Wurde Russland provoziert?

Mit der Ausdehnung der NATO vor 25 Jahren rechtfertigt Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine. Ein Blick in die Geschichte zeigt die wahren Motive des russischen Machthabers.

Bill Clinton und Boris Jelzin prosten sich zu.
im Jänner 1994. Im Facettenpalast des Kreml ­besprachen der amerikanische und der russische Präsident Sicherheits­garantien für die Ukraine. Fresken im Hintergrund zeigen Szenen aus der russischen (Kirchen-)Geschichte. Das Bild illustriert einen Beitrag über die Nato-Osterweiterung.
Bill Clinton und Boris Jelzin im Jänner 1994. Im Facettenpalast des Kreml ­besprachen der amerikanische und der russische Präsident Sicherheits­garantien für die Ukraine. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Vor 25-Jahren. Der Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1999 veränderte die europäische Sicherheitsstruktur grundlegend.
  • Vorwand. Putin sieht in der NATO-Osterweiterung eine Rechtfertigung für den Angriff auf die Ukraine und spricht von gebrochenen Versprechen.
  • Widerspruch. Die Behauptung passt nicht zu historischen Belegen wie der NATO-Russland-Grundakte, die das Recht auf Bündnisfreiheit bekräftigte.
  • Kehrtwende. Trotz anfänglicher Akzeptanz der Erweiterung hat sich Putin von der Kooperation abgewendet, was zur Eskalation führte.

A m 12. März 2024 jährt sich zum 25. Mal der Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO. 2004 folgten die baltischen Staaten, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Damit war die NATO-Osterweiterung beendet. Seinen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begründete Putin unter anderem mit dieser Osterweiterung, mit der angeblich aggressiven Ausweitung des NATO-Einflussbereichs und der unziemlichen Beschneidung der russischen Einflusszone.

Die vermeintlich bevorstehende Mitgliedschaft der Ukraine im westlichen Militärbündnis würde das Herz Russlands treffen. Das russische Interesse sei durch die Geschichte gerechtfertigt und müsse vom Westen akzeptiert werden, verlautbart der Kreml. Auch im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung wird immer wieder auf angebliche Zusagen gegenüber Moskau verwiesen, dass die NATO nicht gen Osten erweitert werde. 

Putins falsche Legende

Der 25. Jahrestag der ersten Osterweiterung bietet eine gute Gelegenheit zur Richtigstellung dieser von Moskau gestrickten Legende, der viele in Europa und darüber hinaus aufgesessen sind. Das am leichtesten zu widerlegende Argument ist das der gegenüber Moskau angeblich gemachten Zusage: Als im Jahre 1990 der Zwei-plus-Vier-Vertrag ausgehandelt wurde, existierte der Warschauer Pakt noch. Das Thema Osterweiterung der NATO war also nicht Gegenstand der Verhandlungen. Es ging lediglich um Deutschland.

Zwar gab es theoretische Überlegungen des deutschen Außenministers Genscher und einiger anderer Politiker, eine Ausdehnung der NATO nach Osten auszuschließen, aber US-Präsident George H. W. Bush und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl waren strikt dagegen. In den Verträgen rund um die Wiedervereinigung war keine Rede davon. Ziel der deutschen, europäischen und amerikanischen Politik war lediglich, von der konfrontativen zu einer kooperativen Politik gegenüber Russland zu gelangen. Anfangs war auch Russland bereit dazu. 

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Zahlen & Fakten

So wurde 1991 der transatlantische Kooperationsrat zwischen den NATO-, den ehemaligen Warschauer-Pakt- und den GUS-Staaten gegründet. Den Willen zur Kooperation unterstrich die NATO auch mit der NATO-Russland-Grundakte, in der 1997 die gegenseitige Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit, territorialen Integrität sowie die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht (und damit das Recht, einem Bündnis beizutreten) ausdrücklich festgehalten wurden.

