Keine Angst vor der Polykrise

Ist die Rede von der „Krise als Chance für Europa“ mehr als Kitsch? Ja, meinen Experten und zeigten bei einer Diskussion in Alpbach die entscheidenden vier Schritte zur Resilienz.

Eine Frau, Natasa Lacen, in schlammverschmierten Gummistiefeln zieht sich mit Unterstützung von Ursula van der Leyen eine Böschung hoch. Schlamm und schlammverschmierte Möbel sind im Hintergrund zu sehen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Europa und Resilienz.
Rna Na Koroskem in Slowenien am 9. August 2023: Ursula van der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, hilft Natasa Lacen, einer Einwohnerin, auf eine Böschung, als sie sich ein Bild vom Ausmaß der Flutkatastrophe macht. Die Schäden werden nach ersten Schätzungen fünf Milliarden Euro übersteigen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Resilienz. Gesellschaften und Staaten können lernen, mit Krisen so umzugehen, dass sie nicht daran zerbrechen, sondern gestärkt daraus hervorgehen.
  • Herausforderungen. Die Gegenwart ist von drei großen Krisen geprägt: Wirtschafts-, Klima- und Demokratiekrise setzen der Welt und Europa zu.
  • Lösungen. Anerkennung der Krisenhaftigkeit, Bewusstsein für die eigene Stärke, mehr Kooperation und Offenheit für ein resilientes Europa.
  • Schubladen auf. Die Dreifach-Krise zeigt, wie abhängig Wirtschaft, Klima und Demokratie voneinander sind, sie kann ein resilientes Europa hervorbringen,

Die Dreifach-Krise oder auch Polykrise, wie der britische Historiker Adam Tooze sie nennt, machte der Pragmaticus schon bei seiner ersten Veranstaltung beim Europäischen Forum Alpbach zum Thema, bei einem mehr als gut besuchten „Brown Bag Lunch“ (was, nebenbei gesprochen, nichts anderes heißt, als dass es nur Häppchen zu Mittag gibt, währenddessen man diskutieren muss).

Die Philosophin Katja Gentinetta, der Demografie-Experte Rainer Münz und die Ökonomin Monika Köppl-Turyna – Experten des Pragmaticus – gingen dabei in medias res und besprachen mit dem Publikum die Frage, ob Europa sich nicht einfach aus den globalen Handelsbeziehungen herauslösen sollte, um die Abhängigkeit von China, Russland & Co. zu beenden. Natürlich, das Fazit sei vorweggenommen, ist das weder wünschenswert noch möglich.

Foto von Andreas Schnauder, Katja Gentinetta und Rainer Münz bei einer Podiumsdikussion über ein resilientes Europa bzw. vorher noch zur Frage, ob Europa die Globalisierung zurückschraben sollte. Katja Gentinetta hält ein Mikrophon in der Hand und spricht gerade.
Andreas Schnauder, Chefredakteur des Pragmaticus mit Katja Gentinetta und Rainer Münz beim Brown Bag Lunch zur Frage „Soll Europa die Globalisierung zurückschrauben?“ Auch Monika Köppl-Turyna, nicht im Bild, beantwortete diese Frage mit einem Nein. © EFA / Andrei Pungovschi

Aber wie kommt man dann aus der Polykrise wieder heraus? Kann man die Krise ins Positive wenden? Ist sie, um es mit den Worten der Lebensberatung zu sagen, eine Chance?

Resilientes Europa

Genau dies diskutierten wir bei einer zweiten Veranstaltung (diesmal gänzlich ohne kulinarische Begleitung) in Alpbach. Rainer Münz und der Komplexitätsforscher Peter Klimek, der an unserem aktuellen Heft über Europa beteiligt ist, komplettierten das Panel mit dem CEO des Center for European Policy Studies, Karel Lannoo und der Brüsselkorrespondentin des ORF, Rafaela Schaidreiter, geleitet von der Moderation durch die Vizerektorin der Medizinischen Universität Wien, Michaela Fritz, die auch Mitglied des Präsidiums des EFA ist.

„Wie lässt sich die Resilienz angesichts von multiplen Krisen stärken?“ lautete konkret die titelgebende Frage. Die Diskussion förderte die vier entscheidenden Schritte für ein resilientes Europa zu Tage.

