Die Sklaven der Wissenschaft
Die Wissenschaft gleicht einer schwer einnehmbaren Burg. Wer sie erobert, macht sich jahrelang zum Sklaven, um schließlich selbst zum Sklavenhalter zu werden.
Die glanzvolle Wissenschaft mit ihren internationalen Forschungsteams, bahnbrechenden Entdeckungen, medial gefeierten Exzellenz-Clusters an Universitäten und in Forschungszentren – das Märchenschloss der Wissensbegierigen verwandelt sich aus der Nähe in eine uneinnehmbare Burg auf einem intellektuellen Granitsockel, hoch oben ragend über Wissenschaftler in spe. Zu ihr führt ein enger und beschwerlicher Pfad, den junge Menschen nichtsahnend einschlagen, in der Hoffnung, eines Tages aus einem Balkon der höheren Burgetagen herunterwinken zu können.
Wächter dieser Burg sind die Fachzeitschriften. Ein Forschungsresultat existiert nur mit dazugehöriger Publikation. Jede Entdeckung und jeder Fortschritt werden ausschließlich durch Fachartikel anerkannt. Das große Tor zur Wissenschaftsburg, aber auch die kleinste Tür im Inneren, öffnet sich nur mit Publikationen. Das gilt sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Burganwärter. Jeder muss publizieren, um sich sein Fortkommen zu sichern.
Das Tor zur Wissenschaftsburg öffnet sich nur mit Publikationen.
Der Einstieg in den steinigen Pfad hinauf zur Burg erfolgt während des Studiums: Ambitionierte Studenten liefern Bachelor- oder Masterthesen zu Inhalten, die zur Forschung ihrer betreuenden Professoren passen. Die Studenten lernen, die Professoren ernten. Manchmal ist eine Abschlussarbeit so gut, dass eine Fachpublikation daraus entsteht. Geben und Nehmen halten sich (noch) in der Balance. So bekommt der Student seinen Master, der Professor ein paar Punkte für seinen Hirschfaktor.
Die harte Währung
Ja, man sollte wissen, dass die Hartwährung im System „Wissenschaft“ der sogenannte Hirschfaktor ist, auch h-Index genannt. Vom Physiker Jorge Hirsch entwickelt, misst er die Produktivität eines Wissenschaftlers und dessen Einfluss auf die Forschungsgemeinschaft. Der h-Index basiert auf der Anzahl der Publikationen und der Anzahl der Zitate, die diese Publikationen erhalten. Der Forscher XY hat beispielsweise einen Hirschfaktor von 5, wenn er mindestens 5 Publikationen verfasst hat, die jeweils mindestens 5-mal zitiert worden sind.
So muss jeder zukünftige Burgbewohner möglichst viel publizieren und möglichst oft zitiert werden, um die verschiedenen Türen in der Burg zu öffnen. Der h-Index bestimmt den Erfolg bei der Jobbewerbung, das Gehalt und die gewährte Forschungsförderung. Die gesamte Laufbahn eines Wissenschaftlers ist darauf ausgerichtet.
Der Aufstieg beginnt
Jeder, der in die Nähe der Wissenschaftsburg geraten ist, kann den Aufstieg versuchen. Ist der Student besonders engagiert, avanciert er zu einer wissenschaftlichen Hilfskraft. Monatlich 1.300 Euro brutto machen sein Überleben für ein bis zwei Semester, manchmal für die gesamte Dauer des Projekts, möglich. Somit ist der Student Teil des Forschungsteams um einen Professor. Erwähnt wird er in der Publikation nur in der Danksagung, meistens ist er kein Co-Autor, obwohl er zur Entstehung der Publikation beigetragen hat.
Deutsche Forschungszentren arbeiten auch mit Praktikanten: Sie programmieren die Software, führen Experimente durch, erheben und speichern Daten, manchmal werten sie diese aus, suchen Literatur, und so weiter. Sie sind in der Regel ein Semester lang so viele Wochenstunden im Einsatz, wie ihre Betreuer wünschen. Dafür werden sie nicht bezahlt, manchmal aber mit der Möglichkeit belohnt, bei ihrem Betreuer die Masterarbeit zu schreiben.
