Bauen oder essen?
Versiegelt heißt verloren: Österreich bringt sich täglich um wertvollen Boden und damit um sein Brot. Der Raumplaner Gernot Stöglehner zeigt im Interview, wie man Boden schützt und lebenswerte Orte gewinnt.

Eigentlich will Österreich die Flächennutzung auf täglich 2,5 Hektar Fläche begrenzen. Das Ziel gibt es seit 2002, umgesetzt wird es nicht. Der Bodenverlust nimmt sogar zu: In den letzten zehn Jahren wurden täglich elf Hektar verbraucht. Der Raumplaner Gernot Stöglehner erklärt im Interview die Ursachen für diese Entwicklung und skizziert Maßnahmen dagegen.
Österreich gehört zu den wenigen Ländern in Europa, in denen die Flächeninanspruchnahme sogar noch zunimmt – um 17 Prozent in den Jahren 2017 bis 2018. Im selben Zeitraum ist der Bodenverbrauch in Deutschland um 20 Prozent gesunken, schreiben Sie in Ihrem Buch. Warum ist das so?
Gernot Stöglehner: Dass der Bodenverbrauch so stark zunimmt, ist tatsächlich eine interessante Feststellung. Auf der einen Seite wächst natürlich die Bevölkerung, aber auch die Ansprüche an den Raum. Die Wohnfläche pro Person steigt. Wir liegen jetzt ungefähr bei 45 Quadratmetern Wohnraum pro Person. Das waren einmal Anfang der 1980er Jahre 20 Quadratmeter. Dazu kommt, dass wir hierzulande überwiegend freistehende Einfamilienhäuser bauen. Wir haben jetzt circa 1,58 Millionen Einfamilienhäuser, freistehend auf Österreich verteilt irgendwo stehen.
Ist das zuviel?
Wenn man die demographische Struktur und die Anzahl der Haushalte betrachtet und auch einmal davon ausgeht, dass nicht jeder Einpersonenhaushalt in einem Einfamilienhaus leben muss, dann entspricht das ungefähr dem Bedarf. Ich bin überhaupt kein Gegner vom Einfamilienhaus. Es ist nur so, dass es nicht zwingend freistehend sein muss. Das kostet viele Ressourcen und auch Geld. Sobald ein Haus frei steht, braucht man mehr Erschließungswege zwischen den Häusern.
Die Idee vom Eigentum, ein Haus mit niemandem teilen zu müssen usw., das sind Qualitäten, die sich auch in Reihenhausbebauung realisieren lassen. Sie können dann sogar einen geschlossenen Innenhof haben, wie bei alten Bauernhöfen. Bei freistehenden Häusern muss man sich dafür hinter riesigen Betonmauern oder Zäunen verschanzen. Das Problem ist auch, dass wir keine geschlossenen Siedlungsbereiche haben, obwohl die Flächenwidmungspläne das vorsehen würden: Man hat Bauland gewidmet, ohne sich die Bedarfsfrage überhaupt zu stellen und dann irgendwo ein paar hundert Meter vom Ortskern weg begonnen, eine Siedlung zu bauen. Man hat also jenseits des Bedarfs gewidmet, und dann noch dazu nicht von innen nach außen gebaut, sondern von außen nach innen.
Bedarf an neuem Grund gibt es für’s Wohnen also nicht?
Da ist noch viel räumliche Entwicklung möglich, ohne dass man auch nur einen Quadratmeter Bauland irgendwo dazu widmen müsste. Was Bauland betrifft, haben wir in Österreich einen großen Widmungssbestand, der sich schon seit den 1970er Jahren aufgebaut hat. Gut 20 Prozent des gewidmeten Baulands sind nicht bebaut, 670 von 3.200 Quadratkilometern Bauland. Zu dieser Baulandreserve kommt noch der Leerstand im Baubestand, also auf schon bebauten Grundstücken. Auch wenn zwei Familien in einem Einfamilienhaus leben, hat sich die Zahl der Haushalte verdoppelt. Das wäre auch ein Mittel der Raumentwicklung, das nicht weh tut. Man nutzt sein Haus dann de facto besser, und es beteiligen sich mehr Personen an der Pflege und der Finanzierung. Es spart auch Geld, wenn man bestehende Objekte intensiver nutzt und nicht krampfhaft neuen Grund erschließt, sondern mit dem Bestand arbeitet. Da gibt es ganz viele Potenziale, die derzeit einfach nicht genutzt werden.
