsprachigen Mehrheit gibt es Vorbehalte, sich konsequent und vorbehaltlos zum Westen zu bekennen, wie dies Sandu und ihre Mitstreiter fordern. Der in Teilen der Bevölkerung dominierende Wunsch, einen Modus vivendi mit Russland zu finden, basiert weniger auf Sympathie als auf von historischer Erfahrung genährter Angst und Pragmatismus.

Denn im Laufe seiner Geschichte haben sich die Bewohner des früher Bessarabien genannten Landstrichs meist als randständig und fremdbestimmt empfunden: Nach der Eingliederung ins Zarenreich ab 1812, aber auch nach der zwei Jahrzehnte währenden Vereinigung mit „Großrumänien“ im Jahr 1918, und insbesondere im Rahmen der Sowjetrepublik, zu der die Moldau in der Folge des Zweiten Weltkrieges geworden ist. Selbst nach der Unabhängigkeit 1991 blieb man vom Willen der unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn bzw. pseudodemokratischer Akteure abhängig. In den vergangenen Jahren haben sich auch vermeintlich proeuropäische Politiker als korrupt und unzuverlässig erwiesen.

Moldau hält unerschütterlich an der Neutralität fest.

Ergebnis dieser erratischen Entwicklung ist ein Staat mit schwachen Institutionen und einer Gesellschaft, die die Identitätsfrage für sich noch nicht eindeutig beantwortet hat. So halten die Moldauer unerschütterlich an ihrer verfassungsmäßigen Neutralität fest. Im Gegensatz zu einem EU-Beitritt ist eine NATO-Mitgliedschaft undenkbar. Gleichzeitig haben in den vergangenen Jahrzehnten rund eineinhalb Millionen Moldauer ihre Entscheidung bereits getroffen und suchen ihr Glück im Ausland. In den 1990er-Jahren gingen noch viele nach Russland, in den letzten Jahren waren westliche Länder das bevorzugte Ziel.

Strategien für Republik Moldau

Präsidentin Maia Sandu und ihre regierende Partei „Aktion und Solidarität“ stellen einen Hoffnungsfaktor dar, den drei Jahrzehnte währenden Reformstau aufzulösen. Pandemie, Inflation und Krieg verhinderten aber, dass der Kampf gegen die Korruption und für Reformen insbesondere im Justizwesen spürbare Ergebnisse zeitigten.

Andererseits wird die Republik Moldau seit der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 auf allen Ebenen von der europäischen Politik unterstützt. Höhepunkte dieser Entwicklung stellten die Anerkennung des Landes als EU-Beitrittskandidat seit 23. Juni 2022 sowie der Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 1. Juni 2023 dar, als sich 47 Delegierte aus ganz Europa auf einem moldauischen Weingut trafen. Wenige Tage vor den Wahlen am vergangenen Sonntag verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die EU-Kommission einen Wachstumsplan für die Republik Moldau in der Höhe von 1,8 Milliarden Euro gebilligt habe.

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Präsidentin und Regierung wollten diese proeuropäische Stimmung nutzen und setzten alles auf eine Karte, indem sie die Präsidentschaftswahl mit einem für den Integrationsprozess nicht zwingend nötigen Referendum verkoppelten. Der Weg nach Westen sollte langfristig und institutionell festgeschrieben werden. Denn selbst wenn Sandu den zweiten Wahlgang für sich entscheiden sollte, könnten die 2025 stattfindenden Parlamentswahlen das politische Kräfteverhältnis im Land erneut völlig verändern.

Realismus und Pragmatismus

Das extrem knappe Ergebnis des Referendums bringt vor allem für das von Russland geförderte Anti-EU-Lager in der Moldau strategische Vorteile. Zwar verweist Sandu auf den nachweislichen, massenhaften Stimmenkauf und weitere Arten der illegalen Einmischung durch Russland. Jedoch lässt sich mit dem knappen Ergebnis auch von der Gegenseite behaupten, dass die Abstimmung gefälscht worden sei.

Der Weg in den Westen ist keineswegs vorgezeichnet.

Darüber hinaus beschädigt die Tatsache, dass sich die Moldauer einer eindeutigen Entscheidung für oder gegen eine EU-Integration entzogen, Sandus bei ihren Anhängern und vor allem im Westen vorhandenen Nimbus als alternativlose Erlöserfigur.

Der Weg nach Westen ist also keineswegs vorgezeichnet. Moldau bleibt ein „Swing State“ zwischen den geopolitischen Lagern. Diese Unentschiedenheit kann jedoch nicht ausschließlich mit den zweifellos massiven Eingriffen Russlands begründet werden, sondern basiert auf einem historisch nachvollziehbaren, grundsätzlichen Misstrauen gegenüber geopolitischer Vereinnahmung.

Die Moldauer werden sich weder von anlassbezogenen Aufbauhilfen aus dem Westen noch von Geschenken und Drohungen aus Russland überzeugen lassen, eine eindeutige Entscheidung zu treffen. Viel mehr sind aufrichtige, nachhaltige und glaubwürdige Angebote der langfristigen Kooperation und Integration nötig. Diese müssen von Realismus und Pragmatismus geprägt sein – so wie die moldauische Gesellschaft es ist.

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Conclusio

Die Republik Moldau ist zerrissen zwischen der EU und Russland. Die proeuropäische Maia Sandu muss sich in einer Stichwahl bewähren. Die geografische und historische Nähe zu Russland und die Wahlmanipulation durch russische Beeinflussung haben Teile der Bevölkerungen fest im Griff. Auch großzügige Zusagen der Europäischen Union für Wirtschaftshilfen konnten daran nichts ändern. Die Republik Moldau ist ein „Swing State“ in Europa.

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