Wie abhängig ist Europa?

Europa hat sich bei wichtigen Gütern von ein paar wenigen Lieferanten abhängig gemacht. Die jüngsten Krisen zeigen, dass sich das ändern muss.

Illustration der Weltkugel bei der Europa aus dem Erdball herausragt.
Ein autarkes Europa? Die jüngsten Krisen haben verdeutlicht, wie abhängig wir von Importen sind. © Andreas Leitner
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Auf den Punkt gebracht

  • Ausgeliefert. Abhängigkeit von wenigen Zulieferern hat Europas Verletzlichkeit im Krisenfall deutlich gemacht.
  • Sackgasse. Protektionistische Maßnahmen haben aufgrund hoher Kosten und Wettbewerbsverzerrungen nur begrenztes Potential.
  • Alternative. Eine Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik unter Berücksichtigung sicherheitspolitischer Fragen ist notwendig.
  • Herausforderung. Europa braucht eine Strategie, um die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen, ohne die Vorteile der Globalisierung aufzugeben.

Dank der Globalisierung war es möglich, die Produktion und Güterversorgung weltweit effizient zu organisieren und die Vorteile der Spezialisierung jedes Landes durch internationale Arbeitsteilung optimal zu nutzen. Doch die Pandemie, die russische Invasion in der Ukraine und geopolitische Spannungen setzen internationale Lieferketten unter Druck. Vielen Menschen wurde erst jetzt klar, wie groß die Abhängigkeit Europas von wenigen Zulieferern etwa bei Mikrochips, Rohstoffen, Gas und bestimmten medizinischen Produkten ist.

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Derzeit importiert Europa beispielsweise 65 Prozent der Rohstoffe für die Produktion von Elektromotoren aus China. Bei manchen Rohstoffen erreicht der sogenannte Lieferrisikowert sogar 100 Prozent; die EU ist in diesen Bereichen also vollständig von Importen abhängig. Es handelt sich dabei häufig um industrielle Vorleistungen, die für die Produktion von Schlüsseltechnologien in der EU benötigt werden.

Wir sind erpressbar

Die Abhängigkeit von ein paar wenigen Zulieferern kann ein Land im Krisenfall erpressbar machen und den politischen Aktionsradius einschränken. So hat etwa China in der jüngsten Vergangenheit mehrfach gezeigt, dass es bereit ist, bilaterale Handelsbeziehungen für geopolitische Ziele zu nutzen. Ein Beispiel dafür ist der Boykott Chinas gegen mehrere australische Importgüter, kurz nachdem die australische Regierung eine unabhängige Untersuchung zum Covid-19-Ausbruch in Wuhan eingefordert hatte. Das EU-Land Litauen wiederum wurde aus dem Zollsystem Chinas gestrichen, weil Taiwan in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine diplomatische Vertretung eröffnet hatte. 

Die geopolitischen Spannungen erfordern eine Neujustierung der Außenwirtschaftspolitik, die nicht nur ökonomische, sondern auch sicherheitspolitische Fragen einschließt. Das wird ein Balanceakt: Es ist entscheidend, Abhängigkeiten zu identifizieren und Strategien zur Verkleinerung von globalen Risiken zu entwickeln. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch fragen, welche Kosten mehr Autarkie oder sogar ein vollständiger Verzicht auf die enormen Vorteile internationaler Arbeitsteilung mit sich bringen würde.

Ein Handelskrieg würde zu deutlichen Wohlstandsverlusten innerhalb der EU führen.

Österreich und die EU sind sehr stark in globale Wertschöpfungsketten eingebunden. Laut Daten der OECD werden mehr als 35 Prozent der österreichischen Wertschöpfung exportiert. Für die Industrie in Österreich liegt dieser Wert bei fast 70 Prozent. Auch Importe spielen eine wichtige Rolle für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie. Deshalb steht viel auf dem Spiel, wenn es um eine mögliche Rückabwicklung der Globalisierung geht.

