Im Auftrag Allahs
Während viele Muslime den Islam als Religion des Friedens bezeichnen, morden andere im Namen ihres Glaubens. Gibt es den „wahren Islam“?
Auf den Punkt gebracht
- Islam. Mohammed berief sich auf eine direkte göttliche Offenbarung, die ihn zum Gesandten Gottes auf Erden machte, der die Welt nach dessen Willen gestalten sollte.
- Spaltung. Der Erbfolgestreit nach Mohammeds Tod führte zur Spaltung in Sunniten und Schiiten und einem Konflikt, der seither blutig ausgetragen wird.
- Auslegung. Das Fehlen einer zentralen theologischen Autorität analog zum Papst in der katholischen Kirche erklärt die extreme Bandbreite der Religion.
- Theologie. Die islamische Theologie ist auch eine politische, die als früheres Herrschaftsinstrument der machthabenden Kalifen den Islam bis heute prägt.
Für das Verständnis der Konflikte innerhalb der islamischen Welt bedarf es eines Blicks in die Geschichte der Religion. Bereits Ende des 6. Jahrhunderts war Mekka eine religiös und wirtschaftlich bedeutende Stadt und das Handelszentrum der Region. Vor der Entstehung des Islam waren die dort lebenden Beduinen tribal organisiert. Ihre Lebensweise war durch Stammeszugehörigkeit geprägt. Oft beschränkten sich die Religionen der arabischen Stämme auf die Verehrung von Steinen, Dämonen und Naturgöttern. Christliche Gruppen spielten keine besondere Rolle, rund um Mekka und Medina lebten jüdische Stämme.
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Mit der Gründung des Islam durch Mohammed wurden diese gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Frage gestellt. Die Spannung zwischen Mohammed und den Mekkanern war daher nicht nur ein Konflikt um die Herrschaft einer neuen Religion, sondern auch ein Kampf um die Neuordnung der politischen Verhältnisse unter den neuen religiösen Ansprüchen.
In Medina konnte Mohammed, auch mit militärischen Mitteln, eine Gesellschaft nach dem Willen Gottes gestalten. Mohammed begründete seine Haltung mit göttlicher Offenbarung; Gott habe ihm diesen Auftrag erteilt. Damit machte er sich zum Gesandten Gottes auf Erden, der die Welt nach dessen Willen gestalten sollte. Allerdings gelang es ihm nicht, die Mekkaner von seiner Rolle als Prophet zu überzeugen. Also wanderte Mohammed im Jahr 622 nach Medina aus (mit dieser „Hidschra“, dt. Auswanderung, beginnt die islamische Zeitrechnung). Dort konnte er, auch mit militärischen Mitteln, eine Gesellschaft nach seinen Vorstellungen gestalten – oder, islamisch formuliert, nach dem Willen Gottes.
In Medina wurde Mohammed von einer anderen monotheistischen Religion nicht nur politisch, sondern auch theologisch herausgefordert – den jüdischen Gemeinden. In den ersten Jahren beteten die Muslime in Richtung Jerusalem und islamisierten verschiedene jüdische Traditionen. Vom Islam überzeugen oder gar zu einem Übertritt bewegen konnten solche Zugeständnisse die Juden freilich nicht. Dieser Konflikt war einer der Gründe für die spätere Vertreibung der Juden aus der Region.
Die Nachfolger Mohammeds
Der Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 stürzte die junge muslimische Gemeinschaft in eine Krise, die das Fundament für die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten legte – bis heute. Da Mohammed kein Testament hinterlassen hatte, war die Führung der Gemeinde nach seinem Tod eine Aufgabe der „Gefährten des Propheten“, seiner engsten Vertrauten und Schüler. Doch diese begannen noch vor seinem Begräbnis, um die Vorherrschaft zu streiten.
Die eigenmächtige Ernennung von Abū Bakr zum Kalifen, dem „Stellvertreter des Gesandten Gottes“, löste heftige Kontroversen aus, da diese Ernennung nach Ansicht einiger Beteiligter nicht auf der Grundlage des Koran erfolgte. Aus der Gruppierung rund um Abū Bakr entwickelten sich in der Folge die Sunniten. Jene Gruppe, welche die Nachfolge als Erbrecht von Mohammeds Vetter und Schwiegersohn, Ali ibn Abi Talib, sah, bildete die Basis für die Schiiten. Diese Spaltung der muslimischen Gemeinschaft wirkt bis heute nach.
Heftige Nachfolgekämpfe
Die Ära der ersten vier Nachfolger des Propheten, der „rechtgeleiteten Kalifen“ (632–661), war keine Zeit des Friedens, sondern vielmehr eine der Gewalt und Unruhe. So wurden die letzten drei der vier Kalifen Opfer von gewaltsamen innerislamischen Auseinandersetzungen. Dass diese Ära dennoch als „Zeit der Glückseligkeit“ bezeichnet wird, dient nur der Verklärung.
