So sichert sich China den Osten Russlands

Russland ist durch den Krieg gegen die Ukraine noch abhängiger von China. Peking will eine Niederlage seines Verbündeten verhindern, um die Stabilität im benachbarten Osten des Landes zu gewährleisten.

Luftaufnahme von der ostrussischen Hafenstadt Wladiwostok.
Die Hafenstadt Wladiwostok im Osten Russlands ist ein wichtiges Drehkreuz für den Handel mit China. Außerdem beheimatet sie Russlands Pazifikflotte. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Folgenreich. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine beeinflusst die Konfrontation zwischen den USA und China rund um Taiwan.
  • Wirtschaftsinteressen. China profitiert von russischen Ressourcen und möchte eine Destabilisierung Russlands verhindern.
  • Sicherheitsfrage. Peking will für den Ernstfall die pazifische Flotte Russlands auf seiner Seite wissen.
  • Szenarien. Russland könnte neuerlich eine tiefe Invasion der Ukraine starten, zerfallen oder zumindest stark geschwächt werden.

Der Ausgang des russischen Krieges gegen die Ukraine wird sich nicht nur auf die Sicherheitslage in Europa auswirken. Am östlichen Ende der Russischen Föderation werden die Kriegsfolgen auch die geopolitische Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten beeinflussen. Mit der Verschärfung des Taiwan-Konflikts wird die Frage, wer den russischen Fernen Osten kontrolliert, stärker in den Fokus rücken. Grund dafür ist der Zugang zu Ressourcen für die chinesische Wirtschaft und die Präsenz der russischen Pazifikflotte.

Im Februar 2012 sprach der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin davon, für die russische Wirtschaft „chinesischen Wind einzufangen”. Um im 21. Jahrhundert wettbewerbsfähig zu sein, müsse Russland näher an Asien rücken. Im Einklang mit diesem „Pivot to Asia” war er im September desselben Jahres Gastgeber des Gipfeltreffens der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (APEC) in Wladiwostok.

Im folgenden Jahrzehnt spielte der Ferne Osten eine immer wichtigere Rolle in den chinesisch-russischen Beziehungen. Die Region lieferte einen wichtigen Teil der Rohstoffe für die schnell wachsende chinesischen Wirtschaft. Stimmen in China bezeichneten Russland als das „nördliche Ressourcenterritorium” des Reichs der Mitte. Diese Bezeichnung deutet darauf hin, dass China den weit größeren Vorteil des verstärkten Handels genießt.

Gute Deals

Peking wichtige Verträge über Energielieferungen aus den östlichen Regionen Russlands geschlossen, darunter einen 25-Jahres-Vertrag über Öl im Wert von 270 Milliarden US-Dollar mit dem russischen Unternehmen Rosneft im Jahr 2013 und einen 30-Jahres-Vertrag über 400 Milliarden US-Dollar für die Erdgaspipeline Power of Siberia mit Gazprom im Jahr 2014. Obwohl es sich bei den Preisen in diesen Verträgen um Geschäftsgeheimnisse handelt, wird allgemein angenommen, dass hartnäckige Verhandlungen die Volksrepublik begünstigt haben.

Russische Beobachter vor Ort beschweren sich darüber, wie Moskau sich an Peking verkauft.

Russische Beobachter vor Ort beschweren sich darüber, wie Moskau sich an Peking verkauft. In den Worten von Professorin Tatyana Zabortseva vom Sibirischen Institut für Geographie ist Ostsibirien zu einer „Rohstoff-Vorratskammer” für China geworden. In der Region Irkutsk, in der sich das riesige Kovytka-Gasfeld befindet, das die Pipeline nach China speist, haben die Einheimischen keinen Nutzen aus dem Gas, sie sind auf Brennholz und Kohle zum Heizen angewiesen.