Auch ein Handelskrieg mit China, Russland und anderen autoritären Regimen würde zu deutlichen Wohlstandsverlusten innerhalb der EU führen, wie unsere Analysen zeigen. Zudem ist fraglich, ob ein Rückzug aus internationalen Produktionsnetzwerken oder eine Entkopplung von autoritären Regimen tatsächlich zu einer stabileren Produktion und weniger Verwundbarkeit führen würde. Das Risiko von Störungen in internationalen Lieferketten ginge zwar zurück, jenes im Inland würde bei einer erheblichen Konzentration aber steigen.

Laut Umfragen des ifo Instituts hat bereits die Mehrheit der deutschen Industrieunternehmen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie konkrete Maßnahmen ergriffen, um ihre Beschaffungsstrategien umzustellen. Neben Investitionen in die Lieferkettenüberwachung zählen dazu auch die Diversifizierung von Zulieferern und eine vergrößerte Lagerhaltung. Das Risiko wird von den Unternehmen also bereits berücksichtigt. Allerdings zeigen die Umfragen auch, dass Unternehmen weiterhin auf den internationalen Handel setzen: Selbst Betriebe, die während der Pandemie stark von Materialknappheit betroffen waren, wollen zum größten Teil nicht auf mehr heimische oder regionale Beschaffung setzen. Stattdessen planen sie, ihre Lieferketten in Zukunft stärker global zu diversifizieren. 

Subventionen als De-Risking

Doch nicht nur die Unternehmen sind gefordert, sondern auch die Regierungen. Es stellt sich die Frage, welche Rollen die österreichische und die europäische Außenwirtschaftspolitik übernehmen sollten, um Unternehmen in ihren Bemühungen zu unterstützen und die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen.

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Zahlen & Fakten

Trotz der hohen Kosten haben protektionistische Maßnahmen seit ein paar Jahren Aufwind erhalten: Laut Daten der Non-Profit-Initiative Global Trade Alert ist die Zahl solcher Aktivitäten seit Beginn der Pandemie weltweit um mehr als 35 Prozent gestiegen. Meistens ging es dabei um Exporthilfen und Subventionen. Letztere dienen oft als Anreiz für die Rückverlagerung der Produktion. 

Ein aktuelles Subventionsbeispiel, das für viel Aufruhr sorgte, ist der „Inflation Reduction Act“ der Vereinigten Staaten. Viele in Europa befürchten, dass dieses Programm zur Abwanderung von Industrien in die USA führen könnte und fordern eine Reaktion vonseiten der EU. Man sollte aber nicht verschweigen, dass die EU ganz ähnlich agiert – wie etwa mit den Programmen „NextGeneration EU“ und „Net-Zero Industry Act“. 

Protektionismus als Sackgasse

Es ist natürlich zu begrüßen, wenn über Subventionen die Investitionen in klimafreundliche Cleantech-Industrien erhöht werden sollen. Allerdings kann ein solcher Ansatz auch in eine protektionistische Sackgasse führen: So setzt sich die EU-Kommission beispielsweise das Ziel einer Importquote von maximal 60 Prozent bei bestimmten Klimaschutzgütern. Importquoten stehen allerdings im Widerspruch zu einer offenen Welthandelsordnung. Außerdem können sie zu Wettbewerbsverzerrungen führen.

Importquoten stehen im Widerspruch zu einer offenen Welthandelsordnung.

Gibt es Alternativen zu solchen Förderungen? Die Entscheidung von europäischen Unternehmen, sich in anderen Weltregionen anzusiedeln, ist unter anderem auf die hohe Steuerbelastung und immer stärker werdende Regulierung innerhalb der EU zurückzuführen. Um die Attraktivität der EU als Produktionsstandort zu erhöhen, müsste man also in diesen Bereichen ansetzen. Auch die Vertiefung des EU-Binnenmarkts wäre eine wichtige Stellschraube.

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Conclusio

Europa hat von der globalen wirtschaftlichen Vernetzung stark profitiert. Allerdings haben die Abhängigkeit von wenigen Zulieferern bei Rohstoffen und Produktionsvorleistungen die Verletzlichkeit Europas im Krisenfall offenbart. Eine Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik, die auch sicherheitspolitische Fragen berücksichtigt, ist daher entscheidend. Es wird aber ein Balanceakt sein, Abhängigkeiten zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, die globale Risiken minimieren, ohne Protektionismus zu fördern oder die Vorteile internationaler Arbeitsteilung aufzugeben.

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