Diese sunnitische Interpretation der islamischen Geschichte ist ein politisch-theologisches Konstrukt, um das Kalifat gegen die antisunnitische Opposition zu verteidigen. Die Auseinandersetzung wird bis heute gewaltsam ausgetragen. Sei es im irakischen Bürgerkrieg von 2005 bis 2007 zwischen Schiiten und Sunniten oder den Kämpfen der sunnitisch-salafistischen al-Qaida (später des IS) mit der schiitischen Hisbollah. Die meisten Opfer muslimischer Gewalt sind Muslime.
Die Schiiten interpretieren die islamische Geschichte ganz anders als die Sunniten. Nach schiitischer Auffassung hat Mohammed seinem Vetter und Schwiegersohn Ali die Führungsrolle vermacht, die Sunniten haben ihn jedoch unter Androhung von Gewalt seiner Rechte beraubt.
Seither betrachten sich Schiiten als Opfer der Sunniten. Sie entwickelten eine Theologie, nach der die Herrschaft der Schiiten verwirklicht wird, wenn der Mahdi (wörtlich: der Rechtgeleitete) als Herrscher auf die Erde zurückkehrt – gleichsam als eine Art Messias – und mit Gerechtigkeit regiert. Oder anders formuliert: Gerechtigkeit gibt es erst, wenn der Mahdi den Schiiten ihre Rechte zurückgibt.
Auf die Frage, wie lange die Schiiten darauf warten sollten, hat erst Ruhollah Chomeini eine Antwort gegeben. Der ehemalige oberste Führer des Iran lenkte die schiitische Leidensgeschichte in eine politische Richtung: Die Schiiten mussten nicht länger auf den Mahdi warten, sondern übertrugen dessen Rechte auf Gelehrte, die Imame. Damit wurde aus der Messias-Theorie eine politische Ideologie, die den Beginn des Streits zwischen den sunnitischen Golfstaaten und dem schiitischen Iran markierte.
Zahlen & Fakten
Eine Religion, zwei Glaubensrichtungen
Das Regelwerk. Ihr Bekenntnis zu Allah und Mohammed haben Sunniten und Schiiten gemein. Doch darüber hinaus gibt es massive Unterschiede zwischen den beiden Glaubensrichtungen.
Sunniten
Mit 85 bis 90 Prozent bilden die Sunniten die Mehrheit aller Muslime. Beide Zweige des Islam basieren
auf der Lehre des Koran. Die zweitwichtigste Quelle ist der „Hadith“, die Richtschnur muslimischer Lebensweise, die auf überlieferten Aussprüchen, Verhaltens- und Handlungsweisen des Propheten Mohammeds basiert. Im sunnitischen Islam sind Imame Vorbeter in der Moschee oder Gelehrte des Islam. Damit spielen Imame in der Sunna eine unwichtigere Rolle als in der Schia, wo die Worte der Imame als Hadith und somit als Gesetz gelten.
Schiiten
Für Schiiten sind die Imame die Vertreter des Propheten auf Erden. Daher führt ihre Pilgerreise an den Gräbern von elf der zwölf Imame, die als Heilige gelten, vorbei. Der zwölfte Imam, der Mahdi, soll am Ende der Zeiten zurückkehren, um die Mission des Propheten zu vollenden. Innerhalb der Schia gibt es verschiedene Richtungen, die sich vor allem durch die Zahl der anerkannten Imame unterscheiden.
Schiiten beten dreimal täglich, und die Grundpfeiler des Glaubens sind zahlreicher als im sunnitischen Islam. Fünf Säulen haben beide Glaubensrichtungen gemeinsam: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten, die Almosensteuer und die Pilgerreise. Von den zehn zusätzlichen Säulen der Schiiten sind einige problematisch:
- der Dschihad
- das Gute befehlen
- das Böse bekämpfen
- sich mit den Freunden Allahs,
- des Propheten und der Familien des Propheten anzufreunden und sie lieben
- mit den Feinden Allahs, des Propheten und der Familie des Propheten verfeindet zu sein und sie nicht zu lieben
Mit diesen theologischen Argumenten lassen sich bestimmte Staaten oder Personen zu Feinden Gottes erklären, bzw. lässt sich deren Bekämpfung als Glaubensgrundlage definieren.
Den Koran interpretieren
Jenseits ihrer theologischen und kulturellen Unterschiede akzeptieren jedoch alle Muslime die Bedeutung des Koran: Er gilt als das Wort Gottes, das dem Propheten Mohammed in arabischer Sprache über den Zeitraum von 23 Jahren offenbart wurde.
Wie lautet das Wort Gottes? Das ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Die 114 Suren des Koran können unendlich interpretiert werden.