Abgesehen davon, dass es sich zu Tiefstpreisen an russischen Ressourcen bedient, hat Peking wenig Interesse daran, direkte Investitionen in Russland zu tätigen. Die einzigen Ausnahmen waren Projekte, die schädliche Folgen für die Umwelt haben. Die russische Seite war auch nicht in der Lage, den Ressourcen, die sie abbaut, einen großen Mehrwert zu verleihen. Dies führt etwa zur räuberischen Abholzung des russischen Waldgürtels, das Rundholz wird in China weiterverarbeitet. Russland betreibt keine einziges Papierwerk in der Region.

Engere militärische Zusammenarbeit

Peking begrüßte auch, dass die russischen Pazifikflotte mit der chinesischen Marine enger zusammenarbeiten. Seit 2013 finden gemeinsame Manöver statt. Im August dieses Jahres fuhr ein Konvoi aus sechs chinesischen und fünf russischen Kriegsschiffen zwischen den japanischen Inseln Okinawa und Miyako ins Ostchinesische Meer. Obwohl die Schiffe nicht in japanische Hoheitsgewässer eindrangen, war es das erste Mal, dass ein gemeinsames chinesisch-russisches Geschwader dort passierte. Die Botschaft an die USA und ihre regionalen Verbündeten war laut und deutlich.

Nach der groß angelegten Invasion in der Ukraine hat sich die Abhängigkeit Russlands von China verstärkt. Obwohl der zusätzliche Handel mit dem Reich der Mitte den verlorenen Austausch mit dem Westen ausgeglichen hat, wird ein Großteil dieses Geschäfts in chinesischer Währung abgewickelt. Dadurch entgehen Russland Einkünfte in US-Dollar, wodurch wiederum der Rubel abschwächt und die Inflation im Land steigt. Das chinesische Interesse am Abschluss eines Abkommens über eine Power of Siberia II-Pipeline blieb verhalten, und die russischen Hoffnungen auf offene militärische Unterstützung wurden nicht erfüllt.

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Zahlen & Fakten

Während diese Entwicklungen beweisen, dass die „unbegrenzte Freundschaft” zwischen den beiden Verbündeten klare Grenzen hat, gibt es Anzeichen dafür, dass die heimliche chinesische Unterstützung für das russische Militär zunimmt. Ein klarer Sieg der Ukraine würde eine große Ablenkung für die NATO beseitigen und es den USA ermöglichen, sich entschieden auf China zu konzentrieren. Ein Zusammenbruch der Russischen Föderation würde jedoch noch schlimmere Folgen haben und die Frage aufwerfen, welche Rolle der russische Ferne Osten im Falle einer größeren Konfrontation um Taiwan spielen würde.

Könnte Peking weiterhin auf den Zugang zu wichtigen Energielieferungen und auf die Unterstützung durch die russische Pazifikflotte zählen? Daher ist es für China so wichtig, wer den russischen Fernen Osten kontrolliert. Die Entwicklung kann nach verschiedenen Szenarien verlaufen, darunter zwei unwahrscheinliche Extreme und ein wahrscheinlicherer Mittelweg:

1.     Russland als großes Nordkorea

Könnte Russland irgendein Resultat in der Ukraine als Sieg für sich verbuchen, hätten seine Militärplaner die Chance erneut Ressourcen anzuhäufen, um einen zweiten Versuch der Eroberung und Zerstörung der Ukraine vorzubereiten. Dieses Szenario besteht aus drei Schlüsselelementen, die alle bereits vehement von den Hardlinern im gefordert werden.

Obwohl Russland formal ein souveräner Staat bliebe, würde es auf den Status eines De-facto-Vasallen Chinas reduziert.

In erster Linie wird der Staat unter Kriegsrecht gestellt, was dem Kreml einen großen Spielraum für höchst unpopuläre Maßnahmen einräumt. Zweitens werden die Grenzen zur Außenwelt geschlossen, was eine Massenmobilisierung von Arbeitskräften für die Streitkräfte ermöglicht. Drittens ist eine Rückkehr zu dem, was zu Sowjetzeiten als „strukturelle Militarisierung” bekannt war, was bedeutet, dass das Militär in allen Fragen der Ressourcenallokation oberste Priorität haben wird.

