Chinas Flirt mit Zentralasien

Russlands Krieg in der Ukraine hat in Zentralasien ein Machtvakuum hinterlassen, das China und die Türkei nur zu gern ausfüllen.

Eine Pagode mit Vorplatz, auf dem ein roter Teppich ausgerollt ist und der von Flaggen flankiert ist.
In Xi'an hat China zum China-Zentralasien-Gipfel geladen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Gute „Freunde. Russlands Abhängigkeit von China wird immer größer, und Peking weiß diesen Umstand zu nutzen.
  • Machtlos. Russlands Krieg gegen die Ukraine hinterlässt in Zentralasien ein Machtvakuum. China steht bereit dieses zu füllen.
  • Rollentausch. Der China-Zentralasien-Gipfel fand ohne Russland statt. Zentralasien sieht Russland nicht mehr als Beschützer.
  • Neue Einflusssphäre. Für Peking ist Zentralasien strategisch wichtig. Aber auch die Türkei nützt die Gunst der Stunde, um Einfluss zu gewinnen.

Als Moskau am 24. Februar 2022 seine groß angelegte Invasion in der Ukraine startete, war der russische Präsident Wladimir Putin gerade erst aus Peking zurückgekehrt, wo er ein weiteres freundschaftliches Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping genossen hatte. Entschlossen, die Welt davon zu überzeugen, dass die chinesisch-russischen Beziehungen nie enger oder tiefer waren, erklärten die beiden ihre „grenzenlose Freundschaft“. Sie erklärten, dass es keine verbotenen Bereiche der „Zusammenarbeit“ gebe.

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Für die Ukraine und ihre Verbündeten war die Atmosphäre dieses Treffens ein Grund zur Sorge. Die Tatsache, dass Peking sich weigerte, die russische Aggression zu verurteilen, war zu erwarten. Aber würde Präsident Xi einen Schritt weiter gehen und die Freundschaft durch militärische Unterstützung ehren? Eine entschlossene chinesische Anstrengung zur Unterstützung der schwächelnden russischen Kriegsanstrengungen hätte einen großen Unterschied machen können.

Die Entwicklungen haben derartige Befürchtungen ausgeräumt. Trotz alarmistischer Stimmen im Westen und russischer Bitten um mehr Hilfe aus Peking gibt es keine handfesten Beweise für eine umfassende chinesische Militärhilfe. Dies deutet darauf hin, dass sich die wahre Natur der chinesisch-russischen Beziehungen grundlegend von der allgemeinen Wahrnehmung unterscheidet.

Eine ungleiche Beziehung

Die angebliche Freundschaft zwischen den beiden Ländern war lange Zeit Anlass für Spekulationen. Für einige war die Optik in der Tat überzeugend. Das gegenseitige Lob der beiden Präsidenten, die einander wiederholt als „liebe Freunde“ bezeichneten, war unübersehbar, und gleichzeitig stieg der bilaterale Handel.

Während sich der Krieg in der Ukraine hinzieht, verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten Chinas.

Obwohl Peking und Moskau ein gemeinsames Interesse daran haben, den Vereinigten Staaten die Stirn zu bieten und ihre Wirtschaft zu verbessern, bleibt der Kern der Freundschaft das, was der erfahrene China-Analyst Bobo Lo 2008 in seinem Buch beschrieben hat: „Axis of Convenience: Moscow, Beijing and the New Geopolitics“.

Während sich der Krieg in der Ukraine hinzieht, verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten Chinas. Peking nutzt jede Gelegenheit, um sich an russischen Ressourcen zu bedienen, während es im Gegenzug wenig leistet. Dieses Muster begünstigt seit langem das Reich der Mitte, das Waffen sowie Erdöl, Erdgas und Kohle importiert und gleichzeitig einen Markt für den Export billiger Industrieerzeugnisse gefunden hat. Diese Dynamik unterstützt chinesische Produzenten und zementiert die Rolle Russlands als rohstoffbasierte Wirtschaft, die in globalen Wertschöpfungsketten nur schwach vertreten ist.

