Ich, der Cyborg

Aus meinem Kopf ragt eine Antenne, mit der ich Farben wahrnehmen kann. Für mich ist sie eines meiner Organe und seit ich mit ihr lebe, definiere ich mich als Cyborg.

Der Kopf eines Mannes, aus dessen Hinterkopf eine Antenne ragt
Neil Harbisson sieht sich als Vorreiter einer neuen Spezies, die dem Menschsein entkommen ist. © Dilip Bhoye

Ich begann 2004, mich als Cyborg zu definieren, und im Laufe der Jahre wurde ich so neugierig auf den Ursprung des Wortes und seine genaue Definition, dass ich Manfred Clynes kontaktierte, den Mann, der das Wort 1960 prägte. Um ihn direkt zu fragen, was das von ihm geschaffene Wort bedeutet.

Mehr Menschliches

Vor einigen Jahren besuchte ich ihn gemeinsam mit der Künstlerin und Mitbegründerin der Cyborg Foundation, Moon Ribas, in seinem Haus in der Nähe von San Francisco. Ich fragte ihn, was das Wort Cyborg für ihn bedeute. Er erzählte uns, dass das Wort bionisch bereits 1960 existierte und dass damals ein bionischer Mann oder eine bionische Frau als jemand definiert wurde, dessen Körper mit der Robotik verschmolzen war. Mit dem Wort Cyborg wollte er jemanden bezeichnen, dessen Körper und Bewusstsein mit der Technologie verschmolzen sind, nicht nur der Körper.

Sind Radfahrer Cyborgs?

Was ich als Nächstes wissen wollte, war, welche Art von Verschmelzung erforderlich war, um als Cyborg zu gelten. Musste man ein Implantat haben, um ein Cyborg zu werden?

Seine Antwort war nein.

Er erklärte uns, dass jeder, der zum Beispiel Fahrrad fährt, als Cyborg definiert werden kann, weil ein Fahrrad eine Art von Technologie ist, die, wenn sie mit dem Körper verbunden ist, auch das Bewusstsein des Fahrers verändert, genauer gesagt, den Gleichgewichtssinn.

Auf dem Nachhauseweg wurde mir klar, dass selbst der Schöpfer des Wortes eine sehr weit gefasste Definition des Begriffs hatte. Für mich besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem Fahrradfahren und der Implantation einer Antenne in meinen Kopf, denn das Fahrradfahren hat mein Identitätsgefühl nie verändert.

Die Antenne als Teil meines Körpers

Ich begann mich als Cyborg zu definieren, kurz nachdem ich meinen Körper mit der Technologie verschmolzen hatte. Ich habe eine Antenne entwickelt, die jetzt chirurgisch in meinen Kopf eingepflanzt ist und die es mir ermöglicht, die Schwingungen der Farben von Infrarot bis Ultraviolett zu fühlen und zu hören.

Die Antenne und mein Schädel wurden nach der Operation physisch eins, und der Klang der Farbwahrnehmung war schließlich nicht mehr von meinem eigenen Bewusstsein zu trennen. Ich habe das Gefühl, dass ich genau dann ein Cyborg wurde, als ich aufhörte, den Unterschied zwischen einem Stück Hardware und meinem Körper zu spüren, und als ich aufhörte, den Unterschied zwischen meinem Bewusstsein und einer Software zu spüren.

Die Antenne wurde allmählich zu einem neuen Organ und die Farb-zu-Ton-Software zu einem neuen Sinn; ich benutzte oder trug keine Technologie mehr, ich wurde zur Technologie. Wenn ich einen Cyborg auf einfache Weise definieren müsste, wäre es, dass er die Technologie als Teil der eigenen Identität beschreibt – unabhängig vom Körper.

Auch wenn man nicht körperlich mit der Technologie verbunden ist, ist man ein Cyborg, wenn man das Gefühl hat, dass das Bewusstsein mit der Technologie verbunden ist und dass diese Verbindung die Identität verändert.

Wir alle werden zu Cyborgs

Ich habe Teenager getroffen, die sich als Cyborgs identifizieren und das Gefühl haben, dass ihr Körper nicht ihre Identität widerspiegelt. Vielleicht ist das der Grund für das wachsende Interesse der Jugendlichen, sich eine Art von Technologie in ihren Körper implantieren zu lassen. Sie möchten, dass ihr Körper ihre nicht-organische Identität zum Ausdruck bringt.

Eine Frau sitzt vor einem Computer. Das Bild ist Teil eines Beitrags über einen Mann, Neill Harbisson, der sich selbst als Cyborg sieht. Das Bild stammt von 1981 und soll zeigen, dass Computer und Mensch noch getrennte Welten waren, sich aber geistig annähern.
Arbeit mit einem der ersten PCs in Boston 1981. © Getty Images

Umgekehrt habe ich auch Menschen getroffen, die sich nicht als Cyborgs bezeichnen, obwohl sie tatsächlich körperlich mit der Technologie verschmolzen sind. Sie ist ein Teil ihres Körpers, in den meisten Fällen aus medizinischen Gründen, aber sie betrachten sie nicht als Teil dessen, was sie sind – die Technologie hat ihre Identität nicht verändert.