Keine Sorge wegen NATO-Osterweiterung

Nach dem gegenüber einer Kooperation aufgeschlossenen Präsidenten Boris Jelzin behielt auch sein Nachfolger Wladimir Putin zunächst dessen Kurs bei. Drei Tage nach der letzten Osterweiterung der NATO im Jahr 2004 lobte er am 2. April bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass sich die Beziehungen Russlands zur NATO „positiv entwickeln“. 

Und Putin fuhr fort: „Hinsichtlich der NATO-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“ Als der NATO-Generalsekretär wenig später nach Moskau kam, sagte Putin, jedes Land habe „das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen“. Kein Wort von gebrochenen Versprechen oder einer Gefährdung Russlands. Wenn heute also oft darauf hingewiesen wird, dass Putin von Anfang an eine revisionistische Politik verfolgt habe, entspricht das nicht den Fakten.

Das Gleiche gilt für den Versuch, der NATO wegen ihrer Osterweiterung die Schuld für den Bruch der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in die Schuhe zu schieben. Eine erste Zäsur erfolgte 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, als Putin einen völlig neuen, aggressiven Ton anschlug und dem Westen und der NATO eine rücksichtslose Haltung und das Ignorieren russischer Interessen vorwarf. Über den Sinneswandel Putins kann nur spekuliert werden. Ich vermute als Ursache vor allem die Orange Revolution in der Ukraine (Ende 2004), aber auch die Entwicklung in Georgien nach der dortigen Rosenrevolution (2003). 

Demokratisierung als Gefahr

Putin mag Angst bekommen haben, dass die Demokratisierung dieser beiden Russland am nächsten liegenden Länder auch einen entsprechenden Wandel in seinem eigenen Land befördern könnte. Nach den aus seiner Sicht für Russland sehr negativen Folgen der Gorbatschow’schen Öffnungspolitik sah er sich in der Pflicht, einen erneuten Kurswechsel in Richtung Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaat zu verhindern und von der bisherigen Kooperation mit der NATO und dem Westen abzulassen. 

Vor diesem Hintergrund fand 2008 in Bukarest ein NATO-Gipfel statt, auf dessen Tagesordnung die Erweiterung der NATO um die Ukraine und Georgien stand. US-Präsident George W. Bush drängte massiv darauf. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, unterstützt vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, widersetzte sich erfolgreich. Georgien und Ukraine erhielten zwar eine grundsätzliche Beitrittszusage, aber nicht die Aufnahme in den „Membership Action Plan“, der Vorstufe zur Mitgliedschaft.

Mit seinem Überfall auf die Ukraine erreichte Putin genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte.

Nach dem Gipfel erläuterte Merkel Putin die Haltung Deutschlands: Sie sehe auch in absehbarer Zukunft keine Aufnahme der beiden Länder in die NATO, weil diese aus verschiedenen Gründen keinen Beitrag zur Sicherheit des Bündnisses leisten würden (Aufnahmevoraussetzung gemäß Art. 10 des NATO-Vertrags). Deutschland werde hier konsequent bleiben. 

Wider besseres Wissen verwendete Putin ab diesem Zeitpunkt immer wieder einen bevorstehenden NATO-Beitritt vor allem der Ukraine als Argument für seine aggressive Haltung gegenüber dem Land und seiner fortgesetzten Konfrontationspolitik gegenüber der NATO. Ironie des Schicksals: Mit seinem Überfall auf die Ukraine erreichte Putin genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. Jetzt steht tatsächlich eine NATO-Mitgliedschaft beziehungsweise die Gewährung von Sicherheitsgarantien an die Ukraine auf der Tagesordnung. Und als Nebenwirkung seiner Politik musste Putin mitansehen, wie mit Finnland und Schweden zwei von Russlands Nachbarstaaten, die dies bis dahin kategorisch ausgeschlossen hatten, Mitglied der Militärallianz wurden. 