Obwohl sich Russland von der chinesischen Neuen Seidenstraße Vorteile erhoffte, gab es kaum chinesische Direktinvestitionen. Die versprochene chinesische Beteiligung am Bau einer Hochgeschwindigkeitseisenbahn zwischen Moskau und Kasan verlief im Sande. Nach dem unzureichenden Einsatz russischer Waffen in der Ukraine, hat Peking allen Grund an der Qualität der russischen Waffentechnologie zu zweifeln.

Reinfall für Moskau

Als sich Präsident Xi auf seinen Besuch in Moskau am 20. März 2023 vorbereitete, gab es Befürchtungen, dass Peking sich noch enger hinter Russland stellt. Es war ominös, dass der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko, einer der wenigen verbliebenen Verbündeten Russlands, nur wenige Tage zuvor in Peking empfangen wurde. Auffällig war, dass sich Präsident Xi und sein russischer Amtskollege bereits mehr als 40 Mal getroffen hatten. Begonnen hatte der Besuchsreigen bereits 2013, als Xi sein Amt angetreten hatte.

Für den Kreml war dieser Besuch jedoch eine große Enttäuschung. Die Ukraine und die chinesische Unterstützung für Russland wurden nicht öffentlich erwähnt. Dennoch nahm Präsident Xi eine Reihe von Verträgen mit nach Hause. Am wahrscheinlichsten beinhalten diese Vereinbarungen die Weitergabe von Waffentechnologie durch Russland, den Verkauf von Kohlenwasserstoffen zu niedrigen Preisen und die Abwicklung des bilateralen Handels in chinesischen Yuan, um die globale Dominanz des US-Dollars zu schwächen.

Eine unangenehme Entwicklung verdeutlichte den ohnehin schon großen Unterschied im Ansehen der beiden Staatsoberhäupter: Das Treffen fand nur wenige Tage nach dem Haftbefehl gegen Präsident Puntin statt, den der Internationale Strafgerichtshof erlassen hatte. Putin wird beschuldigt, illegal Kinder aus den vom Kreml besetzten Teilen der Ukraine entführt zu haben. Das bedeutet, dass es nur noch wenige Länder gibt, die der russische Präsident besuche kann, ohne befürchten zu müssen nach Den Haag geschickt zu werden.

Lose Freundschaft mit Grenzen

Um den Schaden noch zu vergrößern, verließ Präsident Xi Moskau und lud die fünf zentralasiatischen Länder, zu einem China-Zentralasien-Gipfel ein. Zu diesem Treffen am 18. Mai 2023 wurde Russland nicht eingeladen.

Es ist unklar, was China davon abgehalten hat, seine „grenzenlose Freundschaft“ mit Russland zu pflegen.

Diese Unverfrorenheit könnte als das Ende der viel gepriesenen Hinwendung des Kremls zu Asien angesehen werden. Auf dem Treffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (APEC) 2012 in Wladiwostok hatte Präsident Putin die Absicht geäußert, dass die russische Wirtschaft durch die Hinwendung nach Osten „den chinesischen Wind“ in den Segeln spüren würde. Statt an Fahrt zu gewinnen, mag das russische Schiff jetzt ein wenig Schlagseite haben, aber es fährt immer noch.

Es ist unklar, was China davon abgehalten hat, seine „grenzenlose Freundschaft“ mit Russland zu pflegen. Zwar könnten die von den USA angedrohten Wirtschaftssanktionen eine Rolle gespielt haben, doch ein stärkerer Beweggrund ist wahrscheinlich Pekings Wunsch, Märkte in Europa zu erschließen und einen politischen Keil zwischen die Europäische Union und die USA zu treiben.

Anfang April ließ Peking seinen Botschafter bei der EU, Fu Cong, die „grenzenlose Freundschaft“ als „reine Rhetorik“ abtun. Der anschließende Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Peking mag Xi die Hoffnung gegeben haben, dass eine solche Charmeoffensive funktionieren würde.

Zentralasien sieht Russland nicht mehr als Beschützer

Die Implosion Russlands als Großmacht hat weitreichende Auswirkungen auf Zentralasien. Lange Zeit ging man davon aus, dass zwischen Moskau und Peking eine implizite Rollenteilung besteht - Russland sorgt für Sicherheit, China für Investitionen und Wirtschaftsförderung. Wenn diese Vereinbarung jemals bestand, so gilt sie jetzt nicht mehr.

