War der Ukraine-Krieg vorhersehbar?

Der Rückblick auf die Jahre 1991 bis 2024 zeigt, wie Russland in die Diktatur und Europa in die Energie-Abhängigkeit schlitterte. Sind das die Ursachen des Ukraine-Kriegs?

Ein Hund steht auf einer Kreuzung in Cherson und blickt zurück.
Cherson am 14. Juni 2023 nach der Zerstörung des Kachowka-Damms. Der Ukraine-Krieg Russlands richtet sich gezielt gegen zivile Infrastruktur. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Ein Scheitern. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in der Russischen Föderation die demokratischen Kräfte systematisch unterdrückt.
  • Ein Erfolg. Die Ukraine konsolidierte ihre Demokratie – ausschlaggebend waren Proteste, unter anderem in den Jahren 1991, 2001, 2004 und 2014.
  • Ein Versagen. Europäische Energiepolitik und Energiegeschäfte trugen dazu bei, die Position der Ukraine zu schwächen und jene Russlands zu stärken.
  • Eine Hoffnung. Ein Beitritt der Ukraine zur NATO scheint unwahrscheinlich, jedoch werden eventuell EU-Beitrittsverhandlungen eingeleitet.

Der Ukraine-Krieg wird von Historikern wie Martin Schulze Wessel als Vernichtungskrieg eingestuft, der nach der gescheiterten schnellen Machtübernahme auf die „physische und symbolische Vernichtung“ der Ukraine abzielt. Lässt sich im Rückblick erklären, warum es 2014 zur Annexion der Krym, zur Besetzung des Donbass und am 24. Februar 2022 zur Totalinvasion durch Russland kam? Welche Rolle spielte Europa dabei? Und warum wurde aus der Ukraine nach 1991 eine Demokratie und aus Russland eine Diktatur?

1991 bis 1999 – Nation Building

Demonstranten und Demonstantinnen mit Plakaten stehen an einer Straßenabsperrung und winken und skandieren etwas. Das Bild illustriert einen Beitrag über die Ursachen des Ukraine-Krieges.
1. August 1991 in Kyjiw: Demonstration für die Unabhängigkeit der Ukraine. © Getty Images

Im August 1991 kommt US-Präsident George Bush auf eine Stippvisite nach Kyjiw. Sein Weg durch die Stadt ist von Demonstrierenden gesäumt, die eine unabhängige Ukraine fordern. Bush hatte zuvor in Moskau ausführlich mit Michail Gorbatschow gesprochen. Das macht deutlich: Die ehemalige Sowjetunion ist nach wie vor der Fokus der westlichen Politik. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine nennt Bush „selbstmörderischen Nationalismus“.

Ein Soldat sitzt auf einem Panzer und beugt sich zu einer Frau hinab, die ihm Tulpen aus Plastik reicht.
In Tiflis, Georgien, am 24. September 1991: Die Nationalgarde bewacht den Radiosender. © Getty Images

Während George Bush stellvertretend für den Westen und ganz im Einklang mit den Wünschen Moskaus die Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken hinauszuzögern versucht, ist bereits deutlich, dass dies nicht mehr geht. Armenien und Georgien beispielsweise hatten im Sommer 1991 bereits ihre Eigenstaatlichkeit errungen. Am 24. August 1991 erklärt auch die Ukraine ihre Unabhängigkeit, am 1. Dezember 1991 Tschetschenien.

Der Zerfall der Sowjetunion ist besiegelt. Am 26. Dezember 1991 hört die Sowjetunion auf zu existieren. An ihre Stelle tritt der neue Staat Russische Föderation.

Schulze-Wessel erinnert in Der Fluch des Imperiums daran, dass dieser neue Staat für die Russen kein „Gewinn“ war: „Während also alle anderen Nachfolgeländer der Sowjetunion mit der Unabhängigkeit etwas recht Konkretes gewonnen hatten, hatte Russland in den Augen vieler Menschen dort vor allem viel verloren: den Kalten Krieg, einen großen Teil dessen, was sie als ihr Vaterland betrachteten, und den Status einer Großmacht. Was blieb, war eben eine vage Hoffnung auf innere Freiheit und Wohlstand. Als beides sich nicht einstellte, kippte die Stimmung recht schnell. Das geschah auch bei vielen der anderen Länder. Eine demokratische Entwicklung blieb in den meisten vormaligen Sowjetrepubliken ebenfalls eine Utopie.“