Mutige Enthusiasten mit einem eigenen Forschungsthema finden schwer einen Betreuer. Und wenn doch, bekommen sie für ihre Arbeit oft kein Geld
Dank ihres Masterabschlusses haben Doktoranden bereits einen Fuß in der Tür in einer der unteren Burgetagen. Sie streben nach oben, nach dem Doktortitel. Mutige Enthusiasten mit einem eigenen Forschungsthema finden allerdings schwer einen Betreuer. Und finden sie doch einen, bekommen sie für ihre Arbeit oft kein Geld. So ist das Fortschreiten auf dem wissenschaftlichen Weg für sie alles andere als sicher. Und da eine Dissertation Jahre in Anspruch nimmt, muss die Einkommensquelle außerhalb der Wissenschaft liegen.
Die Doktorarbeit
Bezahlte Doktoranden forschen an einer Frage, die von ihrem Doktorvater stammt oder mit dessen wissenschaftlichen Interessen zu tun hat. Sie arbeiten ihm zu. Bezahlt werden sie für dreißig Wochenstunden, selbst wenn sie vierzig oder mehr im Einsatz sind. Ihr Vertrag beschränkt sich heutzutage auf zweieinhalb bis drei Jahre mit erschwerten Möglichkeiten der Verlängerung.
Monatlich bekommt ein Doktorand zwischen zwei- und dreitausend Euro brutto, je nach Universität, Fachbereich und Finanzierungsquelle. In den meisten Fällen befindet er sich in einem Wettlauf mit der Zeit: Er muss den Job lernen, ihn erledigen und die Resultate publizieren. Schafft der Doktorand die geplanten Publikationen nicht, ist sein Weg nach oben möglicherweise für immer kompromittiert. Erledigt er sein Publikationspensum, erntet er gemeinsam mit seinem Vorgesetzten h-Index-Punkte. Das Sammeln beginnt, und die erste Tür der Wissenschaftsburg öffnet sich.
Die nächsten Sprossen der Leiter
Die nächste Laufbahnetage, ein Post-Doc Job, liegt nicht an jeder Ecke herum. Oft muss der Post-Doktorand seinen Arbeitgeber, das Land und nicht selten sogar den Kontinent wechseln. Er geht dorthin, wo er sein Vorwissen einsetzen kann, und wo Forschungsgelder vorhanden sind. Dann wohnt er in einem fremden Land, lebt weit entfernt von seiner Ursprungsfamilie, oft ohne feste Partnerschaft, mietet eine möblierte Wohnung und ist zeitlich begrenzt angestellt. Er kann kaum seine Zukunft vorausplanen, denn nach vier, fünf Jahren wird er seinen Arbeitgeber verlassen (müssen).
In diesem System ist man Ausbeuter oder Ausgebeuteter.
Sieht der Vorgesetzte nach Ablauf des Arbeitsvertrags die Möglichkeit, weitere Publikationen zu „landen“ (Fachjargon), gewährt er seinem Mitarbeiter die Möglichkeit, selbst einen Forschungsantrag zu schreiben. Er beginnt zu hoffen, dass die Förderagentur sein Arbeitsthema für förderwürdig hält. Der Chef, der ihn räumlich unterbringt, erscheint als Co-Autor auf den Publikationen des Post-Doktoranden. That´s the deal!
Vom Sklaven zum Sklavenhalter
Einmal niedergelassen, beginnt Letzterer mit seinem Forschungsgeld wiederum Doktoranden, Diplomanden und Praktikanten für sein Thema möglichst kostenneutral zu gewinnen bzw. sie kostenschonend einzustellen. Er versucht mit seiner Arbeit und der anderer, die nächsten Sprossen auf der Hühnerleiter des Wissenschaftsbetriebs zu erklimmen. Er wird zum kleinen Chef unter einem höheren Chef. Jetzt kann auch er jene, die in der Verdienstskala unter ihm stehen, systemberechtigt ausbeuten, so, wie es ihm die Jahre davor widerfahren ist.
Ein Post-Doc Zyklus, ob im Angestelltenverhältnis oder als PI (principal investigator, Forschungsverantwortlicher mit eigenem Geld) dauert drei bis vier Jahre. Danach muss sich der Post-Doc um einen Verlängerungsantrag oder um einen neuen Vorgesetzten bemühen und damit die Forschungsstätte wechseln. Beide Möglichkeiten hängen mit der vorzuweisenden Anzahl der Publikationen zusammen.
