Viel Lärm um Schutztruppen in der Ukraine
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von „konkreten Plänen“, europäische Schutztruppen in die Ukraine zu entsenden. Nur: Derartige Missionen müssen von allen Beteiligten gewollt und respektiert werden. Und wieso sollte Russland das tun?

Irgendwann wird Russlands Krieg gegen die Ukraine vorbei sein. Die Frage ist, wie die Welt dann aussieht: Ein Sturz von Selenskyj, russische Besetzung und Unterwerfung, wie von Putin gewünscht? Eine Niederlage Russlands, also ein weitgehender, gar vollständiger Truppenabzug? Oder eine Kompromissformel, mit der beide Seiten, wenngleich schlecht, leben können?
Mehr von Ralph Janik
Mir fehlen die Kompetenzen, die Chancen auf das eine oder andere einzuschätzen. Fest steht, dass es wesentlichen Akteuren an geschichtlichem Wissen zu Kriegen mangelt: US-Vizepräsident JD Vance hat vor kurzem behauptet, dass jeder größere Konflikt seit den beiden Weltkriegen mit Verhandlungen beendet wurde (wie The Independent berichtete).
Kriege enden selten mit Verhandlungen
Das ist natürlich entweder falsch oder, wenn man Vance keine völlige Ignoranz vorwerfen will, eine sehr großzügige Interpretation des Begriffs „Verhandlungen“. Der Vertrag von Versailles wurde ja durchaus verhandelt, monatelang – nur saß das im Ersten Weltkrieg unterlegene Deutschland nicht mit am Tisch, es musste das als „Diktatfrieden“ geschmähte Endergebnis zähneknirschend akzeptieren.
Auch der Zweite Weltkrieg endete offensichtlich nicht mit Verhandlungen, die Wehrmacht kapitulierte am 8. Mai 1945 bekanntlich (sollte man zumindest meinen) bedingungslos: „We, the undersigned, acting by authority of the Gemeran High Commandy, hereby surrender unconditionally…“, wie es im Originaldokument heißt.
Auch spätere Kriege endeten oft genug nicht mit Verhandlungen, sondern weil eine Seite sich durchgesetzt hatte: Der 6-Tage-Krieg 1967 brachte Israel massive Gebietsgewinne auf Kosten Ägyptens, Jordaniens und Syriens, im Falklandkrieg sagte Margaret Thatcher offen, dass die Verhandlungen mit der argentinischen Militärjunta bloßer Selbstzweck waren und nach dem Irakkrieg saß Saddam Hussein nicht auf dem Verhandlungstisch, sondern auf der Anklagebank.
‚Unentschieden' ist besonders anfällig für ein Wiederaufflammen von Konflikten.
Das ist freilich nur ein Ausschnitt aus den letzten Jahrzehnten: Einer anlässlich des russischen Angriffs auf die Ukraine vorgenommenen Analyse aller (63) zwischenstaatlichen Kriege zwischen 1946 und 2005 zufolge endet rund ein Fünftel mit einem „Sieg“, 30 % mit einem Waffenstillstand und nur 16 % mit einem Friedensvertrag (das verbliebene Drittel lässt sich nicht eindeutig kategorisieren). Außerdem gilt es zu bedenken, dass (wie eine andere Untersuchung zeigt) 37 % aller Friedensverträge, die zwischen 1975 und 2018 geschlossen wurden, wieder gebrochen wurden, in den meisten Fällen innerhalb der ersten zwei Jahre. Und „Unentschieden“ sind besonders anfällig für ein Wiederaufflammen von Konflikten.
Vom Hand- zum Faustschlag?
Diese Fragilität sollte (hoffentlich) der Ukraine und ihren Unterstützern bewusst sein, zumal Russlands Angriff auf die Ukraine bereits zwei Mal (nur) scheinbar beendet worden war: Die Minsker Abkommen sind gescheitert, aus heutiger Sicht erscheinen sie wie Zwischenetappen zur russischen Großinvasion.
Wenn ein Waffenstillstand bloß als (russische) Atempause dient, geht die Ukraine auf Raten unter. Dasselbe gilt für den durchaus interessanten Vorschlag, den russischen Landraub als faktische, nicht aber rechtliche Realität „anzuerkennen“: Hinter alledem steht die Hoffnung, dass Putin den Krieg langfristig, also genuin beenden will, ohne die Ukraine zu erobern oder zumindest zu „neutralisieren“. Dafür gibt es durchaus Anzeichen. Wissen kann man es aber nicht. Putin spricht seit Jahren von einer „russischen Welt“, mit der Ukraine als integralem Bestandteil, von der „historischen Einheit“ der slawischen Nationen und von Einflusssphären. Und eben erst gab er im Rahmen des gerade stattfindenden Gipfeltreffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit einmal mehr dem Westen die Schuld am Krieg. Seine heute gereichte Hand kann – wie in der Vergangenheit – morgen zum nächsten Faustschlag werden.
Schutztruppen und -garantien
Daher rührt die Forderung nach echten Schutzgarantien mitsamt der physischen Präsenz europäischer, eventuell auch chinesischer Truppen an der neuen de-facto-Grenze zwischen Russland und der Ukraine. Dafür gibt es historisch durchaus Vorläufer: am Ende der Suezkrise 1956 wurden UNO-Truppen zwischen Israel und Ägypten stationiert (der erste Einsatz dieser Art), ebenso stehen seit Jahrzehnten Blauhelme in Zypern (das de iure ungeteilt und de-facto zu 36 % von der Türkei besetzt wird), im Libanon oder am Golan.
Echter Schutz geht über bloße Beobachtung und sonstige Passivität hinaus.
Selbst wenn Russland einer derartigen Stationierung zustimmt – formal gesehen müsste es das übrigens nicht, die Ukraine darf über ihr Gebiet frei verfügen, was die Präsenz ausländischer Soldaten mit einschließt – muss einem bewusst sein, dass Schutztruppen bereit sein müssen, im Falle eines Angriffs zu kämpfen. Echter Schutz geht über bloße Beobachtung und sonstige Passivität hinaus, eine Lektion, die die Welt beim Versagen der Vereinten Nationen bei den Völkermorden in Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 gelernt hat. Damals waren UNO-Truppen vor Ort, Schutz boten sie aber keinen.
Ob Europa dazu bereit wäre und wie effektiv es dabei wäre, sei dahingestellt. Obendrein bräuchte es die Unterstützung der USA (auf die man sich nicht verlassen kann, aber – bis auf Weiteres– verlassen muss). Gut möglich, dass vom Gerede über Schutztruppen letztlich nicht viel übrig bleibt.