Die bewaffnete Intervention Russlands zur Wiederherstellung der inneren Ordnung in Kasachstan Anfang 2022 war möglicherweise sein letzter Einsatz in der Region. Vorgesehene gemeinsame Übungen mit anderen Ländern wurden abgesagt. Angesichts der angespannten Lage der russischen Wirtschaft ist es zweifelhaft, ob das Land in der Lage sein wird, in Zukunft eine wichtige Rolle im Handel und in der Entwicklung Zentralasiens zu spielen. Für Peking stellt sich vor allem die Frage, inwieweit es aus dem Verschwinden Russlands Kapital schlagen wird.

Vom Standpunkt Pekings aus sind die Zahlen ermutigend. Ende 2020 beliefen sich die chinesischen Investitionen in Zentralasien auf insgesamt etwa 40 Milliarden Dollar, mehr als die Hälfte davon allein in Kasachstan. Ende 2021 waren fast 8.000 chinesische Unternehmen in der Region tätig, und Ende 2022 hatte der chinesische Handel mit Zentralasien ein Volumen von 70 Milliarden Dollar erreicht, was einem Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.

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Zahlen & Fakten

Die Ambitionen für die Zukunft sind dementsprechend hoch. Auf dem APEC-Gipfel in Bangkok im November 2022 kündigte Präsident Xi an, dass China die Ausrichtung eines dritten internationalen „Belt and Road“ Kooperationsforums im Jahr 2023 in Erwägung ziehen würde, um der Entwicklung in der asiatisch-pazifischen Region und darüber hinaus neue Impulse zu verleihen.

Pekings „grandioser Plan“

Bei dem Gipfeltreffen das zwischen China und Zentralasien stattgefunden hat, wurde auch Pekings „grandiosen Plan“ für seine Beziehungen zu den Ländern der Region vorbereitet.

An erster Stelle steht das Bedürfnis Chinas, seine Erdgasimporte über Pipelines zu steigern, um seine rasch wachsende Abhängigkeit von Flüssigerdgas zu verringern. Obwohl viel über die Umleitung von russischem Gas aus Europa in den asiatisch-pazifischen Raum gesprochen wird, bleibt die 2019 eingeweihte Power of Siberia die einzige verfügbare Pipeline für den Export nach China. Sie wird ihre volle Kapazität erst 2027 erreichen. Die Gespräche über die Gasroute Power of Siberia II sind nach wie vor festgefahren und würden Jahre dauern.

Peking hofft stattdessen, sein zentralasiatisch-chinesisches Gaspipelinenetz um eine vierte Leitung („Leitung D“) zu erweitern. Sie würde die riesigen Reserven Turkmenistans weiter anzapfen, auf das bereits 75 Prozent der chinesischen Gasimporte aus der Region entfallen.

Die Kehrseite der Medaille ist eine Kombination aus regionaler Energieknappheit und Produktionsstörungen, die wiederholt zu Unterbrechungen der Gasströme geführt haben. Die Regierungen in Usbekistan und Kasachstan sind sich der Risiken bewusst, die mit der Aufrechterhaltung der Gaslieferungen nach China verbunden sind, wenn das Gas im eigenen Land knapp ist.

Seidenstraße wiederbeleben

Das zweite Merkmal des „grandiosen“ Szenarios ist die Notwendigkeit, die Neue Seidenstraße wiederzubeleben, die in den letzten Jahren ins Stocken geraten ist. Das Problem ist, dass die nördliche Achse, die über Russland verlaufen soll, auf absehbare Zeit tot ist. Bleibt noch das südliche Teilstück, das über das Kaspische Meer führt. Sie erfordert die Zusammenarbeit mit Kasachstan und Usbekistan beim Ausbau der Infrastruktur sowie mit Aserbaidschan und der Türkei. Vor allem aber muss sichergestellt werden, dass die europäischen Märkte für eine Ausweitung der chinesischen Importe offen bleiben.