Ein Mädchen hockt auf dem roten Platz in Moskau in der Sonne. Im Hintergrund ist der Kreml zu sehen.
Moskau im August 1992. © Getty Images

Alexej Nawalny beschreibt die 1990er Jahre als die Zeit, als eine „historische Chance“ „verkauft, versoffen und vergeudet“ wurde. Nawalny sieht in der Privatsierungspolitik, die von Boris Jelzin angestoßen und unter anderem von Anatoli Tschubais, dem Vize-Ministerpräsident, Finanzminister und Leiter der Präsidialverwaltung unter Boris Jelzin, konzipiert wurde, einen Ursprung des Oligarchensystems in Russland. Tschubais war noch Sonderbeauftragter Putins bis 2022, als er nach Beginn des Ukraine-Kriegs (Vollinvasion im Februar 2022) aus Protest zurücktrat und Russland verließ.

Das Jahr 1993 ist dabei in den Augen des Ökonomen Wladislaw Inosemzew ein entscheidendes Jahr: Die russische Verfassung wird so geändert, das sie Jahre später die Machtposition Putins ermöglicht und Boris Jelzin löst das Parlament gewaltsam auf, um diese Verfassung durchzusetzen. Die Verfassung orientiert sich am präsidentiellen System Frankreichs und sollte die sozialistische Verfassung ablösen. Am 21. September 1993 löst Boris Jelzin per Dekret das Parlament und den Obersten Sowjet auf. Während sich die Abgeordneten verschanzen, wird das Parlamentsgebäude von der unter Jelzins Kontrolle stehenden Armee beschossen. Bis zum 5. Oktober 1993 sterben mehrere hundert Menschen bei Straßenkämpfen.

Helmut Kohl und Boris Jelzin nach einer Messe im Dom zu Speyer.
12. Mai 1994 in Speyer: Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl unterstützt den russischen Präsidenten Boris Jelzin beim Winken. Jelzin und Kohl verband eine Freundschaft. © Getty Images

Inosemzew argumentiert daher, dass Russland nie auf dem Weg zu einer Demokratie war. Wirtschaftlich und politisch sei die Russische Föderation bereits in den 1990er Jahren auf dem Weg in die Diktatur gewesen. Das System Putin stelle keinen echten Bruch dar.

Während sich die von Nawalny kritisierte Clique an der Privatisierung der Öl- und Gasindustrie bereicherte – Nawalny nennt exemplarisch „Tanja und Walja“, Tatjana Jumaschewa (Tochter Jelzins) und Walentin Jumaschew, die mit der Umsetzung der Privatisierung betraut waren. Beide haben seit 2009 die österreichische Staatsbürgerschaft – beginnt Russland am 11. Dezember 1994 den ersten Krieg. 40.000 Soldaten marschieren in Tschetschenien ein.

Eine Frau trägt Teppiche auf dem Rücken und hält in der rechten Hand ein goldgerahmtes Portrait eines Mannes. Sie geht durch Ruinen.
Grozny am 15. Februar 2000: Die Stadt ist völlig zerstört. Die Tschetschenien-Kriege dauerten von 1994 bis 1996 und 1999-2009. © Getty Images

Der Atomwaffensperrvertrag verpflichtet die Ukraine unterdessen schon seit dem 5. Dezember 1994 alle Atomwaffen an Russland abzugeben. Während die Oligarchen reich werden, skizziert der Rechtsextremist Aleksandr Dugin 1997 wie eine imperiale Geopolitik aussehen könnte, die Öl und Gas als politische Druckmittel einsetzt.

Russland erlebt 1998 einen Beinahe-Staatsbankrott, was Dugins Schriften für den Ex-KGB-Mann Wladimir Putin, der 1999 Ministerpräsident wird, noch interessanter macht. Zur weiteren Stärkung von Gazprom wird rasch die Idee einer Pipeline nach Westeuropa entworfen, die das Transitland Ukraine umgeht. Der Wirtschaftsaufschwung, der ab 1999 einsetzt, geht allerdings mehr auf die Abwertung des Rubel zurück.

