Die Leider-nein-Leitkultur
Was ist so typisch österreichisch, dass sich auch Zuwanderer damit identifizieren sollten? Sicher nicht die Blasmusik. Ein Plädoyer für einen Katalog von Regeln, an dem sich alle orientieren können.

Auf den Punkt gebracht
- Migration. Ein Drittel der Bevölkerung in Österreich hat Migrationshintergrund, was eine Diskussion über Integrationsregeln nötig macht.
- Leitkultur. Das Konzept einer Leitkultur basiert auf universellen Werten wie Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten.
- Kontroverse. Das Konzept polarisiert: Kritiker sehen es als integrationshemmend, während konservative Politiker es unterstützen.
- Integration. Ein Katalog von Mindeststandards ist entscheidend für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Österreich wird bunter. Rund 3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben einen stärkeren oder schwächeren Bezug zu anderen Kulturen, Traditionen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Sie sind entweder selbst im Ausland zur Welt gekommen. Oder sie haben eine zugewanderte Mutter bzw. einen zugewanderten Vater (oder beides). Zusammen machen sie ein Drittel aller hier lebenden Menschen aus – Tendenz steigend.
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Ein größerer Teil der Zugewanderten und die Mehrzahl der hier geborenen Kinder mit Migrationshintergrund werden auf Dauer in Österreich bleiben: inmitten einer alternden und schrumpfenden einheimischen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Noch ist diese in der Mehrheit; allerdings nicht mehr überall in Österreich. Allein diese Dynamik macht klar, warum es sinnvoll und nötig ist, über gemeinsame Regeln und Prinzipien zu diskutieren, die für alle gelten sollen. Und die auch von allen akzeptiert werden sollten.
Der Politikwissenschafter Bassam Tibi formulierte schon Mitte der 1990er Jahre das Konzept einer gemeinsamen Leitkultur, die eine zunehmend heterogene Gesellschaft zusammenhalten könnte. Seinen Vorschlag verstand Tibi als Gegenentwurf zur Idee einer multikulturellen Gesellschaft, in der ethnisch oder religiös geprägte Identitäten und Wertvorstellungen quasi gleichberechtigt nebeneinander existieren. Tibi warb auch deshalb für seine Idee, weil er befürchtete, dass sich in Europa ein dogmatisch-autoritärer Islam etablieren könnte, dessen Anhängerinnen und Anhänger patriarchalen und vordemokratischen Leitbildern folgten.
Als Gegenbild dazu dienten Tibi die Errungenschaften der europäischen Moderne: Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte, Toleranz und Säkularismus, also die klare Trennung von Staat und Religion(en). Aus europäischer Sicht haben diese Errungenschaften universelle Geltung. Sie beziehen sich auf keine bestimmte Nation, keine religiöse oder ethnische Gruppe. Deshalb sollte es für Menschen unterschiedlicher Herkunft im Prinzip möglich sein, diese Werte zu akzeptieren.
Leitkultur polarisiert
Deutliche Kritik an Bassam Tibis Vorschlag kam sowohl von linksliberaler Seite als auch von Vertretern diverser religiöser Minderheiten. Denn Tibi gibt universellen Werten der europäischen Moderne klaren Vorrang vor allen Wertesystemen, die sich völkisch, religiös, tradionalistisch oder partikular definieren. Dagegen stehen jene, die mehr oder weniger gleichberechtigte Diaspora-Kulturen parallel zur Kultur der Mehrheitsgesellschaft akzeptieren oder zumindest für unvermeidlich halten.
Aus dieser Sicht betont die Leitkultur nicht das Verbindende, sondern markiert eher den Unterschied zwischen einheimischer Mehrheit und zugewanderten oder schon länger hier lebenden Minderheiten. Sie trägt daher nach Ansicht der Kritiker nicht zur Integration bei. Sehr deutlich sprach sich zum Beispiel Anfang der 2000er Jahre Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, gegen die Idee aus. Er wolle nicht, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft bestimmte Leit-Vorstellungen für die im Land lebenden Jüdinnen und Juden definiere. Offizielle Vertreter des Islam waren ebenfalls nicht begeistert.
In der Praxis zeigen sich erhebliche Schwierigkeiten, eine deutsche, österreichische oder sonstige nationale Leitkultur zu definieren.