Allerdings lässt sich die Frage, was genau das Wort Gottes sei, nicht ohne weiteres beantworten. Im Koran findet sich die einfache Formulierung, dass die Worte Gottes unendlich und unerschöpflich seien. Diese Unerschöpflichkeit bedeutet aber auch, dass die 114 Suren des Koran unendlich interpretiert werden können. Auch wenn die Muslime selbst den Koran als Quelle ihrer Religion bezeichnen, weist die religiöse Praxis nicht immer einen sichtbaren Bezug zum Koran auf.
Im Alltag der Muslime spielt die theologische Autorität eine größere Rolle als der Koran selbst. Die Grundlage für die religiöse Praxis und das religiöse Verständnis der Muslime bilden die Rechts- und Denkschulen, in denen Rechtsgelehrte den Koran nach eigener Denkweise ausgelegt und als Religion verbreitet haben. Die Vielfalt der religiösen Praxis unter den Muslimen, die von Liberalität bis zum Terror reicht, ist ein Resultat dieser unterschiedlichen Interpretationen.
Die islamische Gesellschaft
Im Koran finden sich nicht selten Aussagen wie „O Mohammed, sie fragen dich“ oder „Sie haben dich gefragt“. Nach islamisch-theologischem Verständnis war Mohammed der Sprecher Gottes, der Fragen der Menschen aus deren Alltag beantwortete. Nach dem Ende der Offenbarung mit dem Ableben Mohammeds reichten diese Antworten nicht mehr aus, weil sich die Lebenswirklichkeit veränderte. So entstand die islamische Theologie, die die Worte Gottes an neue Lebenssituationen anpasste.
Bis heute herrschen die Rechtsgelehrten als religiöse Autoritäten, die im Namen Gottes ihre Fatwas (Rechtssprüche) aussprechen. Die Herrscher, die nach dem Tode des Propheten teilweise seine Rolle übernahmen, regierten auch im Namen Gottes und interpretierten den Text in ihrem Sinne, sodass heute eine Trennung von theologischen Positionen und Quellentexten gar nicht mehr möglich ist. Damit ist islamische Theologie auch politische Theologie; sie fungierte als Herrschaftsinstrument der machthabenden Kalifen und prägt die islamische Theologie bis heute.
Diese politische Theologie bildet nach wie vor die Grundlage der Lehre an islamischen Universitäten und in Staaten, die sich als islamisch bezeichnen. Die Fatwas und religiösen Auslegungen der Kalifen dürfen nicht in Frage gestellt werden. Abweichende theologische Interpretationen werden in der klassischen Lehre als unerwünschte Erneuerung bekämpft. Auch zahlreiche theologische Schulen in Europa verurteilen europäisch orientierte Interpretationen des Islam als Verrat an der Religion.
Ein islamischer Staat
Auf die Frage, was einen Staat islamisch oder unislamisch macht, gibt es in der muslimischen Welt keine eindeutige Antwort. Für Salafisten, die den Koran als buchstäbliche Grundlage betrachten, ist eine Gesellschaft islamisch, wenn sie in allen Bereichen nach dem Koran und der Tradition des Propheten geführt wird. Liberale Muslime würden dagegen sagen, dass der Islam keine Staatsform vorgibt, sondern nur bestimmte ethische Grundlagen für die Gesellschaft.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass in den islamischen Ländern Muslime, die einen islamischen Staat nicht als Teil der islamischen Tradition betrachten, kaum Gehör finden. Auch in Europa ist die Situation eindeutig: Kaum eine islamische Organisation bezeichnet die Gründung eines islamischen Staates als unislamisch. Sie würden zwar sagen, dass man einen solchen in Europa nicht brauche, weil die Muslime ohnehin die Minderheit bilden, oder dass es unklug wäre, daran zu arbeiten. Aber sie lehnen ihn weder theologisch noch historisch grundsätzlich ab.
In den letzten hundert Jahren ist in der islamischen Welt eine Debatte über die Hintergründe des muslimischen Niedergangs angesichts der westlichen Überlegenheit entstanden. Ein Teil der islamischen Intellektuellen führt den Niedergang auf die wissenschaftliche Rückständigkeit der Muslime zurück. Der überwiegende Teil jedoch macht die Islamisten selbst dafür verantwortlich, die die „unislamische“ Ordnung durch einen islamischen Staat überwinden wollen.
Conclusio
Islam. Die Gründung des Islam ordnete die politischen Verhältnisse neu. Bald nach Mohammeds Tod spaltete sich die islamische Gemeinschaft über der Frage der Nachfolge des Propheten in sunnitische und schiitische Gruppen.
Koran. Nach islamischem Verständnis ist der Koran das Wort Gottes, das dem Propheten Mohammed offenbart wurde. Allerdings kann er unendlich interpretiert werden, was die islamische Bandbreite von Liberalität bis Terror erklärt.
Theologie. Herrschende Lehre an islamischen Universitäten und Fundament der Herrschaft in islamischen Staaten ist eine politische Theologie. Europäisch orientierte Interpretationen des Islam werden weithin als Verrat angesehen.