Die alte und die neue alte Welt
Die amerikanische Präsidentschaft gilt als das mächtigste Amt der Welt. Doch die Vereinigten Staaten sind in vielen Bereichen weniger zentralistisch als die EU.
Auf den Punkt gebracht
- Beziehungen. Das enge Verhältnis zu Europa fußt auf den gemeinsamen Wurzeln. Die USA sind europäischer, als man auf beiden Seiten des Atlantiks zugeben möchte.
- Vielfalt. Die Amerikaner sind toleranter als andere Staaten mit hoher Diversität und konnten gleichzeitig starken Patriotismus entwickeln und nationale Einheit bilden.
- Föderalismus. Da die USA in vielen Bereichen föderalistischer sind als die EU, muss Washington oft auf Tricks zurückgreifen, um sich innenpolitisch durchzusetzen.
- Alternativen. Die föderale Struktur wirkt als Gegenmittel zu radikalen Gouverneuren in den Bundesstaaten: Es ist einfach, innerhalb des Landes umzusiedeln.
Amerikaner kämen vom Mars und Europäer von der Venus, schrieb der neokonservative Vordenker Robert Kagan schon vor mehr als zwanzig Jahren. Die Europäer, so Kagan, hätten es sich in einer posthistorischen Welt gemütlich gemacht, während die Vereinigten Staaten noch die harte Sprache der Macht verstehen würden.
Mehr zum Thema USA
Diese Sichtweise war kurz vor dem Einmarsch im Irak vor allem in konservativen Kreisen sehr beliebt. So sprach beispielsweise der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vom „alten Europa“ um Deutschland und Frankreich, das den Irak-Krieg nicht unterstützte, und dem „neuen Europa“ des ehemaligen Ostblocks, welches eine gegenteilige Position vertrat. Diese Sichtweise entspricht dem Selbstverständnis vieler Amerikaner, die ihr Land für eine bessere und neuere Version von Europa halten.
Die Vereinigten Staaten, sagte der erste Präsident George Washington in seiner letzten Rede, sollten eine gesunde Distanz zu den Europäern wahren, da diese mit ihren regionalen und dynastischen Rivalitäten sowie unterschiedlichen nationalen Interessen nur wenig mit den USA gemeinsam hätten. Europa habe seine eigenen Interessen, die für die USA entweder keine oder nur eine sehr geringe Relevanz besäßen. Daher, so Washington, wäre es unklug für die Vereinigten Staaten, sich durch künstliche Bindungen in die Freundschaften oder Feindschaften der Europäer zu verwickeln.
Tolerante Amerikaner
Allerdings ist es den USA nur sehr selten gelungen, die von Washington angemahnte Distanz zu bewahren. Der Grund dafür – neben handfesten geopolitischen Interessen – liegt auch darin, dass die USA in vielen Bereichen wesentlich europäischer sind, als man auf beiden Seiten des Atlantiks zugeben möchte.
Obwohl die USA eine der buntesten Nationen der Welt sind, konnten sie ein Gefühl der Einheit entwickeln.
Die Vereinigten Staaten sind nicht nur eine militärische und wirtschaftliche Supermacht, sondern auch eine der ethnisch und kulturell buntesten Nationen der Welt. Besonders der letzte Punkt ist interessant: Trotz dieser Diversität, die sich aus der langen Geschichte der Einwanderung speist, konnten die USA einen starken Patriotismus und ein Gefühl der nationalen Einheit entwickeln. Gleichzeitig sind die Amerikaner signifikant toleranter als andere Staaten mit hoher Diversität.
So sagen in Umfragen weniger als fünf Prozent der US-Bürger, dass sie Personen mit einem anderen ethnischen Hintergrund (definiert als „Rasse“, vom englischen Wort race) nicht als Nachbarn haben möchten. In Indien sagen das über 40 Prozent der Bevölkerung, in Russland über 15 Prozent und in Frankreich sowie in der Türkei über 20 Prozent.
Die Zahl der Eheschließungen über kulturelle und ethnische Grenzen hinweg steigt seit den 1960er-Jahren steil an (von 3 Prozent 1967 auf 17 im Jahr 2015), und während 1961 nur 4 Prozent der Amerikaner Ehen zwischen Schwarzen und Weißen akzeptabel fanden, sind es heute über 90 Prozent. Wie die Autorin Batya Ungar-Sargon in ihrem Buch Second Class über die amerikanische Arbeiterklasse festhält, ist Rassismus im Alltag der Arbeiterklasse ein geringes Problem und oftmals nur die Obsession einer privilegierten Akademikerkaste.