Auf konservativer Seite wurde Tibis Idee mehrfach zustimmend aufgegriffen. Den Anfang machte 1998 der seinerzeitige Brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). In Jahr 2000 plädierte der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz für eine deutsche Leitkultur. Mehr als ein Jahrzehnt später griff der damals amtierende deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) dieses Thema neu auf.
In Österreich forderte Andreas Khol (ÖVP) als amtierender Nationalratspräsident im Jahr 2006 erstmals die Entwicklung einer eigenen Leitkultur. 2024 versuchte Bundeskanzler Karl Nehammer, diese Debatte neu in Gang zu bringen.
In der Praxis zeigen sich allerdings erhebliche Schwierigkeiten, eine deutsche, österreichische oder sonstige nationale Leitkultur zu definieren. Schönbohm erhoffte sich seinerzeit eine Renaissance preußischer Tugenden. Dazu zählen üblicherweise Gottesfurcht, Ordnung, Fleiß und Bescheidenheit. Gemeinhin gelten diese allerdings nur als „Sekundärtugenden“. Was daran „typisch deutsch“ sein soll, blieb somit unklar.
Zumindest mit Ordnung, Fleiß und Bescheidenheit dürfte sich zum Beispiel auch in Japan, Norwegen oder der Schweiz jeweils eine Mehrheit der Bevölkerung identifizieren können. Thomas de Maizière wurde konkreter. Er stellte 10 Leitkultur-„Gebote“ auf; darunter das Händeschütteln bei der Begrüßung und die Ablehnung der Vollverschleierung von Frauen unter der Burka. Er nannte aber auch: Allgemeinbildung, Leistungsbereitschaft und einen „aufgeklärten Patriotismus“.
Zwischen Brauchtum und Moderne
In Österreich entgleiste die Debatte 2024 kurzfristig auf das Niveau von Brauchtum, Blasmusik, Wiener Schnitzel und Maibäumen als möglichen Inhalten einer heimischen Leitkultur. Entsprechende Vorschläge aus der ÖVP-Parteizentrale hatten wahrscheinlich vor allem die inländische Wählerschaft im Blick. Allerdings distanzierten sich die Blasmusiker umgehend von der politischen Vereinnahmung durch diese Leitkultur-Kampagne. Er könne mit dem Begriff der „Leitkultur nichts anfangen“, ließ Erich Riegler, Präsident des Österreichischen Blasmusikverbands, ausrichten. Selbst Bassam Tibi wäre überfordert, wenn er erklären müsste, was Blasmusik und anderes Brauchtum mit der Idee einer Leitkultur in der Tradition der europäischen Aufklärung zu tun haben.
Zugleich verweist die Auswahl der Sujets und Themen auf zwei tieferliegende Probleme. Zum einen ist österreichisches Brauchtum kein geeignetes Angebot zur Integration. Denn es sollte ja darum gehen, all jenen, die in vormodern-patriarchalen und religiösen Traditionen aufwuchsen, eine klar moderne und aufgeklärte Alternative aufzuzeigen. Gleichberechtigung von Frauen und Männern, das Recht, den eigenen Ehepartner selbst auszuwählen, und die Möglichkeit zum Austritt aus einer Religionsgemeinschaft: all das lässt sich über Glückschweine zu Neujahr, Perchtenläufen, Osterfeuern und Fleischweihe, Sonnwendfeiern, oder dem traditionellen Essen eines Martini-Gansls nicht vermitteln.
Zahlen & Fakten
Zum anderen geht es um die Lebenswelt. Von der einheimischen Bevölkerung Österreichs wohnt noch ein beträchtlicher Teil in ländlichen Regionen, wo traditionelles Brauchtum im Alltag und durch touristische Vermarktung eine gewisse Rolle spielt. Zuwanderer ziehen hingegen vor allem in städtische Regionen. Ihre Lebenswelt unterscheidet sich beträchtlich von jener, in der traditionelles Brauchtum gepflegt wird. Das urbane Österreich, in dem sie sich zurechtfinden müssen und mit dem sie sich identifizieren sollen, ist daher zum Teil ein anderes. Wer beispielsweise in Wien lebt, ist in der entsprechenden Jahreszeit eher mit dem Mai-Aufmarsch der Sozialdemokratie als mit dem Aufstellen von Maibäumen konfrontiert.
