Kampf der Giganten

China und Indien liegen seit Jahrzehnten im Clinch miteinander – und sind im geopolitischen Wettrennen dennoch aufeinander angewiesen.

Das Bild zeigt ein Mitglied der Grenzsicherheitskräfte, der Wache in einem Bunker neben der Nationalstraße hält, die nach Ladakh führt. Das Bild illustriert einen Artikel über das Verhältnis zwischen China und Indien.
Alle Jahre wieder kommt es nahe der indisch-chinesischen Grenze zu Scharmützeln – wie vor vier Jahren im indischen Kaschmirtal. Ein Soldat überwacht die Lage. © Getty Images

Die goldenen Zeiten des Westens gehen zu Ende, Asien könnte Europa und Nordamerika wirtschaftlich bald überholen. Wichtigste Motoren dieser globalen Machtverschiebung sind China und Indien, zwei Giganten mit jeweils deutlich mehr als einer Milliarde Einwohnern – und erheblichem geopolitischen Ehrgeiz. Experten sagen ein asiatisch geprägtes, multipolares Jahrhundert voraus. Ob es friedliche und ökonomisch erfolgreiche Zeiten sein werden, hängt also ganz maßgeblich von China und Indien ab.

Noch vor etwa 30 Jahren lagen die zwei Staaten wirtschaftlich fast gleichauf. Mittlerweile ist China davongezogen, auch in militärischer Hinsicht. Unter Präsident Xi Jinping ist China nun dabei, den Vereinigten Staaten die Position als alleinige Supermacht streitig zu machen. Doch auch Indien hat einen gewaltigen Aufholprozess hinter sich und könnte wirtschaftlich bald die Nummer drei der Welt sein. Der Indopazifik wird somit zur wichtigsten Arena dieses globalen Wettrennens um Macht und Einfluss.

Doch Südasien ist noch in einer anderen Hinsicht von größter Bedeutung für die Welt: In keiner anderen Region befinden sich drei Atommächte in unmittelbarer Nachbarschaft – China, Indien und Pakistan –, die miteinander seit Jahrzehnten im Clinch liegen. Ungelöste Fragen wie die McMahon-Linie (Grenzverlauf zwischen China und Indien im Himalaya), militärische Auseinandersetzungen entlang der aktuellen Kontrolllinie sowie der Wettbewerb um den strategisch wichtigen Zugang zum Indischen Ozean sorgen für ausreichend Konfliktpotenzial.

Aktuell beobachten die Inder mit Argusaugen, dass China seine militärische Präsenz im Südchinesischen Meer und im Indopazifik ausbaut, während Xi Jinping in der Region des Indischen Ozeans das Konzept der „Perlenkette“ verfolgt – eine Reihe von strategischen Allianzen an den Küsten Asiens, des Nahen Ostens und Afrikas. Parallel dazu will China mithilfe von Russland die Nördliche Seeroute oder die sogenannte Arktische Seidenstraße abseits der amerikanischen Kontrolle ausbauen. Darauf einigten sich Xi Jinping und Wladimir Putin bei ihrem jüngsten Treffen.

„Regionalmacht“ Indien

Peking sieht sich als aufstrebende Weltmacht, die mit den USA in allen relevanten Bereichen in einem Systemwettbewerb steht, während Indien als Regionalmacht betrachtet wird, die zwar über Atomwaffen verfügt, aber nur begrenzten Einfluss ausüben kann. Außerdem ist es China gelungen, eine langfristig ausgerichtete Beziehung zu Indiens unmittelbarem Rivalen – Pakistan – aufzubauen.

Hinter diesen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen steckt realpolitisches Kalkül. Islamabad wird massiv finanziell unterstützt und soll China dafür den Zugang zum Indischen Ozean sichern. Diese neue Allianz schadet allerdings den geopolitischen Interessen Indiens.