Ist es sinnvoll, das Bauland tatsächlich zu bebauen?
Ich finde es jetzt nicht ganz so problematisch, wenn dieses Bauland innerhalb der Baulandgrenzen liegt. Wir haben einen Wohnbedarf, einen Bedarf an Betriebsbaugebieten, an Einkaufsmöglichkeiten, an öffentlichen Einrichtungen und – hin und wieder mal – an Schulen, Kindergärten usw. Das muss man irgendwo unterbringen. Und da gibt es eine Kaskade: Man muss erstmal schauen, ob es ein Objekt gibt, das man nutzen kann, einen Leerstand, den man aktivieren kann? Gibt es massiv unternutzte Objekte, wenn zum Beispiel ein Gebäude mit hoher Standortqualität als Lagerraum genutzt wird. In solchen Fällen ist eine Bestandstransformation eine Möglichkeit. Und wenn das alles nicht geht, muss man schauen, dass man mit Bauland, das noch nicht bebaut ist, auskommt.
Die allerletzte Möglichkeit ist, Grünland in Bauland umzuwidmen. Und da kommt das Ziel „Netto Null“-Flächeninanspruchnahme ins Spiel. Das ermöglicht Bauland-Widmungen, wenn woanders ein Bauland gleicher Größe in Grünland zurückgewidmet wird. Diese Spielmasse braucht man: Alles, was wir tun, manifestiert sich im Raum. Und wenn sich in der Gesellschaft etwas ändert, dann wird sich der Raum, der dazugehört, auch ändern. In Zukunft werden wir einen anderen Infrastrukturbedarf haben. Zum Beispiel wird sich die Arbeitswelt massiv durch Digitalisierung und KI verändern. Daher ist es zunächst mal wichtig, sich Entwicklungsspielräume nicht auf der grünen Wiese zu schaffen, sondern im Bestand und die bestehenden Siedlungs- oder Baulandgrenzen einzuhalten. Damit das geht, braucht man Spielräume, und die müssen so genutzt werden, dass das Grünland außerhalb der Siedlungen erhalten bleibt. Das muss ein wichtiges gesellschaftliches Ziel werden.
Wenn es um Bodenverbrauch geht, stehen die Retail- und Fachmarktzentren auf der berühmten grünen Wiese oft im Fokus. Welche Rolle spielen die für den Bodenverlust?
Wenn man mit offenen Augen durchs Land fährt, kann man das ungefähr abschätzen. Wir haben jetzt schon eine der höchsten Verkaufsflächen überhaupt pro Kopf. Das Match Ortskern gegen Einkaufszentren geht aber gerade in eine neue Runde. Die Verkaufsfläche, die durch Onlinehandel frei wird, wird nachgenutzt, zum Beispiel durch Gastronomie, dann gehen die Apotheken raus und weitere zentralörtliche Einrichtungen, hin und wieder sogar schon eine Kinderbetreuungseinrichtung. Das entleert die Ortszentren weiter.
Es geht mittlerweile nicht mehr nur um die Einkaufsfunktion. Die Einkaufszentren sind den Innenstädten hinsichtlich Finanzkraft überlegen, und von daher sehe ich das durchaus als Bedrohungsszenario. Nicht nur wegen der Verarmung der Ortskerne, sondern auch, weil man im Ortskern eher zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sein kann. Das Einkaufs- oder Fachmarktzentrum ist vielleicht ein paar Kilometer draußen. Wenn man diese unabhängigen Strukturen hat, erntet man natürlich mehr Verkehr, mehr Energieverbrauch, mehr Ressourcenverbrauch, immer mehr Leute müssen ihre Zeit im Auto verbringen und können nichts anderes damit machen. Es ist dann nicht möglich, aktive Mobilität zu fördern, also Bewegung in den Alltag zu integrieren usw. Die wenig nachhaltigen Entwicklungstrends im ländlichen Raum werden damit prolongiert. Das ist das, was ich befürchte. Auf der anderen Seite sehe ich durchaus Transformationspotenzial bei dem ein oder anderen Einkaufszentrum, wenn diese Leerstände zunehmen sollten.
