Chinas Appetit auf Teile Russlands

Weite Gebiete im Norden musste einst China Russland abtreten. Bis 2049 will Xi Jinping sein Land in seinen alten Grenzen aus dem Kaiserreich wiederherstellen. Der Krieg in der Ukraine spielt Peking dabei in die Hände.

Luftaufnahme der russischen Hafenstadt Waldiwostok. Die Lichter der Häuser schimmern in der Dämmerung, das Meer entlang der Küste ist vereist. Das Bild illustriert eine Beitrag darüber, was China Russland an Territorien historisch abspricht.
Wladiwostok war einst Teil des chinesischen Kaiserreichs. Heute ist es eine strategisch wichtige Hafenstadt für Russland. Auf neuen Karten weist Peking den chinesischen Ortsnamen dafür aus: Heishenwei. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Grenzziehung. Die Kommunistische Partei veröffentlicht jährlich eine „Standardkarte“, die teils international umstrittene Gebietsansprüche untermauert.
  • Aufstieg. China will auf dem Weg zurück zur Großmacht auch verlorene Gebiete aus der Kaiserzeit zurück.
  • Ressourcen. Durch Migration und wirtschaftliche Aktivitäten im russischen Fernen Osten sichert sich Peking bereits heute wichtige Rohstoffe.
  • Machtkalkül. China nutzt Russlands Abhängigkeit durch westliche Sanktionen, um seinen Einfluss und Zugang zu Bodenschätzen zu erweitern.

Ende August veröffentlicht die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) voraussichtlich eine aktualisierte Version ihrer „Standardkarte“, um ihre wachsenden Gebietsansprüche darzustellen. Die Nachbarn sehen darin ein unheilvolles Zeichen für Chinas imperialistische Bedrohung. Aber für die Partei ist sie ein nahezu heiliges Dokument, das Chinas historische Ansprüche und die Vision verkörpert, welche verlorenen Gebiete zurückgeholt werden müssen. All das steht unter dem Banner der „nationalen Verjüngung“ – ein zentrales Konzept von Xi Jinping, das die Wiederherstellung des Landes als dominierende Großmacht bis zum hundertjährigen Jubiläum der Volksrepublik 2049 anstrebt.

In der aktuellen Fassung der Standardkarte, die im Vorjahr veröffentlicht wurde, waren auf einmal acht russische Städte entlang der chinesisch-russischen Grenze mit ihren chinesischen Namen versehen. Wladiwostok heißt „Haishenwai“. Chabarowsk, die östlichste Stadt Russlands, „Bólì“. Bolshoi Ussuriysky – die Insel Hiexiazi auf Chinesisch – die vorgeblich von Moskau und Peking gemeinsam genutzt wird, wird als rein chinesisch bezeichnet. Chinas „nationale Verjüngung“ wäre ohne die einst an Russland verlorenen Gebiete unvollständig.

Was China Russland nachträgt

China und Russland rühmen sich nun einer „no-limits Partnerschaft“. Auch Peking unterstützt und bewaffnet Moskaus Aggression in der Ukraine. Doch China hat ein langes Gedächtnis ­– und Geduld. In drei Verträgen aus dem 19. Jahrhundert ­– Aigun (1858), Peking (1860) und Tacheng (1864) – trat China 1,5 Millionen Quadratkilometer an Russland ab, darunter ein riesiges Gebiet nördlich des Amur Flusses und im Fernen Osten an der Grenze zum Pazifik. Die Spannungen über diese Grenzen traten in den 1960er Jahren wieder auf, wurden aber vermeintlich durch einen endgültigen Grenzverlaufspakt im Jahr 2008 beigelegt.

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Zahlen & Fakten

Für Chinas Nationalisten, zu denen wahrscheinlich auch Xi Jinping selbst gehört, gelten die Verträge, durch die Russland die Gebiete erworben hat, jedoch als „ungleich“. Die Kartenerstellung der KPCh untermauern diesen Befund. In chinesischen Schulbüchern werden die von Russland erworbenen Gebiete immer noch als chinesisches Territorium dargestellt. Auch innerhalb der chinesischen Gesellschaft fordert eine wachsende neo-nationalistische Bewegung die Rückgabe dieser Territorien. Nach der Veröffentlichung der neuesten nationalen Landkarte meldeten sich einige Nationalisten in den sozialen Medien zu Wort. „Das durch ungleiche Verträge abgetretene Heimatland wird zurückerobert werden“, schrieb ein Kommentator mit 54.000 Followern auf der Blogging-Plattform Baijiahao. „Vergiss niemals unsere nationale Schande“, schrieb ein anderer.

Bislang hat Peking solche Äußerungen unterdrückt. Derzeit bestehen kaum Anreize, seine früheren Gebiete zurückzuerobern. Peking ist vorerst froh über sein Bündnis mit einer anderen revisionistischen Macht, geeint durch die gemeinsame Verachtung des Westens. Abgesehen davon, festigt China seinen Einfluss in den einst verlorenen und möglicherweise zukünftigen Gebieten mit anderen Mitteln.