2000 bis 2005 – Der stille Ukraine-Krieg

Ein Demonstrationszug bei dem Menschen Plakate halten, auf dem die Umrisse eines Kopfes zu sehen sind. Es ist der Jahrestag des Todes von Georgiy Gongadze, dessen Ermordung die Proteste mit dem Titel Ukraine ohne Kucma auslösten.
Andenken an Georgiy Gongadze an seinem 15. Todestag: Kyjiw am 16. September 2015. Der Journalist war im September 2000 enthauptet in einem Wald gefunden worden. © Getty Images

„Ich werde die Pipeline zur Umgehung der Ukraine fertig stellen, noch während ich lebe“, so der Vorstandsvorsitzende. von Gazprom, Rem Wjachirew, im Jahr 2000. Wladimir Putin, nun bereits frisch gewählter Präsident der Russischen Föderation, besucht bei seinem Amtsantritt zuerst Deutschland. Er beginnt eine strategische Freundschaft mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.

In der Ukraine wird 2000 gerade wieder demonstriert. Die Proteste richten sich gegen Leonid Kučma (Kutschma), seit 1994 Präsident der Ukraine und der russischen Gasindustrie nahestehend. Kučma ist aufgrund von Tonbandaufnahmen verdächtig, in den Tod des georgisch-ukrainischen Journalisten Georgiy Gongadze verwickelt zu sein.

Der Journalist war im September 2000 enthauptet in einem Wald bei Kyjiw gefunden worden. Am 15. Dezember 2000 kommt es zu den ersten Protesten auf dem Majdan Nezaležnosti, dem Unabhängigkeitsplatz und später Ort des Euromajdan. Die Proteste haben ein Motto: „Ukraine ohne Kučma“. Kučma bleibt Präsident, aber aus der Bewegung geht eine erstarkte Zivilgesellschaft hervor, die klare Signale gegen Korruption und für die Unabhängigkeit der Ukraine sendet.

Ein Mann schwenkt eine große Fahne aus einem Gebäude. Neben ihm steht eine Kamera. Unten ist ein Fernsehturm und ein großer Parkplatz zu sehen.
Moskau am 4. April 2001: Mitarbeiter von NTW protestieren gegen die Übernahme des TV-Senders durch Gazprom. © Getty Images

2001 erfährt die russische Zivilgesellschaft einen Rückschlag: Der Fernsehsender NTW wird auf das Geheiß Putins von Gazprom gekauft. Der kritische Sender mit der Satiresendung „Kukly“ (Puppen) stand dem System Putin kritisch gegenüber und analysierte die Rolle des FSB an mehreren Bombenanschlägen in Moskau.

Diese Bombenanschläge waren der Vorwand für den zweiten Tschetschenien-Krieg (2000-2009), in dessen Verlauf unter anderem Grozny völlig verwüstet wurde. Gegen den Verkauf von NTW an Gazprom wird 2001 von Belegschaft und Bevölkerung gekämpft, doch ohne Erfolg.

Im selben Jahr ist Putin zu Gast in Deutschland und hält am 25. September 2001 eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Er behauptet darin, Russland habe großes Interesse an der Integration Europas. Und: „Russland ist ein freundliches europäisches Land.“ Die Anschläge vom 11. September 2001 (9/11) spielt Putin in der Rede geschickt als Legitimation für den Tschetschenien-Krieg aus.

2003 gelingt der Bevölkerung Georgiens mit der „Rosenrevolution“ der friedliche Machtwechsel von Eduard Schewardnadse zu Micheil Saakaschwili. Mit der Hinwendung zum Westen gerät das Land ab dann auf Konfrontation mit Russland.

Ein Mann in einer Fantasieuniform mit orangen Schleifen und Bändern steht im Winter auf einem Platz mit anderen Demonstrierenden und trinkt aus einem Plastikbecher warmen Tee.
Kyjiw am 29. Dezember 2004 während der „Orangen Revolution“. Diese führte bald zu einem stillen Ukraine-Krieg. © Getty Images

Im Fall Michail Chodorkowski zeigen sich aus Sicht von Catherine Belton 2003 die mafiösen Strukturen des oligarchischen Systems. Chodorkowski, selbst ein Oligarch, wird in einem Scheinprozess verurteilt. Er bleibt bis zu einer überraschenden Begnadigung bis 2013 in Haft.

Gazprom und die deutschen Energiekonzerne Wintershall und E.ON Ruhrgas führen Gespräche über die neue Pipeline, im Juli 2004 wird eine Absichtserklärung unterzeichnet – ein Jahr später als geplant. Die Gasmärkte werden sukzessive liberalisiert, und es bahnt sich ein erster stiller Ukraine-Krieg über die Verträge zur Durchleitung von Gas und die Pacht für den Seehafen Sewastopol auf der Krym an.