Schritt 1: Anerkennung

2008 war man überzeugt: Die Lehman Brothers und die Immobilienkredite in den USA sind schuld. Die Krise wird schon wieder vorbeigehen, ohne nennenswert etwas ändern zu müssen (bis auf ein paar Regeln für Banken). Heute zeigt sich: Eine Krise isoliert zu betrachten, unterschlägt, wie sich Krisen in verschiedenen Bereichen wechselseitig bedingen und daher auch verstärken können. Schritt 1 für ein resilientes Europa ist daher: Anerkennen, dass es sich um eine Polykrise handelt.

Beispiel: In der Pandemie, Geburtshelferin der aktuellen Wirtschaftskrise, konnte eine Gesundheitskrise gerade noch abgewendet werden. Die Impfungen waren erfolgreich und retteten Menschenleben. Doch unterdessen kam die Demokratie unter die Räder, man hatte nicht wahrhaben wollen, was sich an tiefem Misstrauen gegenüber (staatlichen) Institutionen bereits angestaut hatte. „Zwischen 20 bis 30 Prozent der Menschen haben wir in der Corona-Pandemie an Verschwörungstheoretiker verloren,“ erklärte Peter Klimek. Die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Pandemie einzudämmen, wurden nicht gut kommuniziert. Heute ist das Vertrauen in demokratische Prozesse, in die Wissenschaft und das Gemeinwesen erodiert. „Der Vertrauensverlust ist kaum mehr rückgängig zu machen“, so Klimek.

Fazit: Probleme lassen sich nur lösen, wenn man anerkennt, dass es sie gibt. Europa kann ein Sensorium entwickeln, um Fehlentwicklungen früher zu einem Thema zu machen und breit zu diskutieren.

Schritt 2: Selbstbewusstsein

Europa ist in komplexe Wirtschaftsbeziehungen eingebunden und auf diese Weise mit der ganzen Welt verbunden. Wenn der Suezkanal blockiert ist, geht in Europa gar nichts mehr; wenn Dürren Ernten vernichten, steigen auch in Europa die Lebensmittelpreise; wenn Putin den Gashahn zudreht, befeuert das die Inflation. Aber Europa ist kein Opfer, es ist stark genug, seine Zukunft zu gestalten. Schritt 2 für ein resilientes Europa ist daher: Sich der eigenen Stärke bewusst werden.

Ein Podium mit einer Frau in weißem Top und roter Hose (Raffaela Schaidreiter), einem Mann mittleren Alters mit blauen Berglaufschuhen und Sakko (Peter Klimek) und ein Mann mit hellblauem Hemd und Brille (Rainer Münz). Hinter den Diskutierenden ist eine Wand auf der European Forum Alpbach 2023 steht.
Bei der Diskussion über Resilienz: Peter Klimek (Mitte) thematisiert die Polykrise als Krise des Vertrauens in die Politik. Die ernste Miene von Raner Münz (rechts) täuscht über seinen grundsätzlichen Optimismus hinweg. Raffaela Schaidreiter machte auf strukturelle Hürden aufmerksam. © EFA / Andrei Pungovschi

Beispiel: In der Pandemie gelang es Europa nicht nur in Rekordzeit gleich drei eigene Impfstoffe zu entwickeln, zuzulassen und zu produzieren, sondern auch durch gemeinsamen EU-Einkauf, die Preise niedrig zu halten. Nachdem im Februar 2022 Russland die Ukraine überfiel, machte die EU sich groß, verhängte Sanktionen gegen Russland und begann sich von russischem Gas und Öl zu entkoppeln – und das obwohl die Abhängigkeit eine beinahe vollständige war. Jetzt braucht man dieses Selbstbewusstsein, denn: „In Sicherheitsfragen zur Verteidigung Europas werden viel zu langsam Entscheidungen getroffen“, so Karel Lannoo vom Center for European Policy Studies (CEPS).

Fazit: Europa ist viel stärker, als es manchmal glaubt. Ein selbstbewusstes Europa wird mit größerer Durchsetzungskraft seine Vorstellungen einer guten Zukunft vertreten.

Schritt 3: Kooperation

Europa bzw. die EU weiß im Prinzip sehr gut, dass nur Vernetzung und Zusammenhalt die Stärken der Staatengemeinschaft sind. Lannoo erinnert an die Bankenkrise 2008 als elf Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts der EU für die Rettung der Banken bereitgestellt wurden. Im politischen Alltag sieht es anders aus. Viele Politikbereiche werden durch Sonder- und Eigeninteressen von Mitgliedsstaaten dominiert, oft kommt es so zu Entscheidungen, die das eigentliche Politikziel verfehlen. Brüsselkorrespondentin Raffaela Schaidreiter benannte ein weiteres Manko: „Viele der krisengebeutelten Bereiche werden ausschließlich auf Länderebene entschieden.“ Schritt 3 für ein resilientes Europa ist daher: Mehr Kooperation.
 