Die chinesisch-indischen Beziehungen haben sich nach den militärischen Grenzscharmützeln in Doklam (2017), im Galwan-Tal (2020) und in Tawang (2022) verändert und zum Teil verschlechtert. Diese Ereignisse machten die Hoffnung beider Seiten auf Stabilität und Vorhersehbarkeit in den bilateralen Beziehungen zunichte. Seit sich Indien freiwillig aus den Verhandlungen über ein Abkommen mit Chinas Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zurückgezogen hat, sind die Erwartungen Pekings an eine kontinuierliche Integration der indischen Wirtschaft in das eigene Industrie- und Lieferkettennetzwerk unrealistisch geworden. Beide Länder glauben nicht mehr an eine vollständige Normalisierung der Beziehungen.

Pakistan wird massiv unterstützt und soll China dafür den Zugang zum Indischen Ozean sichern.

Daher versucht Indien seit geraumer Zeit, enge Kontakte mit möglichst vielen regionalen Akteuren in Asien zu knüpfen. Zudem will Premierminister Narendra Modi die sicherheits- und verteidigungspolitischen Beziehungen zu einigen Verbündeten der USA stärken, insbesondere im Rahmen des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs (QUAD). Diese Zusammenarbeit zwischen Indien, den USA, Japan und Australien zielt darauf ab, in Fragen der Sicherheit und Verteidigung enger zu kooperieren und gleichzeitig ein Gegengewicht zum Aufstieg Chinas in dieser Region zu schaffen. Ob die indische Regierung inmitten der systemischen Rivalität zwischen Washington und Peking eine Politik der Blockfreiheit verfolgen wird, bleibt bislang offen. Möglicherweise hat Indien dieses Mal nicht die Option, geopolitisch neutral zu agieren.

Entscheidend wird auch sein, welche Aktionen China gegenüber Indien setzt. Peking steht derzeit vor der Wahl, entweder noch selbstbewusster aufzutreten, was zu weiteren Spannungen mit dem Nachbarn führen würde. Oder aber es gelingt, den dauerhaften Disput mit Neu-Delhi über diplomatische Kanäle und geoökonomische Anreize zu entschärfen, um einen weiteren großen Konfliktherd zu vermeiden. Derzeit betrachtet Indien die chinesische Geostrategie als existenzielle Bedrohung für seine Interessen im Indopazifik. Zudem sieht sich Indien mit zwei Atommächten konfrontiert, die direkte Nachbarn und enge Wirtschaftspartner sind – China und Pakistan.

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Zahlen & Fakten

Letztlich zielt Indiens Ansatz darauf ab, China teilweise zu ersetzen, indem es die Abhängigkeiten reduziert und gleichzeitig ausländische Investoren anzieht, die ein ähnliches Ziel verfolgen – nämlich die Diversifizierung von Lieferketten, Produktionsprozessen und Handelsbeziehungen abseits von Peking. Modi, der im Juni für eine dritte Amtszeit vereidigt wurde, will sein Land zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen lassen. Das wird Indiens Rolle als natürlicher Langzeitrivale Chinas weiter festigen.

Partner des Westens

Das Kräftemessen zwischen den USA und China schuf ein günstiges Umfeld für Indien, um sich als bedeutender geoökonomischer Akteur zu behaupten. Indien erlebte zuletzt einen beträchtlichen Zustrom an ausländischen Investitionen in Bereiche wie Computersoftware und -hardware, Dienstleistungen, Handel, Chemikalien und die Automobilindustrie. Außerdem fördert das Land Schlüsselbereiche wie die Halbleitererzeugung, die Verteidigungsindustrie, Luft- und Raumfahrt, Cyber-, Bio- und Nanotechnologie, Telekommunikation sowie kritische Infrastruktur.

Initiativen wie „Make in India“ und „Digital India“ zielen darauf ab, die eigene Fertigungs- und Technologiekapazität zu erhöhen und so die wirtschaftliche Autonomie des Landes zu fördern. Diese Aktivitäten tragen nicht nur zur wirtschaftlichen Resilienz Indiens bei, sondern positionieren es auch als attraktiven Partner für westliche Unternehmen, die nach alternativen Märkten und Produktionsstätten suchen.

Indiens ökonomische Bemühungen zeigen sich auch in anderen Facetten. Dazu gehört etwa das Schmieden von Handels- und Technologiepakten, um die USA bei der Verringerung ihrer Abhängigkeit von China zu unterstützen, sowie der Abschluss bilateraler Verteidigungsabkommen, um Indiens Abhängigkeit von russischer Militärtechnik zu verringern.