Sollte man nicht ganz zurückbauen und entsiegeln?
Das ist nicht sinnvoll. Ein Zentimeter Humus braucht 100 bis 300 Jahre. Das heißt zehn Zentimeter Humusschicht in 1.000 Jahren. Wenn man das verbaut hat, dann ist die Schicht weg, für immer verloren. Da ist es dann viel wichtiger, dass man diese Flächen weiter entwickelt und nachnutzt und sie erst im letzten Schritt rückbaut und rekultiviert. Es gibt mittlerweile Bauträger, die Märkte überbauen, um leistbares Wohnen herzustellen. Das ist auch eine Bereicherung für die Raumstruktur, vor allem, wenn die Zentren städtebaulich eingebettet sind, es rundherum vielleicht mehrgeschossige Wohnbauten gibt. Dann können die Geschäfte erhalten bleiben, man schafft darüber vielleicht noch ein paar Büroräumlichkeiten oder Wohnungen. Den Parkplatz kann man zurücknehmen, parkartig gestalten, einen Freiraum daraus machen und hat dann wenige Parkplätze oder gar keine mehr an der Oberfläche. Eine schöne städtebauliche Situation. Wenn das ein Fachmarktzentrum irgendwo weit draußen am Kreisverkehr ist, dann wird das vielleicht der Standort für die nächste Serverfarm. Man muss kein Grünland opfern, um den Bedarf zu decken.
Leerstand kostet zu wenig, schreiben Sie in Ihrem Buch. Inwiefern hängt das mit dem Bodenverbrauch zusammen?
Es geht darum, finanzielle Anreize zu setzen, den Bestand zu nutzen. Daher plädiere ich neben einer Leerstandsabgabe auch für eine andere Form der Grundsteuer, die sich an der Nutzung orientiert. Es ist ganz wichtig, dass man das nicht aus den Augen verliert, dass Steuern auch dazu da sind, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu begünstigen. Eine andere Steuerverteilung wird vielleicht auch dazu führen, dass es einfach nicht mehr attraktiv ist, Immobilien als Anlageobjekte oder Wohnungen oder Geschäftsräume als Anlageobjekte zu betrachten. In dem Moment, wo Leerstand etwas kostet, wird man sich überlegen, wie man diese Kosten vermeiden kann. Und wenn die Antwort darauf die Vermietung ist, dann hat man Immobilien, Bauland, Geschossfläche für Wohnungen, für Betriebe usw. mobilisiert.
Die Ortszentren haben einen hohen Leerstand. Man hat den Eindruck, das sei einfach ein Naturgesetz. Wenn sich die Fachmarktzentren nun auch die andere Infrastruktur holen, dann sieht es für die Innenstädte nicht gut aus.
Es gibt keinen Grund für den Leerstand im Ortskern. In Freistadt, in Oberösterreich, hat man ganz bewusst mitten in die Innenstadt eine Veranstaltungshalle gebaut – ohne Parkplätze. Es funktioniert. Es sind nicht nur die Besucher, die ein Konzert besuchen in der Innenstadt, in der Gastronomie und den Geschäften, sondern auch rund 1.000 Musikschüler wöchentlich, die dann möglicherweise noch zu irgendeinem Arzt gehen.
Diese behauptete Lagegunst durch die gute Erreichbarkeit mit dem Auto ist manchmal eben halt nur behauptet. Es passiert nichts, wenn man Parkplätze wegnimmt. Ganz im Gegenteil. Wie man an Paris sehen kann ist es wirklich erstaunlich, was das mit dem Lebensgefühl in der Stadt macht: Es ist viel weniger hektisch, viel ruhiger, es gibt viel mehr Platz für Menschen. Die Erdgeschosszonen, auch in den Nebenstraßen werden besser genutzt für Geschäfte, Gastronomie, als Aufenthaltsort. Wir brauchen keine Parkplätze, um Geschäfte zu erhalten, sondern Menschen, und die kommen nur, wenn sie genug Möglichkeiten haben, sich zu bewegen.
Zahlen & Fakten

Nutzung, Versiegelung, Verbrauch – was ist was?