Gerhard Schröder Bundeskanzler von Deutshland deutet lachend mit dem Zeigefinger während er mit Wladimir Putin spricht. Doris Schröder-Köpf sagt Gerhard Schröder unterdessen etwas ins Ohr.
Hannover am 10. April 2004: Wladimir Putin (rechts) und Gerhard Schröder (links), damals noch Bundeskanzler Deutschlands, und Doris Schröder-Köpf (Mitte) bei der Eröffnung der „Hannover Messe 2005“. Russland ist das Partnerland der Fachmesse für Industrietechnologie und mit 150 Unternehmen dort vertreten. © Getty Images

Die Orange Revolution im Winter 2004 setzt die Ukraine erfolgreich auf einen Antikorruptionspfad, wie Catherine Belton in ihrem Buch Putins Netz schreibt. Somit steht die Ukrainische politische Elite nicht mehr für die Scheingeschäfte mit Öl und Gas und die russische Schattenwirtschaft zur Verfügung.

Millionen Ukrainer protestieren im November 2004 nach Bekanntwerden von Manipulationen bei der Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen Wiktor Juschtschenko und dem Russland und Kutschma nahestehenden Wiktor Janukowytsch. Die „Orange Revolution“ ist erfolgreich. Neben der An­näherung an NATO und EU setzt sich Juschtschenko als Prä­sident für die inter­nationale Anerkennung der von Stalin herbeigeführten Hungers­not „Holodomor“ als Völker­mord an den Ukrainern ein und ­reduziert die Macht des Prä­sidentenamtes.

Die Rache folgt mehr oder weniger prompt. Die Form die sie annimmt, nimmt die Methoden vorweg, mit denen zuerst 2014 und dann im aktuellen Ukraine-Krieg die Ukraine diffamiert wird. Im Gasstreit im Winter 2005/2006, unterstellt Putin der Ukraine erfolgreich, Gas von „den Europäern“ zu stehlen.

Berlin am 8. September 2005: BASF-Chef Jürgen Hambrecht, der neue Vorstandsvorsitzende der Gazprom, Alexey Miller, Wladimir Putin, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Vorstandsvorsitzende der E.ON AG, Wulf H. Bernotat, stehen vor deutschen, russischen soie EU-Fahnen nebeneinander. Es ist ein offzieller Fototermin anlässlich der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung zum Bau von Nord Stream I. Alle fünf Männer auf dem Foto lächeln.
Berlin am 8. September 2005: BASF-Chef Jürgen Hambrecht, der neue Vorstandsvorsitzende der Gazprom, Alexey Miller, Wladimir Putin, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Vorstandsvorsitzende der E.ON AG, Wulf H. Bernotat, beim Fototermin anlässlich der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung zum Bau von Nord Stream I. © Getty Images

Während sich BASF, E.ON und Gazprom im September 2005 über den Vertrag für den Bau von Nord Stream I und den baldigen Baubeginn freuen, gehen in Polen und Litauen die Menschen auf die Straße, um dagegen zu protestieren.

In den folgenden ­Jahren setzt Russland die Ab­hängigkeit der Ukraine und Westeuropas von seinem Erdgas ein, um jede Westorientierung Kyjiws zu torpedieren. Der Historiker Schulze Wessel sieht mit Nord Stream die „Spaltung Europas“ realisiert.

2006 bis 2014 – Die Früchte der Spaltung Europas

Ölförderung mit altem Gerät auf einem verschmutzten Ölfeld in Aserbaidschan.
Ein Ölfeld bei Baku in Aserbaidschan am 26. Oktober 2006. © Getty Images

Nord Stream I ist ab 2006 im Bau und die Liberalisierung der Gas- und Strommärkte in Europa schreitet voran. Gazprom und Turkmenistan verbünden sich, um der Ukraine zu Neujahr 2006 das Gas abzudrehen. Russland will damit die bevorstehenden Wahlen im März beeinflussen und außerdem sollen, wie Belton berichtet, die Scheingeschäfte weiterlaufen.

Der Konflikt in Armenien und Aserbaidschan schwelt weiterhin, angeheizt durch Drohungen Russlands will kurzfristig Aserbaidschan für Ölgeschäfte mit Europa zur Verfügung stehen.

Am 7. Oktober 2006 wird die Journalistin Anna Politkovskaja in Moskau erschossen.