Das Land steht jedoch vor einer Reihe von Herausforderungen. Strukturelle Reformen sind notwendig, soziale und politische Spannungen in der Bevölkerung müssen bewältigt werden. Auch die geopolitischen Auseinandersetzungen mit Pakistan und China könnten den Aufstieg zur globalen Macht gefährden. Nicht zuletzt drohen Risiken wie Terroranschläge und Naturkatastrophen.

Mit dem Abschluss bilateraler Abkommen will Indien seine Abhängigkeit von russischer Militärtechnik verringern.

Was den Subkontinent dennoch zu einem unverzichtbaren Partner macht, ist seine Fähigkeit, als Brückenbauer und stabilisierender Anker in einer zunehmend polarisierten Weltordnung zu agieren. Indiens Engagement in multilateralen Foren und seine aktive Beteiligung an globalen Initiativen gegen Klimawandel, Terrorismus und Cyberkriminalität unterstreichen seine Rolle als verantwortungsbewusster Akteur. Insgesamt zeigt sich, dass Indiens Aufstieg nicht nur auf seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke beruht, sondern auch auf seiner Fähigkeit, in einer komplexen globalen Landschaft strategisch zu navigieren.

Geschwächtes Europa

Gleichzeitig befindet sich Europa in der schwersten militärischen Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, was die globale Verschiebung der Machtzentren vorantreibt. Trotz der umfassenden Unterstützung des Westens für die Ukraine hat sich die russische Invasion dort zu einem Zermürbungskrieg entwickelt. Dieser Konflikt beeinträchtigt Europa schwer, stört den gesellschaftlichen Zusammenhalt und schwächt die militärischen Kapazitäten.

Die Haltung Chinas und Indiens zum Krieg in der Ukraine erschien vielen Beobachtern im Westen zunächst als diplomatisches Rätsel – was eine erhebliche Lücke im Verständnis der strategischen Interessen und Ziele dieser Länder offenbarte. Mittlerweile ist im Westen die Einsicht gereift, dass es notwendig ist, mit Indien zusammenzuarbeiten. Der Beschluss zur Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien war strategisch klug.

Allerdings vertiefen sowohl China als auch Indien ihre strategische Partnerschaft mit Moskau. Die russischen fossilen Energieträger, Rohstoffe und Düngemittel fließen nun vermehrt nach Asien statt wie früher nach Europa. Für den alten Kontinent bedeutet dies, dass er seine Energie- und Rohstoffquellen diversifizieren und seine Abhängigkeit von chinesischen Lieferketten reduzieren muss. Gleichzeitig muss Europa eine diplomatische Balance finden, um nicht in den geopolitischen Konflikt zwischen den USA auf der einen Seite sowie China und Russland auf der anderen hineingezogen zu werden.

Indien hat es da leichter. Als einziges Land unter den Mittelmächten kann es in erster Linie seine eigenen Interessen in den Vordergrund stellen – ein Privileg, das es seiner wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung, seiner militärischen Stärke und auch seiner beständigen politischen Führung verdankt. Diese Kombination bildet auch den Grundstein für Indiens Erfolg bei der Navigation durch die komplexe Landschaft der internationalen Beziehungen.

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Conclusio

Indiens Fähigkeit, als Brückenbauer zu agieren, wird in den kommenden Jahren entscheidend sein, um eine stabilere internationale Ordnung zu gewährleisten. Die Teilnahme des riesigen Landes an multilateralen Foren wie der G20 und seine aktive Beteiligung an Initiativen zur Bewältigung von Herausforderungen wie Klimawandel, Terrorismus und Cyberkriminalität unterstreichen seine Rolle als verantwortungsbewusster globaler Player. Insgesamt zeigt sich, dass Indiens Aufstieg nicht nur auf seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke beruht, sondern auch auf seiner Fähigkeit, in einer komplexen globalen Landschaft strategisch zu navigieren. Zwischen Indien und China gibt es seit Jahrzehnten schwere Konflikte, jetzt kommt die geopolitische Rivalität dazu. Der Konflikt zwischen China und den USA erhöht den Stellenwert Indiens.

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