Das wiedergefundene Glück des Lesens
Eben noch galt das Buch als verschwindendes Medium. Doch die Prognosen waren falsch, der Buchmarkt floriert: Die jüngeren Generationen lesen viel und gerne.
Auf den Punkt gebracht
- Buchmarkt. Die Buchmessen in Leipzig, Berlin und Wien haben gezeigt, dass der Buchmarkt boomt – und das entgegen vieler Prognosen.
- Digitalisierung. E-Books und Hörbücher haben sich als Bereicherung herausgestellt, nicht als Menetekel für das Buch.
- Reality-Check. Der Markt für E-Books hat sich nur in wenigen Segmenten entwickeln können, gibt dem Buch insgesamt aber einen Push.
- Weibliches Publikum. Vor allem junge Frauen sind Buch-Leserinnen, und sie geben dem Buch auf Instagram & Co. die ganz große Bühne.
Kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse hörte ich eine Buchhändlerin zur anderen sagen: „Der Hype ist zurück.“ Angesichts von endlosen Schlangen vor den Signiertischen, überfüllten Messehallen und von Teenagern belagerten Verlagsständen scheint es tatsächlich so zu sein: Das gute alte Buch löst wieder einen Hype aus. Wie bitte?
Mehr Medien
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Noch vor gut fünfzehn Jahren prophezeite der US-Journalist und Medienexperte Jeff Jarvis öffentlichkeitswirksam den Tod des Buches. In seinem Buch [sic!] „Was würde Google tun?“ sagt er: „Wir müssen über Bücher hinwegkommen, erst dann können wir sie neu erfinden.“
Eine Zeit lang schien es, als würde Jarvis’ Prophezeiung eintreffen. Mit der Einführung des Kindle eReaders 2011 waren plötzlich auf einem Gerät Millionen von E-Books verfügbar, und als Amazon die E-Book-Flatrate einführte, sahen viele schon dem Ende der Buchwelt, wie wir sie kannten, entgegen.
Digitale Erweiterung: E-Book
Doch das Begräbnis konnte zum Glück abgesagt werden. Gedruckte Bücher behaupten sich – und zwar, das ist vielleicht die größte Überraschung, auch bei jungen Lesern.
Bibliotheken: Alles außer veraltet
Das liegt nicht etwa daran, dass E-Books eine schlechte Idee wären, im Gegenteil. Tatsächlich gibt es viele innovative Formate und noch mehr neue Geräte, auf denen Bücher online zur Verfügung stehen. Gegen eine solche Entwicklung ist beim besten Willen nichts einzuwenden, ermöglicht sie doch Menschen das Lesen, die beim gedruckten Buch das Nachsehen haben.
Zahlen & Fakten
Personen mit einer Sehbehinderung beispielsweise können die benötigte Schriftgröße bei E-Books selbst einstellen oder sich den Text digital vorlesen lassen. Auch für Menschen, deren Mobilität eingeschränkt ist und die nicht so einfach im Buchladen um die Ecke stöbern können, erleichtern E-Books den Zugang zu Informationen und Unterhaltung.
Um E-Books für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu optimieren, hat der Börsenverein des deutschen Buchhandels eine Taskforce eingerichtet, die eine Handreichung für Verlage vorgelegt hat. So betrachtet ist das E-Book also eher eine Erweiterung des gedruckten Buchs, die eine inklusivere Nutzung seiner Inhalte möglich macht.
Altes Medium, junge Leser
Der Buchhandel im deutschsprachigen Raum beobachtet allerdings eine Plateaubildung im Verkauf von E-Books, der sich bei sechs bis acht Prozent des gesamten Umsatzes eingependelt hat. Prognostiziert waren einst 25 Prozent. Laut Börsenverein geht die Zahl der Käufer digitaler Bücher sogar zurück, dafür steige aber die Kaufintensität.
Weniger Menschen kaufen also mehr E-Books. Die Gefahr, die einst vom digitalen Bruder der gedruckten Schrift auszugehen schien, ist daher vorerst gebannt. Übrigens widerrief Jeff Jarvis sein pessimistisches Statement kurz vor der heurigen Frankfurter Buchmesse in der US-Zeitschrift „The Atlantic“. Sein Text trug den Titel: „Ich lag falsch mit dem Tod des Buches, und Umberto Eco hatte recht.“
Der italienische Schriftsteller hatte damals, in Replik auf den von Jarvis prophezeiten Untergang des Buches, lapidar geantwortet, das Buch sei eine Sache wie der Löffel, die Schere, der Hammer oder das Rad. Einmal erfunden, unmöglich verbesserbar.
Und ist das unverbesserbare Objekt nicht auch ein herrlich sinnliches zugleich? Das angenehme Gefühl, wenn die Finger über den Einband streichen, der süßliche Geruch von Papier und Druckfarbe, das leise Knistern beim Aufklappen und das Rascheln der Seiten beim Blättern: All das ist nicht zu ersetzen. Ähnliches gilt für das Cover. Ob wir das wollen oder nicht, wir beurteilen doch jedes Buch nach seiner Anmutung auf der Umschlagseite. Denn über deren Gestaltung lässt sich erahnen, wie der Verlag den Inhalt einschätzt und welche Leser erreicht werden sollen.
Die Langsamkeit des Lesens
Hier zeigt sich, dass das Medium die Message ist. Ein Buch zu lesen bedeutet viel mehr, als nur die darin enthaltenen Informationen aufzunehmen. Die Lektüre ist auch ein entschleunigender Genuss.
Dass vor allem junge Menschen nicht mehr lesen, hält sich als vermeintliche Gewissheit unter den Bibliophilen besonders hartnäckig.