Angela Merkel und George W. Bush stehen nebeneinander und unterhalten sich wobei sie ihre Hnde auf die Rückenlehnen von Sesseln gestützt haben. Das Bild wurde vermutlich in einer Verhandlungspause aufgenommen. Es it Teil eines Beitrags über die Ursachen des aktuellen Ukraine-Kriegs.
US-Präsident George W. Bush und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beim NATO-Gipfel in Bukarest am 3. April 2008. © Getty Images

Die USA wollen im April beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 einen raschen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO. Deutschland und Frankreich verzögern aus „Rücksicht“ auf Russland, das im Mai 2008 beginnt, in Georgien einzumarschieren.

2009 kappt Russland die Gaslieferungen in die Ukraine 13 Tage lang und setzt damit die Planung von Nord Stream II (Vertrag 2014) durch. Während Nord Stream I im Jahr 2011 feierlich eröffnet wird, kommt es in Moskau zu großen Protesten gegen Wahlfälschungen und gegen das System Putin, die bis 2020 immer wieder aufflammen. Allein am 10. Dezember 2011 kommen in Moskau mehr als 100.000 Demonstrierende zusammen. Der Slogan der Proteste ist eine Kampfansage und nimmt explizit Bezug auf die Ukraine. Er lautet: „Russland ohne Putin“.

Der Historiker Schulze-Wessel ordnet die Proteste ernüchternderweise so ein: „Während die Demonstrationen auf dem Maidan zur Korrektur von Wahlfälschungen führten und autoritäre Tendenzen der ukrainischen Politik in die Schranken wiesen, beschleunigten die russischen Proteste von 2011 letztlich den Weg in den Autoritarismus.“

Die Rechte von Presse, Opposition und NGOs werden gewaltsam beschnitten, dennoch hält die intensive Phase der Proteste bis 2013. Die Verurteilung und Inhaftierung Alexej Nawalnys 2013 bremst die Bewegung. Der erste Ukraine-Krieg bahnt sich an.

Die Verträge, die Gazprom mit deutschen und österreichischen Unternehmen und den jeweiligen Regierungen in dieser Zeit schließt, sind lukrativ: Gazprom besitzt in Folge nicht nur das Produkt selbst, sondern auch Infrastruktur wie Gasleitungen und Gasspeicher.

2014 wird der militärische Ukraine-Krieg Realität. Russland annektiert die Krym und besetzt Donesk und Luhansk.

2014 bis 2024 – Zehn Jahre Ukraine-Krieg

Demonstration für die Assoziierung von Ukraine und EU in Kiev im Dezember 2013.
Kyjiw im Dezember 2013 während des Euromajdan. © Getty Images

Der Euromajdan oder die Revolution der Würde, die im Winter 2013/14 beginnt, ist eine der Ursachen für den Ukraine-Krieg beziehungsweise zunächst die Annexion der Krym, der Besetzung des Donbass und schließlich der Vollinvasion im Februar 2022. Auslöser der Proteste 2014 in der Ukraine war die Nichtunterzeichnung eines unterschriftsreifen Assoziierungsabkommens mit der EU durch Wiktor Janukowytsch in Vilnius.

Im Februar 2014 sterben 100 Menschen, die auf dem Unabhängigkeitplatz in Kyjiw protestieren, durch Scharfschützen. Die Auftraggeber werden in Moskau vermutet. Für die ukrainische Demokratie ist der Euromajdan trotz allem, was danach kam, ein Erfolg. Die Wahlen werden wiederholt und die Demokratie ist gestärkt.

Auf den Ukraine-Krieg 2014, der dem Euromajadan folgt, reagiert die Öffentlichkeit in Europa und auch die Politik kaum. Während das Ukraine-Bild in Deutschland von der Idee geprägt ist, dass die Ukraine doch eigentlich russisch sei und die Krym sowieso, bemüht sich die Politik, den Ukraine-Krieg als einen Konflikt zu sehen. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Auch ist die Abhängigkeit von Erdgas speziell der deutschen Industrie mit den Jahren größer und nicht kleiner geworden. Angela Merkel spricht von Nord Stream I und II als Wirtschaftsprojekten. Nordstream II ist unterdessen im Bau.

Ein Demonstrationszug mit orangen und russischen Fahnen. Im Vordergrund steht Alexej Nawalny.
Proteste am Jahrestag der Ermordung von Boris Nemtsov am 27. Februar 2016. Alexej Nawalny macht ein Selfie. © Getty Images

Am 27. Februar 2015 wird der Oppositionspolitiker Boris Nemtsov in Moskau erschossen. In den folgenden Jahren finden immer wieder Proteste an diesem Jahrestag statt und werden zu einem Bezugspunkt für die russische Zivilgesellschaft.