Russland würde immer mehr Nordkorea gleichen, mit seiner Priorität für das Heer und drakonischen Repressionen durch die Sicherheitsdienste. Wenn ausländische Investitionen aufhören, könnte die Wirtschaft zurückfallen, da moderne Systeme anfangen zu versagen. Die auffälligste Parallele wäre eine patriotische Erziehung von Schulkindern, die eine militärische Ausbildung erhielten und von beißendem Hass sowohl auf die Ukraine als auch auf den Westen im Allgemeinen durchdrungen wären.

Obwohl Russland formal ein souveräner Staat bliebe, würde es auf den Status eines De-facto-Vasallen Chinas reduziert. Dies würde Peking zwar freien Zugang zu den Ressourcen des russischen Fernen Ostens und die Unterstützung durch die russische Pazifikflotte ermöglichen, aber die Kehrseite der Medaille überwiegt eindeutig. Peking hat bereits Zugang zu russischen Ressourcen zu Tiefstpreisen, und das Allerletzte, was es braucht, um eine multipolare Welt herbeizuführen, ist ein weiteres Nordkorea.

2.    Russland bricht zusammen

Das andere Extrem ist, dass Russland in der Ukraine eine verheerende Niederlage erleiden wird. Wenn die Ukraine es schafft, die Krim mit Gewalt zurückzuholen, könnte die Schmach so groß sein, dass sie Russland in den Ruin treiben könnte. Es gab schon ähnliche Fälle in der Geschichte, bei denen Kriegsniederlagen Russland schwer getroffen haben. Zum Beispiel nach dem Livländischen Krieg zwischen 1558 und 1583, nach dem Ersten Weltkrieg gegen Deutschland und am Ende des Kalten Krieges. In all diesen Fällen zerfiel das politische System Russland.

Russland hat es im Laufe der Jahrhunderte nicht geschafft, starke zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die eingreifen und das Schiff über Wasser halten können, wenn die Regierung versagt. Wenn man bedenkt, wie hartnäckig das Putin-Regime daran gearbeitet hat, eine autokratische Herrschaft zu zementieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass das ganze Gebäude kollabiert wird, wenn der Grundpfeiler entfernt wird.

Präsident Putin zeigt sich zunehmend besorgt über dieses Szenario. Anfang Juni forderte er den Gouverneur von Magadan, Sergej Nossow, und andere regionale Anführer auf, die territoriale Integrität Russlands zu sichern, indem sie die Abwanderung ethnischer Russen einzudämmen und sezessionistische Bestrebungen blockieren sollten.

Die Ukraine hat begonnen, Unruhen unter ethnischen Minderheiten in der gesamten Russischen Föderation zu schüren. Die ethnische ukrainische Minderheit im Fernen Osten Russlands, die bis in die 1890er Jahre zurückreicht, ist von besonderem Interesse, da sie die Sezession anführen könnte. Im Januar dieses Jahres warnte der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, der Hardliner Nikolai Patruschew, dass die Ukrainer in der Region eine Bedrohung für die territoriale Integrität Russlands darstellten.

Chinas Horrorszenario

Aus chinesischer Sicht hätte ein Auseinanderbrechen der Russischen Föderation stark negative Folgen. Es würde seine geopolitische Agenda untergraben und Zweifel am russischen Anspruch auf einen Sitz mit Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befeuern. Auch kämen Fragen zu langfristigen Verträgen über den Abbau von Ressourcen auf. Und es würde Peking die Notwendigkeit aufbürden, einzugreifen, um für die Ordnung aufrechtzuerhalten, einfach um seine eigenen Interessen zu schützen.

Eine unabhängige Republik des Fernen Ostens wäre reich an Ressourcen. Neben Öl, Gas und Forstwirtschaft verfügt es über sehr große Diamantenvorkommen und eine große Fischereiindustrie. Die Kehrseite der Medaille ist, dass ihre administrativen Kapazitäten schwach sind, die von Außenhandels- und Zahlungssystemen bis hin zu Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen reichen.