Laut Börsenverein geht die Zahl der Buchkäufer tatsächlich in allen Altersgruppen zurück. Aber die verbliebenen Kunden geben dafür deutlich mehr Geld aus als früher. Das trifft in besonderem Maße auf die Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen zu. Die Jungen kaufen mehr Bücher – wer hätte das gedacht!
Der zu Beginn angesprochene Hype bezieht sich auf Bücher, die eine ganz bestimmte junge Leserinnenschaft ansprechen – und das Femininum ist hier bewusst gewählt, denn es handelt sich vor allem um junge Frauen. Buchempfehlungen für diese Zielgruppe funktionieren nicht über das Feuilleton großer Tageszeitungen oder über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sie kommen von Social-Media-Plattformen, insbesondere von TikTok.
Die Bestseller aus dem Netz
Unter dem Hashtag #BookTok wird eine riesige Community mit Buchempfehlungen und Lesetipps versorgt. Hier werden Bestseller gemacht. Seit ein paar Monaten gibt es sogar eine eigene #BookTok-Bestsellerliste. Das Revolutionäre an dieser Entwicklung ist, dass erstmals Verkaufszahlen von Media Control und die Anzahl der Views von hochgeladenen Videos auf der Plattform kombiniert werden und so Trends ermittelt werden können, die unmittelbar Einfluss auf die gesamte Branche nehmen.
Große Buchhandlungen richten eigene #BookTok-Regale ein, Verlage gründen eigene Labels, in denen Autorinnen mit immenser Followerschaft angeworben und Trends für Cover und Ausstattung umgesetzt werden.
Gute Chancen auf einen Platz auf der #BookTok-Bestsellerliste haben neben Ratgeber- und Selbsthilfeliteratur vor allem „Romance“ und „Fantasy“ in allen möglichen Mischformen. Ganz besonders gefällt mir ein neues Genre, das unter dem Neologismus „Romantasy“ läuft. Verlage, die es auf die BookTok-Community abgesehen haben, sparen nicht an der Ausstattung und noch weniger am Marketing für diese Bücher. Metallicfolie, Prägung, Relieflack und ein bunter Farbschnitt sind keine Seltenheit; es wird mit lieblicher Verzierung geballert, wo es nur geht.
Zahlen & Fakten
Manche Druckereien haben für die nächsten Jahre keine freien Slots mehr für Farbschnitte, die es noch vor einigen Jahren aus Kostengründen nur bei hochpreisigen Sondereditionen gab. In Buchhandlungen stehen extra #BookTok-Tische, auf denen man aufwendig verpackte Bücher auswählen kann, um sie dann live in einem Video mit entsprechendem Hashtag auszupacken.
Chance für kleine Verlage
Das Buch ist als Objekt wieder interessant geworden, weil es sich auf den bildgetriebenen Social-Media-Plattformen gut präsentieren lässt. Es hat also die Fähigkeit bewiesen, frei nach Eco, sich den neuen Kommunikationswegen der Menschen anzupassen, ohne sein Konzept zu ändern. Die beliebtesten Genres bieten große Gefühle und die Möglichkeit zu Eskapismus, Ablenkung, vielleicht sogar Trost. Das mag zwar seichte Unterhaltung sein, die im Feuilleton für Naserümpfen sorgt.
Tiefe Konzentration im Kollektiv
Aber den Fans von Colleen Hoovers (US-Bestsellerautorin mit Titeln wie „Slammed“ oder jüngst „Summer of Hearts and Souls“) dürfte das herzlich egal sein. Und den Verlagen hilft es im Zweifel auch dabei, sperrigere, dafür aber literarisch hochwertige Werke mit den #BookTok-Gewinnen zu finanzieren.
Für kleinere unabhängige Verlage wie jenen, in dem ich beschäftigt bin, sind diese Massenphänomene ein Schauspiel, das sie lediglich aus der Zuschauerloge verfolgen können. Aber das ist in Ordnung. Die insgesamt gestiegene Aufmerksamkeit für das gedruckte Buch und für das Lesen im Allgemeinen kommt auch uns zugute. Und ab und an entdecken Social-Media-Fans auch Werke aus Indie-Verlagen, die dann besonders aus dem Mainstream hervorstechen.
Papier statt Bildschirm
Vor den negativen Auswirkungen neuer Kulturtechniken oder Medien wurde schon zu Sokrates’ Zeiten gewarnt. Und während es damals die geschriebene Sprache war, die Angst vor dem Niedergang der Kultur heraufbeschwor, sind es heute neue Technologien, die das Buch revolutionieren könnten. Aber egal, ob wir zukünftig holografisch in Bücher eintauchen oder Friederike Mayröcker als Künstliche Intelligenz an ihrem Schreibtisch konsultieren können, es wird wohl immer eine Wohltat sein, zwischendurch den Stecker zu ziehen und alle Sinne zu kraulen – mit der Lektüre eines Buchs.
Conclusio
Bedrucktes Papier habe keine Zukunft, dachten viele, als die Digitalisierung Fahrt aufnahm und die Medienlandschaft umkrempelte. Doch während die Auflagen von Printmagazinen tatsächlich rund um den Globus sinken und manche Zeitungen eingestellt werden, bleibt der Buchmarkt von dieser Abwärtsspirale unberührt. Die Frankfurter Buchmesse ist ein Indikator dafür. Wie sich dort zeigt, begeistern sich vor allem junge Frauen wieder ganz stark für Bücher. In den letzten Jahren sind vollkommen neue Genres für ein junges Publikum entstanden. Die Nachwuchsleser teilen ihre Begeisterung für Fantasy und Romance in den sozialen Medien; vor allem auf TikTok gibt es riesige Fan-Communitys. Die Verlage haben begonnen, das Werbepotenzial von BookTok & Co zu entdecken, und beschreiten damit neue Wege in der Vermarktung.