Beispiel: Die Bereiche Gesundheit, Klima, Energie und Sicherheit, so das Panel, benötigen massive Investitionen, die die Möglichkeiten einzelner Mitgliedsstaaten übersteigen. Auch der Bereich Industriepolitik ist ein gemeinsames Thema (und Problem) der EU, es reicht über Fragen des Wettbewerbs, der Ressourcen wie etwa Wasser, den EU-Binnenmarkt und die Arbeitsmarktpolitik in alle Politfelder hinein: „Eine eine neue und eng vernetzte gemeinsame EU-Industriepolitik könnte zukünftige Krise verhindern“, so Lannoo als es in der Diskussion um Batterien, Halbleiter und Elektroautos ging. Über Abhängigkeiten und ihr Potenzial für zukünftige Krisen und Kriege werde noch viel zu wenig diskutiert. „Wichtige Konsumgüter dürften zukünftig nicht mehr nur aus einem einzigen Land kommen“, formulierte Klimek.

Fazit: Mit Zusammenarbeit war die EU schon öfter erfolgreich. Europa könnte lernen, noch mehr Kooperation zuzulassen, um die Wirtschaft nebenbei zu diversifizieren.

Schritt 4: Offenheit

Mehr Demokratie wagen, hatte Willy Brandt bei seinem Antrittsrede 1969 ausgerufen. Dem Panel zur Resilienz schien der Ausruf „Mehr Offenheit wagen“ auf der Zunge zu liegen. Mangelnde Transparenz kann im Ernstfall politische Maßnahmen wieder zu Fall bringen, weil die Bevölkerung sie nicht mittragen kann. Angesichts der Polykrise sind aber weitreichende Transformationen notwendig. Schritt 4 für ein resilientes Europa ist daher: Mehr Offenheit im Denken und Handeln.

Ein Podium mit einem Mann mit weißen Haaren, grünem Polo und ockerfarbener kurzer Hose (Karel Lannoo). Er hat die Hände verschränkt und hört einer Frau mit roten lockigen Haaren und beiger Weste (Thea Goslicki) zu, während eine Frau mit Pagenschnitt und blauem Sakko (Michaela Fritz) sich ihr zuwendet. Im Hintergrund eine Wand mit der Aufschrift Bold Europe und European Forum Alpbach 2023.
Die zweite Hälfte der Diskutierenden: Michaela Fritz und Karel Lannoo wenden sich Thea Goslicki (Mitte) zu, die auf das Ineinandergreifen von Klima- und Demokratiekrise aufmerksam macht. © EFA / Andrei Pungovschi

Beispiel: Insbesondere junge Menschen, so ein Einwurf der Stipendiatin Thea Goslicki, fühlten sich ausgeschlossen von den Entscheidungsfindungsprozessen. Dass zum Beispiel die Sorgen der jungen Menschen angesichts der Klimakrise oftmals als Aktivismus abgetan würden, sei ein Problem für die Demokratie und ihre Widerstandskraft. Dabei kann die EU Transparenz und Offenheit durchaus, wie Rainer Münz erläuterte: „Fünf Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen wurden von Europas Sozialsystemen aufgefangen. Ohne nennenswerte Aufregung.“ Ohne Transparenz hingegen werden nicht Sachfragen diskutiert, sondern Emotionen: „Politische Debatten entzünden sich stets an der kleinen Gruppe von Asylanten, sie machen aber nur fünf Prozent der Migration aus.“

Fazit: Offenheit und Transparenz stehen politischen Entscheidungen nicht im Weg, sondern machen sie robuster. Europa könnte lernen, bei kritischen Themen offener zu sein, um die Demokratie zu stärken. Mit den Worten von Peter Klimek: „Die Leute verstehen, wenn etwas wichtig ist.“

Polykrise? Keine Angst!

Die Rede von der Krise als Chance ist wohl doch viel mehr, als Kitsch. Jedenfalls darf es nicht der Versuch sein, Probleme zu übertünchen. Im Gegenteil, wenn man die Polykrise ernsthaft angehen will, muss man ihre Chancen sehen, um diese auch ergreifen zu können. Pragmaticus-Experte Rainer Münz muss man davon nicht überzeugen: „Krisen waren für Europa immer eine Chance und der Motor für Veränderungen.“

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