Russisches Land, chinesisches Korn

Im späten neunzehnten Jahrhundert, als Chinas Bevölkerung in der nordöstlichen Region stark zunahm, begannen chinesische Migranten, in den russischen Fernen Osten zu ziehen. Sie arbeiteten an der Transsibirischen Eisenbahn, im Hafen von Wladiwostok, in der Landwirtschaft und im Bergbau. Im Jahr 1910 machten sie 41 Prozent der registrierten Arbeitskräfte in den Regionen Amur und Primorje aus, obwohl die inoffizielle Zahl wahrscheinlich höher war, da viele Chinesen als saisonale Grenzgänger arbeiteten. Im Jahr 1937 lebten rund 24.600 Chinesen im Fernen Osten Russlands.

Die stalinistischen Massendeportationen in den 1930er Jahren haben diese demografische Entwicklung umgekehrt. Doch seit Anfang der 2000er Jahre zogen wieder mehr Chinesen in die Grenzregionen. Angetrieben durch das Wirtschaftswachstum Chinas und die steigende Nachfrage nach Lebensmitteln haben chinesische Bauern wieder begonnen, in den Fernen Osten Russlands zu ziehen. Dort betreiben sie in großem Stil mechanisierte Landwirtschaft und ernten Getreide für den Export nach China. Bereits 2013 pachteten oder kontrollierten chinesische Agrarunternehmen rund 600.000 Hektar Land im Fernen Osten ­– die Fläche ist unter Xi noch weiter gestiegen.

Drei Kosaken in Uniform in einer Winterlandschaft nahe der sino-russischen Grenze im Jahr 2001. Das Bild ist Teil eines Beitrags darüber, was China Russland an Territorien abspricht.
Drei Kosaken in Uniform im Jahr 2001 im Grenzgebiet zwischen Russland und China. Sie wurde damals in die entlegene Gegend geschickt, um illegale Migranten aus China aufzufangen. © Getty Images

China, das als größter Lebensmittelimporteur der Welt nur über zehn Prozent Ackerland verfügt und zudem eingeschränkte Wasserressourcen hat, betrachtet die Ernährungssicherheit seit langem als eine wesentliche Herausforderung. Unter Xi ist sie zu einer „obersten nationalen Priorität“ geworden, wobei der Schwerpunkt auf Getreidesicherheit liegt. Die KPCh will bis spätestens 2050 eine „absolute Selbstversorgung“ mit Grundnahrungsmitteln wie Reis und Weizen und eine „grundlegende Selbstversorgung“ bei Getreide insgesamt erreichen. Hierfür sind die drei Millionen Hektar Ackerland in Russlands Fernen Osten von zentraler Bedeutung.

Peking verwandelt Russland nach und nach in seine Speisekammer.

Im Oktober unterzeichneten Peking und Moskau ein 25-Milliarden-Dollar-Getreideabkommen, in dem sich Russland verpflichtete, China in den nächsten zwölf Jahren mit 70 Millionen Tonnen Getreide, Hülsenfrüchten und Ölsaaten zu beliefern. Das Abkommen ebnet den Weg für die Ausweitung der chinesischen Landpacht im Fernen Osten sowie für gemeinsame Infrastrukturprojekte wie Transitkorridore in Sibirien und im Fernen Osten für den Transport großer Frachtmengen und spezialisierte Terminals wie das 160 Millionen Dollar teure Getreideterminal Nishneleninskoje-Tongjiang, das Wladiwostok mit der chinesischen Provinz Heilongjiang verbinden wird. Peking verwandelt Russland nach und nach in seine Speisekammer. Auch unter dem Deckmantel der landwirtschaftlichen Zusammenarbeit erlangt China ehemals von ihm beherrschte Gebiete zurück.

Gebietsansprüche: Ressourcen für die Verjüngung

Die Region Chabarowsk jenseits der Grenze zu Heilongjiang – die China im Rahmen des Vertrags von Aigun abgetreten hat und deren Hauptstadt Chabarowsk es „Boli“ nennt - hat im vergangenen Jahr einen Rekord bei der Kohleförderung aufgestellt. Der größte Teil wird nach China exportiert. Die Region ist auch reich an Erdgas, Holz und Zinn. Im Jahr 2022 investierte China rund 1,6 Milliarden Dollar in 26 neue Projekte in der Region, darunter eine Goldmine in Tuguro-Chumikansky, eine Verarbeitungsanlage für Zinnerz in Solnechnaya und die Erschließung der Kupferlagerstätte Malmyzhsky.