Eine Unabhängigkeitserklärung würde auch ein militärisches Eingreifen provozieren, wie es letztlich geschah, als sich die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Russland lossagte. Während die meisten Einheiten mit Atomwaffen, wie Langstreckenbomber und U-Boote der Borei-Klasse, dem Befehl folgen würden, sich nach Westrussland zurückzuziehen, in einen Rumpfstaat, der dem mittelalterlichen Moskau ähnelt, könnten einige zum neuen Staat überlaufen.

Damit hätte Peking nur noch zwei Optionen: Entweder ist die russische Pazifikflotte ganz verschwunden, oder sie wird auf eine winzige Streitmacht reduziert, die sich in Opposition zu Moskau befindet. Obwohl die Chancen für dieses Szenario gering sind, muss man davon ausgehen, dass Peking versuchen würde, ein Auseinanderbrechen Russlands zu verhindern.

3.    Mit Chinas Hilfe überleben

Am ehesten dürfte Russland formell überleben. Aus chinesischer Sicht wäre das sehr zu begrüßen. Moskau wäre in der Lage, seine geopolitische Agenda im Sicherheitsrat und anderswo weiter zu unterstützen. Es würde garantieren, dass langfristige Verträge gültig bleiben, und es würde sicherstellen, dass kritische Finanz- und Verkehrsinfrastrukturen am Laufen blieben.

Der Nachteil ist, dass es starke Elemente der klassischen Potemkinschen Dörfer aufweisen würde. Hinter den Kulissen würde ein geschwächtes Zentrum mit erbitterten Kämpfen um den Zugang zu Ressourcen konfrontiert sein, bei denen rohstoffreiche Regionen versucht sind, mit Moskau hart zu verhandeln, und ressourcenarme Regionen ins Hintertreffen gerieten. Es wäre eine höchst instabile Situation, die anfällig für gewaltsame Konflikte wäre. Eine derartige Situation könnte sich über Jahre hinziehen, und sie würde allmählich auf eines der beiden Extremszenarien zusteuern.

China muss daher unweigerlich, seine Unterstützung Putins verstärken.

Es ist möglich, dass dies letztendlich zu einer militärischen Machtübernahme führen wird, die Russland in eine vergrößerte Version Nordkoreas verwandelt, aber das ist unwahrscheinlich. Das wahrscheinliche Ergebnis ist, dass die fortschreitende Erosion zu einer zunehmenden Lähmung der Regierung führt.

Peking Eingriffsbereit

Die Implikation für China ist, dass es zum Schutz seiner Interessen in kritischen russischen Regionen wie dem Fernen Osten bereit sein muss, einzugreifen, um im Idealfall einen Zusammenbruch der Russischen Föderation zu verhindern. Oder, falls dies nicht gelingt, muss China ein Mindestmaß an Ordnung gewährleisten, die einen grundlegende sozialen Zusammenhalt, ein funktionierendes Zahlungssystem und einen geordneten Außenhandel umfasst.

Das hat Folgen für die Ukraine: Obwohl Peking es vorziehen würde, abseits zu stehen, während Russland auf Zerfall u zusteuert, wären die Konsequenzen für seine Taiwan-Strategie zu dramatisch. China muss daher unweigerlich, seine Unterstützung Putins verstärken.

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Conclusio

Russlands Abhängigkeit von China hat seit dem Ukraine-Krieg stark zugenommen. Für Pekings regionalen Machtanspruch ist der ungehinderte Zugang zu Ressourcen im Fernen Osten essenziell sowie die Kooperation der russischen Pazifik-Flotte. Drei Szenarien sind denkbar: Erstens, im Fall einer Intensivierung des Ukraine-Krieges könnte Russland zu einem großen, isolierten Nordkorea mutieren als De-facto-Vasallen Chinas. Zweitens, Russland könnte in Folge einer Niederlage zerfallen. Dieses Szenario könnte sezessionistische Bewegungen fördern und hätte starke negative Folgen für China. Am wahrscheinlichsten ist daher ein Überleben des Putin-Regimes mit Pekings Hilfe.

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