Breit angelegte Investitionen in eine größere Produktion, einschließlich Kapitalbeteiligungen, sind die dritte und schwierigste Aufgabe. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es mehr als Kapital und gute Beziehungen zu den Regierungen. Die industrielle Entwicklung hängt von horizontalen Geschäftsnetzwerken ab, die ihrerseits eine Vertrauensbasis erfordern. Doch die Stimmung in der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren gegen China gewandt.

Freundschaft Plus

Wahrscheinlich ist, dass Chinas grandiosem Plan für Zentralasien von Hindernissen und Rückschlägen gekennzeichnet sein wird.

Das Versprechen massiver ausländischer Direktinvestitionen ist ein Zuckerl für die zentralasiatischen Staaten, da ernsthafte russische Investitionen unrealistisch sind. Die Demografie wird China helfen, da die ältere Generation von Menschen, die eine russische Ausbildung genossen haben und in russische Netzwerke eingebunden waren, durch eine jüngere, nationalistischere Generation ersetzt wird. Die Verbreitung von Konfuzius-Instituten wird die Wertschätzung der chinesischen Kultur und die Beherrschung von Mandarin fördern.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die regionalen Regierungen in die chinesische Schuldenfalle getappt sind. Peking nutzt diese aus, um Zugeständnisse zu erlangen, die von Kapitalbeteiligungen bis hin zum Landraub reichen.

Die chinesische Unterdrückung der muslimischen Uiguren in Xinjiang hat Pekings Ansehen bei der aufstrebenden jungen Generation muslimischer, nationalistischer Zentralasiaten geschadet. Wenn Peking Militärstützpunkte in der Region anstrebt, wird dies den Unmut weiter verstärken.

Die Äußerungen des chinesischen Botschafters in Frankreich, in denen er die Souveränität der fünfzehn ehemaligen Sowjetrepubliken in Frage stellte, werden wohl nicht vergessen werden. Auch wenn Peking die Äußerungen von Lu Shaye schnell dementiert hat. Umfragen haben gezeigt, dass viele Menschen in Zentralasien trotz Chinas massiver Investitionen misstrauisch bleiben.

Türkei mischt mit

Parallel zu China will die Türkei ihr langjähriges Ziel verwirklichen, eine pantürkische Agenda der Handels- und Sicherheitskooperation in der gesamten Region zu fördern. Denn vier der fünf Staaten sind turksprachig.

Der Vorteil dieses Szenarios ist, dass der Krieg in der Ukraine die regionalen Regierungen dazu veranlasst hat, Russland gegenüber überdrüssig zu werden. Die jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Kasachstan und Usbekistan deuten darauf hin, dass sie sich auf eine andere Art der militärischen Zusammenarbeit einstellen könnten.

Ankara hat die militärisch-industrielle Zusammenarbeit vor der russischen Invasion in der Ukraine aktiv gefördert. Die Unterstützung für die ukrainische Seite – insbesondere, aber nicht ausschließlich, die Bayraktar-Angriffsdrohnen – war bei der Vermarktung an anderer Stelle hilfreich. Die chinesischen Bemühungen, der Neuen Seidenstraße neues Leben einzuhauchen, werden auch für Aserbaidschan und die Türkei hilfreich sein.

Da sich Russland aus Zentralasien zurückzieht, werden die Türkei und China die aktivsten Akteure sein. In einem solchen Wettbewerb wird die brachiale Stärke der chinesischen Wirtschaft Peking einen Vorteil verschaffen, mit dem die Wirtschaft Ankaras nicht mithalten kann.

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Conclusio

Während Russland einen Angriffskrieg in der Ukraine führt, verliert Moskau seinen Einfluss in Zentralasien. China steht bereit dieses Machtvakuum zu füllen. Obwohl Moskau und Peking immer wieder ihre gegenseitige Freundschaft zelebrieren, fand der China-Zentralasiengipfel ohne Russland statt. Der von China entwickelte „grandiose Plan“ sieht vor, die Region noch enger an sich zu binden. Dabei stehen Rohstofflieferungen und das Wiederbeleben der Neuen Seidenstraße im Mittelpunkt der chinesischen Strategie. Neben China profitiert auch die Türkei von der russischen Schwäche, die vor allem in den turksprachigen Staaten Einflusspotential sieht.

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