Gemeinsame Wurzeln
Einer der Gründe, weshalb die USA eine – trotz aller aktuellen Probleme – erfolgreiche Gesellschaft sind, liegt in den europäischen Wurzeln. Aufgrund seiner historischen Entwicklung hat sich in Europa eine duale Identität herausgebildet: Starke nationale Identitäten existieren parallel zu einer geteilten europäischen Identität. Ersteres ist die Konsequenz der einstigen Stammesstruktur nach dem Untergang des Weströmischen Reichs, die wir noch heute in Namen wie Bayern, Sachsen oder der Normandie finden.
Zweiteres ist die Konsequenz der Christianisierung, die die Stammesidentitäten nicht ersetzen konnte, diese aber langfristig in nationale Identitäten transformierte. Der Ökonom Avner Greif hat präzise beschrieben, wie die katholische Kirche seit dem 4. Jahrhundert den europäischen Stammesstrukturen den Kampf angesagt hat: mit strengen Gesetzen bezüglich Adoption und strikten Regelungen von Polygamie, Konkubinen, Scheidungen und Wiederverheiratungen; mit dem Verbot von Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades und der Einschränkung von arrangierten Ehen, vor allem wenn diese gegen den Willen der Frau geschlossen werden sollten. Entgegen dem Klischee der unterdrückenden Kirche stand diese an der Wiege der Emanzipation des Individuums in Europa – und damit auch der Idee der individuellen Freiheit in den USA.
Verschieden und doch vereint
Gleichzeitig wurde die Idee des Stammes durch die Idee der Nation ersetzt, weshalb beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts ein deutscher Staat entstehen konnte, der trotz aller religiösen und ethnischen Unterschiede weitgehende Legitimation innerhalb der Bevölkerung besaß und bis heute besitzt.
So unwahrscheinlich es erscheinen mag, aber die amerikanische und die deutsche Erfahrung ähneln einander stark: Die Vision, gleichzeitig einer Ethnie, wie beispielsweise den Sachsen, und einem größeren Ganzen, wie der deutschen Nation, anzugehören, entspricht dem amerikanischen Prinzip, gleichzeitig stolz auf seine nichtamerikanischen Wurzeln wie auch auf seine amerikanische Identität zu sein. So wie Europa einst ethnisch divers, aber religiös vereint war, so sind auch die USA gleichzeitig „diverse and unified“.
Selbst die afroamerikanische Kultur ist in ihrer Essenz mehr europäisch als afrikanisch oder amerikanisch, wie der Autor Thomas Sowell in seinem Buch Black Rednecks and White Liberals zeigt. Der überhöhte Ehrbegriff oder eine gewisse Gewaltaffinität, wie sie auch in Rap-Songs vorkommen, ist laut Studien mehr keltisch als afrikanisch. Selbst in Bezug auf die schwarze Bevölkerung zeigt sich also: Die USA sind in vielen Aspekten noch immer stark europäisch geprägt.
Die Ähnlichkeiten haben aber ihre Grenzen, und ein ganz entscheidender Unterschied besteht darin, dass die Vereinigten Staaten – im übertragenen Sinne – für viele Auswanderer ein „europäischer“ Neustart waren, während der lange Schatten der Geschichte und die historisch-kulturell gewachsenen Differenzen zwischen den europäischen Nationen eine Zusammenführung in die „Vereinigten Staaten von Europa“ unmöglich machen.
Die ‚U.S. Constitution‘ findet in einem 36-seitigen Taschenbuch Platz. Schon die Vorverfassung der Europäer kam auf 475 Seiten.
Trotz ihrer Diversität gelang es den USA, fundamentale Voraussetzungen für einen einheitlichen Staat zu schaffen – hauptsächlich mit einer gemeinsamen Sprache und einer Verfassung, die darauf ausgelegt ist, die Rechte des Individuums zu stärken und jene des Staates einzuschränken.
Begrenzte Macht des Präsidenten
In den USA sind Rechte gottgegeben und sowohl vor dem Staat als auch durch den Staat zu schützen. All das lässt sich dermaßen kompakt zusammenfassen, dass die „U.S. Constitution“ in einem 36-seitigen Taschenbuch Platz findet. Der Versuch der Europäer, sich ebenfalls eine Verfassung zu geben, scheiterte bereits 2004 an einem Entwurf für die eigentliche Verfassung, der alleine auf 475 Seiten kam. Nachdem sich die Europäer nicht einigen konnten, ob das Christentum in der Verfassung Erwähnung fin- den sollte, und das gesamte Projekt in Frankreich und den Niederlanden durch eine Volksabstimmung abgelehnt wurde, zeigten sich die Grenzen der europäischen Einigung.