Die CDU ist da inzwischen einen Schritt weiter. In einer Debatte zum neuen Grundsatzprogramm sagte Parteichef Merz am 21.3.2024: „Nein, es geht nicht um Brezeln, Leberwurst und Bier. Es geht auch nicht um deutsche Lieder oder deutsches Kulturgut. Wenn die CDU über ‚Leitkultur‘ diskutiert, dann geht es um die Grundwerte unserer Gesellschaft. Darum, was uns verbindet, was uns zusammenhält.“
Wenn man das von Bassam Tibi vorgeschlagenen Konzept ernst nimmt, dann ist klar: eine europäisch geprägte Leitkultur ist nicht national zu verorten, weil sie sich auf universelle Werte beruft. Im Gegensatz dazu betont das Nationalbewusstsein die Besonderheiten, also all das, was eine Nation – angeblich oder tatsächlich – von allen anderen unterscheidet. In einigen Ländern knüpft dies historisch an einen Gründungsmythos an.
Österreich fehlt ein Gründungsmythos
Frankreich feiert alljährlich am 14. Juli die Revolution von 1789 und die damals proklamierten Grundwerte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Auch der Eröffnung der Olympischen Spiele im Juli 2024 in Paris dienten diese drei gesellschaftlichen Grundwerte als Leitmotiv. Die USA feiern alljährlich am 4. Juli die Erklärung ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien und das darin festgelegte Glücksversprechen an alle nun freien Amerikaner. Das Thema Sklaverei wurde damals allerdings ausgeklammert. Die Schweiz vergewissert sich am 1. August ihrer Gründung durch den (historisch nicht belegten) Rütlischwur von 1291; damals eine Befreiung aus feudaler Abhängigkeit. Großbritannien und Frankreich begehen bis heute auch das Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 als nationalen Feiertag.
Österreich fehlt ein solcher „Gründungsmythos“. Dies hat mit der Entstehung der Republik im Jahr 1918 zu tun. Sie verdankte sich einer Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden Zerfall der Donaumonarchie. Die darauffolgende Staatsgründung löste wenig Begeisterung aus. Die alten Eliten und viele Christlich-Soziale haderten mit dem Untergang der Monarchie. Noch kurz zuvor hatten sie in einer Weltmacht den Ton angegeben. Quasi über Nacht fanden sie sich in einem vergleichsweise bedeutungslosen Kleinstaat wieder.
Österreich fehlt ein Gründungsmythos.
Dagegen wussten die Wählerinnen und Wähler einen Ausweg. Volksabstimmungen in mehreren Bundesländern zeigten, dass große Teile der Bevölkerung den sofortigen Anschluss an Deutschland wollten. Nur in Vorarlberg stimmte eine Mehrheit für die Schweiz. Zwar gedachte die Erste Republik ab 1919 alljährlich am 12. November ihrer Gründung, aber dies schuf damals keinen neuen Patriotismus.
Nach 1945 konnte sich die Politik lange auf keinen Nationalfeiertag einigen. Der ursprüngliche Gründungstag der Ersten Republik am 12. November wurde nicht wiederbelebt. Die Wiedererrichtung als Zweite Republik im April 1945 schied ebenfalls aus, weil ein beträchtlicher Teil der österreichischen Bevölkerung das Kriegsende als neuerliche Niederlage in einem Weltkrieg empfand. Allzu viele sahen in den Alliierten keine Befreier, sondern Besatzer. Somit gab es für viele auch nichts zu feiern.
Voll souverän wurde Österreich erst wieder durch den Staatsvertrag mit den Alliierten. Dessen feierliche Unterzeichnung am 15. Mai 1955 hätte wohl genug positive Symbolkraft gehabt, um einen österreichischen Nationalfeiertag zu begründen. Aber dies scheiterte nicht zuletzt am pragmatischen Einwand, dass es im Mai ohnedies schon genug Feiertage gebe. Die Wahl fiel erst Jahre später auf den 26. Oktober 1955. An diesem Tag beschloss der Nationalrat das Gesetz über Österreichs immerwährende Neutralität. Anfangs galt dies als wenig populärer „Preis“, den Österreich für den Abzug der Roten Armee zahlen musste. Erst mit der Zeit gewann Österreichs Neutralität immer mehr Anhänger. 1968 war es dann so weit: der 26. Oktober wurde zum Nationalfeiertag erklärt.