Nemtsov war ein Kritiker der Annexion der Krym und so nehmen die Proteste auch Bezug auf den Ukraine-Krieg und die Demokratiebewegung in der Ukraine. Umso härter geht das Regime Putin vor. Versammlungsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit sind stark eingeschränkt; jegliche Opposition wird immer gewalttätiger unterdrückt.

Wien am 5. Juni 2018: Gazprom-Chef Alexej Miller (2.v.l.)und OMV-Chef Rainer Seele (2.v.r.) umarmen sich und blicken einander in die Augen. Im Hintergrund stehen Wladimir Putin (l.) und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz bei einer Unterzeichnungszeremonie am 5. Juni 2018 in Wien. Putin unternahm seine erste Auslandsreise seit seiner Vereidigung für seine vierte Amtszeit nach Österreich.
Wien am 5. Juni 2018: Gazprom-Chef Alexej Miller (2.v.l.) und OMV-Chef Rainer Seele (2.v.r.) mit Wladimir Putin (l.) und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. © Getty Images

Der 5. Juni 2018 kann symbolisch für die verquere Lage des Westens stehen: An dem Tag verlängern OMV und Gazprom, die Russische Föderation und die Republik Österreich einen Vertrag noch vor seinem Ende und verlängern ihn gleich um 40 Jahre. Der Inhalt: Österreich erhält russisches Gas etwas günstiger, verpflichtet sich aber, das Gas auch dann zu kaufen, wenn es nicht gebraucht wird. Somit kann Putin den Ukraine-Krieg weiterhin mit Öl und Gas finanzieren.

Wolodymyr Selenskyi macht ein Selfie mit einer Gruppe von Menschen, die mit ukrainischen Fahnen winken.
Wolodymyr Selenskyi am 20. Mai 2019 vor seiner Angelobung als neuer Präsident der Ukraine. Er übernimmt den Ukraine-Krieg von 2014. © Getty Images

Die Wahl von Wolodymyr Selenskyi zum Präsidenten der Ukraine 2019 ist eine Zäsur oder ein weiterer Bruch mit der alten politischen Klasse. Selenskyi ist ein Außenseiter, er ist Schauspieler und Comedian, kein Berufspolitiker. Er gewinnt die Wahlen mit 73 Prozent der Stimmen. Obschon er selbst mit Hilfe des Geldes von Ihor Kolomojskyj den Wahlkampf geführt hat, stellt sich Selenskyi gegen das Oligarchensystem und richtet eine Transparenzdatenbank und eine Oligarchen-Datenbank ein, um Korruption bekämpfen zu können.

Angela Merkel hatte Selenskyi bei der Wahl nicht unterstützt. Ihr Kandidat war Petro Poroschenko.

Auch Selenskyi muss sich trotz größter Beliebtheit mit Protesten auseinandersetzen. Die Rote-Linien-Proteste im Winter 2019 mahnen ihn, bei den Normandie-Verhandlungen keinerlei Zugeständnisse an Russland zu machen. Der Ukraine-Krieg im Donbass ist bei seinem Amtsantritt bereits fünf Jahre alt.

Das Forum für Mittelost- und Südost-Europa zählt fünf rote Linien auf: „Keine Kompromisse bezüglich der Föderalisierung der Ukraine und des europäischenKurses, keinerlei Wahlen in den okkupierten Donetsk und Luhansk Gebiete, keine Auflösung der illegalen russischen Truppen, Wiederherstellung des staatlichen Grenzschutzes, keine Kompromisse bei der Rückgabe der Krim und keine Beendigung der internationalen Klagen gegen Russland.“

Im Februar 2022 marschiert Russland in die Ukraine ein. Schulze Wessel stuft den aktuellen Ukraine-Krieg als „Vernichtungskrieg“ ein, da er sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung richtet: Im Juni 2023 sind Städte wie Cherson nach der Sprengung des Kachowka-Damms überflutet. Die Sprengung wird auch als Ökozid eingestuft und als ein Kriegsverbrechen.

Zwei Jungs fahren mit Rollerblades in Awdijiwka in der Ukraine kurz vor Ausbruch des ersten Ukraine-Krieges.
Awdijiwka im Mai 2014. © Getty Images

Die seit Beginn des Ukraine-Krieges 2014 umkämpfte Stadt Awdijiwka muss im Februar 2024 aufgegeben werden. Und während auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw eroberte russische Panzer stehen, fließen 2024 immer noch russisches Öl und Gas nach Europa.

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