Patriotismus und Nationalismus

Was ist also falsch gelaufen? Während die russische Propaganda der NATO die Schuld für die Spannungen gibt, weisen die Fakten in eine andere Richtung. Russland ist allein für die neuerliche Konfrontation verantwortlich. Anstatt die Kooperationsangebote anzunehmen und den nach dem Ende des Kalten Krieges von den meisten europäischen Staaten eingeschlagenen Weg der Abrüstung und der drastischen Senkung der Verteidigungsausgaben mitzugehen, hat Russland systematisch aufgerüstet und ist auf Gegenkurs gegangen. Der Grund für diesen Kurswechsel ist einfach: Machterhalt. 

Nach den Revolutionen in der Ukraine und Georgien und angesichts der „Arabellion“ in arabischen Ländern, die parallel zu seiner zweiten Machtergreifung nach dem Ende des Medwedew-Intermezzos 2011 verlief, bekam es Putin mit der Angst zu tun. Die leichte Liberalisierung unter dem heute zum Lautsprecher Putins degradierten Medwedew hatte viele urbane Russen motiviert, gegen die erneute Amtsübernahme Putins zu demonstrieren. Seine Umfragewerte waren im Keller.

Für mich besteht kein Zweifel, dass Putin, wenn ihm nicht in der Ukraine Einhalt geboten wird, weitere Staaten angreift.

Aus dieser misslichen Situation befreite er sich mit den „bewährten“ Instrumenten von Diktatoren: dem Patriotismus und dem Nationalismus. Die Propagandamaschine des Kreml wurde angeworfen und gehört heute zu den professionellsten der Welt. Nach dem Ende der Olympischen Spiele in Sotschi 2014 überfiel Russland die Ukraine, besetzte einen Teil des Landes und annektierte die Krim. Putin rehabilitierte Stalin und versuchte seine aggressive Politik als Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges darzustellen. 

Außenminister Sergej Lawrow verzieht keine Miene, wenn er etwa im UN-Sicherheitsrat den russischen Angriffskrieg als Verteidigung gegenüber einer vom Westen unterstützten Aggression darstellt.

Sprache der Stärke

Hatte das Minsker Abkommen, das 2015 für einen Waffenstillstand gesorgt und die Perspektive einer politischen Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts eröffnet hatte, für einige Jahre Hoffnung gegeben, dass es noch zu einer friedlichen Koexistenz in Europa kommen könnte, brach Wladimir Putin mit seinem brutalen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 alle Brücken zwischen Russland und dem Westen ab. Er ist heute ein Paria, dem auf allen Kontinenten die Verhaftung als mutmaßlicher Kriegsverbrecher und die Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof droht.

Zum Machterhalt setzt Putin weiter auf Patriotismus und Nationalismus. Nach seinen entsprechenden Ankündigungen besteht für mich kein Zweifel, dass er, wenn ihm nicht in der Ukraine Einhalt geboten wird, weitere Staaten angreifen würde, die in ihrer Geschichte einmal Teil des russisch-zaristischen Imperiums waren. Es kann noch einmal falsch laufen, wenn die NATO-Staaten ihm nicht Einhalt gebieten. Russland unter Putin versteht leider nur die Sprache der Stärke.

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Conclusio

Der Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO vor 25 Jahren markierte eine Wende in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Russlands Präsident Putin rechtfertigt seinen Angriff auf die Ukraine 2022 mit dieser Osterweiterung. Er behauptet, der Westen habe Versprechen gebrochen, und sieht darin eine Bedrohung. Dieses Narrativ widerspricht jedoch den historischen Fakten. Versprechen gab es keine, vielmehr bestärkte etwa die NATO-Russland-Grundakte von 1997 das Recht auf Bündnisfreiheit; selbst Putin akzeptierte die Erweiterung anfänglich. Dennoch wandte er sich von der Zusammenarbeit ab und schürte den Konflikt. Die Folge war eine Eskalation, die im Krieg gipfelte. Der Westen muss entschlossen handeln, um Putins Aggression in die Schranken zu weisen und die Sicherheit Europas zu wahren.

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