Trotz einer gewissen Unbestimmtheit gibt es ein österreichisches Nationalbewusstsein.
Österreich stehen keine gewonnen Unabhängigkeits-Kriege, keine erfolgreiche Revolution und keine glorreiche Wiedervereinigung als „Geburtsstunde“ der Nation zur Verfügung. Auch die Neutralität – sie wird heute immerhin von 70% der heimischen Bevölkerung befürwortet – taugt wohl nicht als Fundament für eine gemeinsame Österreich-Identität. Als Identifikations-Angebot an die zugewanderte Bevölkerung ist sie ebenfalls ungeeignet. Die große Mehrheit der Zugewanderten stammt aus NATO-Staaten und kann mit dem Konzept der Neutralität zweifellos nicht viel anfangen.
Trotz einer gewissen Unbestimmtheit gibt es ein österreichisches Nationalbewusstsein. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Sportereignissen. Fast ganz Österreich steht hinter der heimischen Fußball-Nationalmannschaft, den heimischen Schifahrern und Schispringern oder einem Formel-1-Piloten à la Niki Lauda. Was jedoch das typisch Österreichische zwischen Bodensee und Neusiedler See im Detail ausmacht und worauf alle stolz sein sollten, ist weniger klar. Stärker ausgeprägt und historisch viel länger gewachsen sind in Österreich regionale Identitäten. Doch sie erleichtert nicht unbedingt die Integration von Zugewanderten, weil solche Identitäten und Zuschreibungen der Zugehörigkeit meist mit der Herkunft aus dieser Region verbunden sind.
Eine Hausordnung muss her
Wenn in Österreich nun darüber nachgedacht wird, was die Menschen in diesem Land typischerweise verbindet bzw. verbinden sollte, dann dient dies in erster Linie der Selbstvergewisserung. Entscheidend für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund wäre hingegen ein Katalog von Mindeststandards und Verhaltensregeln im Umgang miteinander, an dem sich alle orientieren können. Es geht also um eine gemeinsame „Hausordnung“, an die sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition zukünftig halten sollten. Im Gegensatz zu den Straßenverkehrsregeln werden sich die Regeln diese Hausordnung keineswegs alle rechtlich verankern lassen.
Vollständige Integration der Zugewanderten und ihrer Kinder kann es ohne politische Rechte sowie staatsbürgerliche Pflichten nicht geben.
Längerfristig wird für das Zusammenleben und das gesellschaftliche Klima jedenfalls zweierlei entscheidend sein. Erstens geht es darum, wie weit sich die zugewanderte Bevölkerung mit Österreich, seiner politischen Grundordnung und seinen demokratischen Werten identifizieren kann und will. Klarster Ausdruck dieser Identifikation ist jedenfalls der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft. Denn wer auf Dauer im Land bleibt, soll sich nicht bloß über „Hausordnung“ zugehörig fühlen, sondern tatsächlich dazugehören. Nur eine Einbürgerung sichert die Möglichkeit zu voller – auch staatsbürgerlicher – Teilhabe.
Vollständige Integration der Zugewanderten und ihrer Kinder kann es ohne politische Rechte sowie staatsbürgerliche Pflichten nicht geben. Dies setzt zweitens voraus, dass integrierte Zuwanderinnen und Zuwanderer sowie deren Kinder von der einheimischen Mehrheit als gleichberechtigte Mitbürger anerkannt und unabhängig von ihrer Herkunft im Alltag als solche akzeptiert werden. Auch das gehört zur „Hausordnung“.
Conclusio
Vielfalt.Österreich wird immer vielfältiger: Rund ein Drittel der Bevölkerung hat Migrationshintergrund. Dies stellt die Gesellschaft vor die Herausforderung, gemeinsame Regeln und Prinzipien zu definieren, die von allen akzeptiert werden.
Leitkultur.Das Konzept einer Leitkultur basiert auf universellen Werten wie Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten und soll eine heterogene Gesellschaft zusammenhalten. Das Konzept polarisiert jedoch: Linksliberale und Vertreter religiöser Minderheiten kritisieren es, während Konservative es unterstützen.
Hausordnung. Entscheidend für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund wäre hingegen ein Katalog von Mindeststandards und Verhaltensregeln im Umgang miteinander, an dem sich alle orientieren können. Es geht also um eine gemeinsame „Hausordnung“.