Die Malmyzhsky-Lagerstätte gilt als eines der größten Kupfer-Gold-Projekte der Welt, mit geschätzten Kupferreserven von rund 8,32 Millionen Tonnen – ein gutes Drittel der jährlichen weltweiten Fördermenge. China nutzt seine ehemaligen kaiserlichen Gebiete nicht nur, um seine Bevölkerung zu ernähren, sondern beutet deren natürliche Ressourcen strategisch aus, um sein Militär und seine Wirtschaft auf seinem Weg zur „nationalen Verjüngung“ zu stärken. Kupfer zum Beispiel ist ein wichtiger Bestandteil von Munition wie Artilleriegeschossen und Gewehrkugeln. Zinnerz wird in militärischen Kommunikationssystemen verwendet. Und Gold ist im Allgemeinen eine nützliche wirtschaftliche Absicherung gegen westliche Sanktionen im Falle eines Krieges.

Die Ironie von Putins Ansprüchen auf die Ukraine besteht darin, dass sie sein Land von einer Nation abhängig gemacht haben, die ähnliche Ansprüche auf Teile Russlands erhebt.

Chinas Zugang zu Russlands natürlichen Ressourcen wurde durch Moskaus eigene revisionistische Ziele in der Ukraine begünstigt. Präsident Wladimir Putin begann bereits 2012, sich nach Osten zu wenden. Diese Neuorientierung gewann nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 an Dynamik und hat sich seit dem Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 noch verstärkt – auch weil die westlichen Sanktionen Moskau dazu zwangen, seine Exportmärkte zu diversifizieren. Im vergangenen Jahr stiegen beispielsweise die russischen Ölexporte nach China um 23 Prozent auf 2,15 Millionen Fass pro Tag, was Russland zum größten Rohöllieferanten Chinas machte.

Putin hat seitdem seinen Wunsch geäußert, den Handel mit China auszuweiten. Die Ironie seiner Ansprüche auf die Ukraine besteht darin, dass sie das Land von einer Nation abhängig gemacht haben, die ähnliche Ansprüche auf Teile Russlands erhebt.

Sibirien, wir kommen

Der strategische Vorteil für Peking besteht also darin, dass es sich durch die Abhängigkeit von Moskau Zeit verschafft. China kann Ressourcen abbauen, russische Ländereien bewirtschaften und seinen Einfluss ausweiten, ohne offenkundige Gebietsansprüche erheben zu müssen. Doch irgendwann vor 2049 könnte Peking die Zeit für reif halten, dies zu ändern. Schließlich kann Xis Ziel der „vollständigen Wiedervereinigung“ Chinas, das nach seinen Worten „verwirklicht werden wird und verwirklicht werden kann“, nicht ohne Regionen unter russischer Kontrolle erreicht werden.

Wie eine solche Rückeroberung aussehen könnte, ist unklar. Wie anderswo auch, zieht es China vor, militärische Konflikte so weit wie möglich zu vermeiden. In Russland wendet es daher sogenannte Grauzonentaktiken an, in der Hoffnung, militärische Aktionen überflüssig zu machen. Außerdem sichert es sich Infrastrukturen mit doppeltem Verwendungszweck, die bei Bedarf für militärische Zwecke umgewandelt werden könnten. Im vergangenen Juni gewährte Moskau Peking beispielsweise Rechte am Hafen von Wladiwostok für den Binnenhandel. Kurz darauf legten chinesische Marineschiffe zu einem „Freundschaftsbesuch“ an. Es ist schwer, einem eingeladenen Feind zu widerstehen.

Die Ungewissheit über die mögliche Wiedervereinigung Chinas mit seinen russischen Ländern wird durch die Sorge um Russlands Stabilität noch verstärkt. Obwohl die Wirtschaft des Landes durch die Verteidigungsausgaben während des Krieges in der Ukraine angekurbelt wurde, sind die langfristigen Aussichten weniger rosig. Die schrumpfende und alternde Bevölkerung und die internen Spannungen zwischen Moskau und seinen Regionen könnten sich ebenfalls zu Pekings Gunsten auswirken. Zumindest ließe sich ein stark geschwächtes Russland wahrscheinlich leichter dazu bewegen, seine Gebiete abzutreten. Im Moment ist dies jedoch noch eine ferne Aussicht. Dennoch wäre Moskau gut beraten, künftige Auflagen von Chinas „Standardkarte“ im Auge zu behalten.

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Conclusio

Jeden August veröffentlicht die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine aktualisierte „Standardkarte“, die auch Chinas Gebietsansprüche, auch gegenüber Russland, widerspiegelt. Diese Karte symbolisiert die Vision der „nationalen Verjüngung“ und die Rückholung verlorener Gebiete bis 2049. Historisch abgetretene Gebiete an Russland werden in chinesischen Schulbüchern als chinesisches Territorium dargestellt, und eine neo-nationalistische Bewegung fordert deren Rückgabe. Obwohl Peking derzeit keine militärische Rückeroberung anstrebt, nutzt es wirtschaftliche und infrastrukturelle Kooperationen, um seinen Einfluss in diesen Regionen zu festigen. Peking investiert auch stark in die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in diesen Gebieten. Die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland, verstärkt durch Moskaus Abhängigkeit nach westlichen Sanktionen, verschafft Zeit und Möglichkeiten für China Russland unter Druck zu setzten, ohne offene Gebietsansprüche zu erheben.

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