- Dauersiedlungsraum: Der potenziell besiedelbare Raum, der für Menschen bewohnbar und bewirtschaftbar ist. In Österreich stehen durchschnittlich nur etwa 39 Prozent der gesamten Landesfläche als Dauersiedlungsraum (DSR) für Betriebe, Gebäude, Verkehrsflächen und die Landwirtschaft zur Verfügung, da der Anteil der Alpen und des alpinen Ödlandes so hoch ist. Ein Drittel des DSR in Österreich liegt in Niederösterreich.
- Flächeninanspruchnahme: Genutzte Flächen, die nicht mehr für Land- und Forstwirtschaft oder als natürlicher Lebensraum zur Verfügung stehen, weil Gebäude, Straßen, Industrieanlagen usw. sich dort befinden. In Österreich sind 52 Prozent dieser beanspruchten Fläche versiegelt. Flächeninanspruchnahme geht in der Regel mit Bodenverbrauch einher, insofern die Bodenhorizonte stark verändert und beeinträchtigt werden.
- Versiegelung: Eine vollständige Abdeckung des Bodens mit einer wasser- und luftundurchlässigen Schicht. In Österreich sind 52 Prozent der in Anspruch genommenen Fläche versiegelt, in Summe 2.964 Quadratkilometer – mehr als die Fläche von Vorarlberg.
Der Bodenverbrauch nimmt nun stetig zu, statt ab. Hat das Problem heute eine höhere Dringlichkeit?
Im Kontext der Ernährungssicherheit, ja. Da ist ein Kipppunkt erreicht. Das „10. Bundesland“, das man in Österreich nach 1945 für Ackerland geschaffen hat, hat man inzwischen versiegelt. Das sind im Übrigen ganz oft die Flächen, die überflutet werden, zum Beispiel bei Starkregen-Ereignissen, weil die Flächen den Rückhalt nicht mehr gewährleisten können. Man hat also dieses zehnte Bundesland gewonnen und die letzten 25 Jahre wieder verbaut. Das ist nicht wahnsinnig schlau, zumal wenn man den Anspruch hat, sich selbst mit Lebensmitteln versorgen zu können. Das heißt nicht, dass man nicht mehr mit Lebensmitteln handelt.
Der Bedarf an Grünland wird in Zukunft steigen, befeuert durch die Klimakrise und die Biodiversitätskrise. Die Erträge werden zurückgehen, zugleich brauchen wir schonendere Bewirtschaftungsweisen und Naturflächen, um zum Beispiel Hochwasser abzumildern. Auch die Bioökonomie wird Fläche brauchen. Wenn man das alles zusammenzählt, geht es sich dann noch aus mit der Ernährung? Es wird sehr knapp. Wir müssen auf jeden Fall bei der zusätzlichen Flächeninanspruchnahme einsparen. Der Verbrauch ist einfach zukunftsgefährdend. Weil wir in den letzten Jahrzehnten so viel gebaut haben, ist jetzt ein Kipppunkt erreicht.
Was ist aus Ihrer Sicht die dringlichste Maßnahme?
Das Wichtigste wäre eine 360 Grad-Siedlungsgrenze, die definiert, wo der Grünraum anfängt. Das heißt dann auch, die Innenentwicklung zu priorisieren. Wenn man Entwicklungsbedarf hat, muss man den im Bestand lösen. Eine dritte Maßnahme wäre eine aktive Bodenpolitik: Leerstandsabgaben, eigene Grundsteuerkategorien für Leerstand, eine nutzungsorientierte Grundsteuer und Mehrwertabgaben. In der Schweiz gibt es zum Beispiel eine Mehrwertabgabe in Höhe von 20 bis 40 Prozent des Widmungsgewinns. Die wird zum Zeitpunkt der Widmung fällig, so dass Widmungsspekulation unterbunden wird. Die Gelder sind zweckgebunden, sodass damit Entschädigungen möglich sind, wenn Bauland in Grünland rückgewidmet wird.
Über Gernot Stöglehner

Gernot Stöglehner ist Universitätsprofessor für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur und leitet das Institut für Raumplanung, Umweltplanung und Bodenordnung. Er koordiniert den BOKU-Energiecluster und hat in zahlreichen Publikationen gezeigt, warum eine strategische Bodenplanung nicht isoliert von Energie- und ernährungspolitischen Fragen gedacht werden kann. Sein Buch Rettet die Böden. Ein Plädoyer für eine nachhaltige Raumentwicklung erschien 2024.