Im Spannungsfeld mit den Bundesstaaten stößt die amerikanische Präsidialmacht schnell an ihre Grenzen.
Ein weiterer Unterschied besteht in den Befugnissen des Präsidenten, welche oftmals weitreichender erscheinen, als sie tatsächlich sind. In der Außenpolitik ist der Spielraum sehr groß, im Spannungsfeld mit den Bundesstaaten stößt die Präsidialmacht jedoch schnell an ihre Grenzen. Im Gegensatz zum Einheitsbestreben der Europäischen Union dominiert in den USA die Idee, dass einzelne Staaten „Labore der Demokratie“ seien: „Ein einzelner mutiger Staat kann, wenn seine Bürger es wollen, als Laboratorium dienen und neue soziale und wirtschaftliche Experimente ausprobieren, ohne den Rest des Landes zu gefährden.“ (Louis Brandeis, Richter am U. S. Supreme Court.)
Ein gutes Beispiel ist die Energiepolitik: Kalifornien und Texas sind mit einem ähnlichen Ressourcenreichtum ausgestattet, aber in Sacramento möchte man Fracking verbieten, während man es in Austin forciert.
Zahlen & Fakten
Dies bedeutet nicht, dass es zwischen Bundesstaaten und Washington immer harmonisch zugeht. Ein Präsident hat durchaus Mittel, den Föderalismus zu umgehen: Eines der bekanntesten Gesetze in den USA ist das Alkoholverbot für unter 21-Jährige, das 1984 unter Ronald Reagan verabschiedet wurde. Tatsächlich konnte die Bundesregierung jedoch den Bundesstaaten keine solche Regelung aufzwingen, weshalb man sich mit einem Trick zu helfen wusste: Allen Staaten, die den Erwerb von alkoholischen Getränken unter 21 Jahren weiter zulassen wollten, wurde damit gedroht, Förderungen für Verkehr und Straßenbau zu streichen. In weniger als vier Jahren wurde das Gesetz landesweit übernommen, weil es sich kein Bundesstaat leisten konnte, auf die Finanzmittel aus Washington zu verzichten.
Abstimmung mit den Füßen
Washington hat seine Macht durch die Neuinterpretation von existierenden Gesetzen und die Schaffung von bundesweiten Regulierungsbehörden sukzessive ausgeweitet. So sieht die Verfassung beispielsweise nicht vor, dass der Präsident oder der Kongress landesweit Studentenkredite übernehmen können – was die Politik jedoch nicht davon abgehalten hat, es zu versuchen. Wie im Falle des Alkoholverbots für Jugendliche kann die amerikanische Bundesregierung „sanften“ Druck auf die Bundesstaaten ausüben, um ihren Willen durchzusetzen.
Diese Politik ähnelt den Versuchen der Europäischen Union, durch das Zurückhalten von Fördergeldern Mitgliedsstaaten wie Polen, Ungarn oder die Slowakei ideologisch zu beeinflussen. So wie einzelne Staaten in Europa zeitweise zu ideologischem „Überschießen“ neigen, so gibt es diese Tendenzen auch in den USA.
Passiert dies, neigen die Menschen und Unternehmen dazu, sich innerhalb des Landes nach Alternativen umzusehen: Kalifornien wurde in den letzten Jahren zum Inbegriff eines progressiven Liberalismus, während Florida eine konservativere Gangart wählte. Beide Entscheidungen hatten Konsequenzen: Zwischen 2020 und 2022 verlor Kalifornien über eine Million Einwohner, während Florida um 800.000 zulegte.
„Voting with your feet“ nennt sich dies in den USA und beschreibt den Prozess der Wanderbewegungen zwischen den Bundesstaaten. Egal wie radikal ein Gouverneur sein möchte, keiner kann es sich langfristig leisten, seine Einwohner (und Steuerzahler) zu vertreiben. Damit wirkt die föderale Struktur wie ein natürliches Gegenmittel zu ideologischer Radikalisierung.
Conclusio
Gemeinsamkeiten. Sowohl die USA als auch Europa befinden sich in dem Dilemma, gleichzeitig föderal und imperial strukturiert zu sein, und diese Spannungen treten besonders in Krisenzeiten verstärkt hervor.
Vorbild. Europa könnte von den USA lernen: Statt den einzelnen Mitgliedsstaaten eine Einheitsideologie von Energiewende bis Genderpolitik aufzuzwingen, sollte man die Staaten selbst entscheiden lassen.
Einheit. Wie die USA in ihrer Geschichte gezeigt haben, können Freiheit und Einheit durchaus Hand in Hand gehen. Gleiches gilt auch in Europa: So wie Florida nicht Kalifornien sein muss, muss auch Ungarn nicht wie Schweden werden.