Ich glaube jedoch, dass wir die Technologie häufiger als Teil unserer Identität betrachten als uns klar ist. Das merkt man auch an der Sprache. Vor Jahren hätten die meisten Leute gesagt: „Mein Handy hat keinen Akku mehr“, aber heute sagen die meisten Menschen: „Ich habe keinen Akku mehr“. Von der Technik in der ersten Person zu sprechen, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass viele von uns bereits mit ihren Geräten verschmelzen und dabei zunehmend zu Cyborgs werden.

Die Grenze zwischen uns und der Technologie verschwimmt so sehr, dass es nicht verwundert, wenn einige es als natürlich empfinden, mit ihr zu verschmelzen.

Das Dasein als Cyborg

Aber obwohl unsere Gesellschaft so sehr von Technologie abhängig ist, haben jene, die sich freiwillig in einen Cyborg verwandeln wollen, auch heute noch Schwierigkeiten. Die meisten bioethischen Kommissionen akzeptieren diese Art von experimentellen Operationen nicht und die meisten Regierungen erkennen ihre Bürger nicht als Cyborgs an.

In meinem Fall wurde mir die Implantation der Antenne in meinen Kopf aus ethischen Gründen verweigert.

Ein bioethischer Ausschuss entschied, dass es unethisch sei, ein nicht-traditionelles menschliches Organ in den Körper eines Menschen zu implantieren. Sie waren auch besorgt über das öffentliche Image des Krankenhauses, das die Operation vollzieht: Was würden die Leute denken und vor allem, was würden sie sagen, wenn jemand mit einer Antenne am Kopf aus dem Krankenhaus käme?

Anstatt mich einer legalen Operation zu unterziehen, habe ich also einen Arzt gefunden, der bereit war, mir die Antenne anonym in den Schädel zu implantieren.

Das wird sich hoffentlich in naher Zukunft ändern.

Irgendwann werden Cyborg-Operationen normalisiert werden und bioethische Ausschüsse werden sie als legale Eingriffe akzeptieren, was wiederum mit dem Aufkommen von Cyborg-Kliniken und der Anerkennung von Implantaten als – wenn auch künstliche – Organe des Körpers einhergehen wird.

Darf die Antenne auf das Passfoto?

Ich hingegen hatte sogar schon Probleme, als ich meinen britischen Pass verlängern musste. Mein Foto wurde mit der Begründung abgelehnt, dass auf Passfotos keine elektronischen Geräte zu sehen sein dürfen. Es bedurfte eines monatelangen Schriftwechsels, einem endlosen bürokratischen Hin und Her, bis man endlich akzeptierte, dass die Antenne ein Teil meines Körpers, ein Organ und kein Gerät ist.

In Situationen wie dieser ist es notwendig, sich für die Rechte von Cyborgs einzusetzen. Wir fordern die Freiheit der Morphologie, also die Freiheit zu entscheiden, welche Sinne und Organe wir als Individuen haben wollen; genauso wie die Freiheit von Demontage: Den Schutz vor jeder Person oder Regierung, die technologische Organe aus unserem Körper entfernen will.

Und das Recht auf körperliche Souveränität, das heißt die Sicherung des Zugangs zu unserem Körper über das Internet. Wir fordern das und mehr, um Autonomie über unseren Körper zu erlangen und die Risiken zu verringern, die für nichtkonforme Identitäten und Körper bestehen.

Eibe Gruppe von kleinen Kindern ist um einen Computer versammelt und gestikuliert aufgeregt. Ein Mädchen blickt direkt in die Kamera.
Erweiterung des Selbst 1985 in einer Grundschule in Manchester. © Getty Images

Es ist schwer vorhersehbar, ob es in absehbarer Zeit normal sein wird, ein Cyborg zu werden, oder ob die Gesellschaft diesen Schritt überspringt und statt mit Hard- und Software zu verschmelzen, lieber auf die genetische Veränderung wartet.

Unsere genetische Veränderung wird nicht so roh und grob sein wie das Einpflanzen von Metall und Drähten in unseren Körper. In Zukunft werden wir in der Lage sein, neue Organe mit unserer eigenen DNA in 3D zu drucken, so dass diese viel sicherer und biokompatibler sein werden als unsere derzeitigen Implantatmaterialien. In dem Maße, wie die Technologie besser und effizienter wird, könnte die Akzeptanz der Menschen gegenüber der Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung ihres eigenen Körpers mitzuwirken, wachsen.

Die Zukunft wird vielfältig

Unabhängig davon, ob dies die Zukunft ist oder nicht, scheint es unvermeidlich zu sein, dass unsere Gesellschaft Platz für die breite Palette von Körpern und Identitäten schaffen muss, die in den kommenden Jahren nicht nur entstehen, sondern auch zunehmen und sich ausbreiten werden, um das herauszufordern, was wir heute unter Vielfalt verstehen.

Unsere Spezies ist noch nicht vollständig erforscht, nicht nur morphologisch, sondern auch neurologisch, und je mehr wir dies tun, desto mehr werden wir eine Reihe verschiedener Realitäten sehen, die gleichzeitig existieren werden: virtuelle Realitäten, erweiterte Realitäten und enthüllte Realitäten.

In Zukunft werden wir denselben Raum und dieselbe Zeit mit anderen teilen, aber wir werden die Realität auf sehr unterschiedliche Weise wahrnehmen. Daher vermute ich, dass es nicht nur eine Zukunft, sondern viele Zukünfte geben wird.

Die Zukunft wird nicht singulär, sondern vielfältig sein. 

Mehr zum Thema

Unser Newsletter