Das Publikations-Business
Mit zirka dreißig Jahren hat der Post-Doc karrieremäßig nicht viel erreicht. Aber mit viel Fleiß und der Fähigkeit zu netzwerken, geht da und dort ein Türchen auf, eine Kooperation zum Nulltarif ergibt sich. Vielleicht ergattert er die (unbezahlte) Aufgabe als Herausgeber einer Fachzeitschrift.
Ist er Herausgeber, genießt er Ansehen in der Community und hält einen kleinen Hebel der Macht in der Hand. Er liest als erster die eingereichten Fachartikel, sendet sie zur Begutachtung weiter und trifft danach die Entscheidung, ob sie veröffentlicht werden oder nicht. All das leistet der Herausgeber gratis. Auch die Kollegen, die er beauftragt, bekommen für die Gutachten kein Geld. Es sind manchmal zwei bis drei volle Arbeitstage pro Fachartikel, die sie aus ihrem Zeitkontingent unbezahlt – nur weil gefragt – zur Verfügung stellen. Die Autoren, also jene, die den Fachartikel für ihren h-Index brauchen, bekommen auch nichts. Ganz im Gegenteil, sie müssen dafür, je nach Fachzeitschrift, Publikationsgebühren bezahlen, zwei- bis dreitausend, manchmal auch fünftausend Euro.
Oben angekommen, winkt der Professor hinunter zum Volk der Sklaven, dem er selbst bis vor nicht allzu langer Zeit angehört hatte.
Nun stellt sich die Frage: Wenn alle umsonst arbeiten, wie kann die Fachzeitschrift für das Online-Stellen des Artikels so viel Geld verlangen? Hier geht es nicht um Fairness: Die Fachzeitschrift und ihr Verlag im Hintergrund bereichern sich auf Kosten der wissenschaftlichen Community. Regelmäßig tauchen die Familienmitglieder der großen Verlagsdynastien in der Regenbogenpresse auf, wenn sie ihre Yachten an der Côte d´Azur anlegen oder ihren Privatjets entsteigen, die wir, die Sklaven der Wissenschaft, mitfinanziert haben. In diesem System ist man Ausbeuter oder Ausgebeuteter.
Oben angekommen
Nach vielen Wanderjahren, gezeichnet vom immerwährenden Publikationsstress und den Umzügen rund um den Globus, schafft ein kleiner Prozentsatz der ahnungslosen Wissenschaftsbegeisterten, die sich zehn, fünfzehn Jahre zuvor dem Granitsockel der Burg genähert und sich noch nicht alle Zähne ausgebissen haben, Professor zu werden: Assistenzprofessor mit befristetem Vertrag. Dann, wenn genug Publikationen vorhanden sind, steht der assoziierten Professur nichts mehr im Wege. Der Vertrag wird entfristet, der Professor darf an der Universität bleiben. Amen.
Und wenn dann endlich eine der, in ihrer Zahl schwindenden, Lehrstuhl-Stellen frei wird, vielleicht an einer anderen Forschungsstätte, kann der Professor sie nachbesetzen. Er hat es geschafft. Endlich öffnet sich die letzte Tür im obersten Stock der Wissenschaftsburg und er winkt hinunter zum Volk der Sklaven, dem er selbst bis vor nicht allzu langer Zeit angehört hatte.
In seiner Siegerpose spürt der Lehrstuhl aber bereits den eisigen Hauch des Systems „Wissenschaft“ im Nacken: Pro Jahr muss er möglichst viele Publikationen liefern. Tausende von Euro sind notwendig, um seine Forschung in Gang zu halten. Er muss Förderanträge schreiben, seine Praktikanten und nichtsahnenden Masterstudenten zum Nulltarif zur Arbeit animieren, seinen Doktoranden und Post-Docs möglichst wenig bezahlen. Dem Lehrstuhl bleibt nichts anderes übrig, nun als ständiger Bewohner der Wissenschaftsburg, das System der Ausbeutung ad perpetuum zu führen.
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