Das Verschwinden des Menschen?

Wenn wir uns digitalisieren und den Maschinen ähnlicher werden, müssen wir neu deuten, was der Mensch ist und verstehen, was wir verlieren.

Gary Lockwood und Keir Dullea als Astronauten in 2001: A Space Odyssey von Stanley Kubrick. Der Computer Hal stellt sich in dem Film als Verhängnis für den Menschen heraus.
2001: A Space Odyssey, 1969. © Getty Images

Die Debatte, ab wann im Umfeld seiner biologischen Zeugung ein Mensch ein Mensch ist, hat bereits eine längere Tradition. Dagegen steckt die Frage, wie lange ein Mensch ein Mensch bleibt, wenn sein Körper und Geist sich immer stärker mit Technik verbinden, noch in den Kinderschuhen.

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Doch diese zweite Diskussion könnte in den kommenden Jahren wichtiger werden, wenn der Trend zur Direktverschmelzung von Mensch und Maschine so weitergeht wie in den letzten Jahren. Über die Menschwerdung wurde nachgedacht – über das Menschbleiben weniger. Ab wann ist ein Mensch eigentlich ein Mensch? Diese Frage wurde seit den 1970er Jahren vor allem im Umfeld der Abtreibungsdiskussion gestellt.

Dazu hat sich im Zusammenhang mit wechselnden Gesetzgebungen nach und nach eine Vielzahl an Positionen herausgebildet – mit sehr unterschiedlichen Zeitvorstellungen im Umfeld von Zeugung, Geburt und früher Lebensphase. Dabei wurden in den pluralistischen Gesellschaften Europas und des Westens zwei Grundpositionen in der philosophischen Konzeption des Menschseins sichtbar: ein essentialistischer und ein dekonstruktivistischer Ansatz. Beide bezeichnen sich bis heute als „humanistisch“.

Der Mensch als tragischer Ort

Auf der einen Seite standen und stehen die Essentialisten wie Elio Sgreccia. Sie verstehen sich als „klassische Humanisten“. Sie legen den Beginn des Menschseins mit dem Augenblick der Zeugung fest. Manche von ihnen – wie etwa Religions- und Reinkarnationsvertreter – gehen sogar von der Möglichkeit eines vorgeburtlichen Seins aus.

Daryl Hannah als Replikant Pris hält eine zerbrochene Barbiepuppe an ihrem Haarschopf in die Höhe. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Transhumanismus und die Digitalisierung des Menschen.
Blade Runner, 1982. © Getty Images

Dieses habe zwar noch keine Existenz (wörtlich: Herausstehen aus dem Ganzen), sei aber eine präformale Seinsform sui generis, von der wir noch kaum etwas wissen. Die Würde und der Schutz des menschlichen Lebens sind aus Sicht der Essentialisten universell und absolut. Der Mensch ist das, was er ist. Menschsein ist eins mit sich selbst, worin sich das kosmische Ganze in einem archimedischen Punkt konzentriert und zu Selbstbewusstsein bringt.

Der Mensch ist in – und mit – sich identisch. Er repräsentiert und verkörpert dabei über sich selbst hinaus eine universale, subjektiv-objektive Dimension, die sich als „Ich“ verwirklicht. Die Menschheit ist der Ort eines ständigen kosmischen Selbstverwirklichungs- und Selbsterneuerungsgeschehens: das Auge eines Zyklons, in dem sich Involution und Evolution, Ein- und Ausfädelung verbinden.

Und der Mensch ist der – auch tragische – Ort der größten Schönheit und Würde, ja der unvergleichlichen, für den Menschen selbst kaum vollends fassbaren Feierlichkeit dieses Geschehens. So hat das in der Populärkultur emblematisch vielleicht am besten der Film 2001: A Space Odyssey (1968) des britischen Regisseurs und „tiefen Humanisten“ Stanley Kubrick dargestellt.

Der dekonstruierte Mensch

Dagegen stellt sich die zweite Strömung: der Dekonstruktivismus. Gelehrte wie Emmanuele Severino verstehen sich als „säkulare Post-Humanisten“ sowie bio-materialistische Entwicklungs- und Stadiendenker. Sie legen das Menschsein frühestens mit der physischen Geburt fest. Vorherige Entwicklungsstadien zählen kaum bis gar nicht.

Manche von ihnen – wie etwa Entwicklungsanthropologen – nehmen die Erlangung von „Menschsein“ sogar erst ab einem gewissen Entwicklungsstadium nach der Geburt an: im Wesentlichen ab einer bestimmten Evolutionsstufe des Gehirns beziehungsweise der Manifestation des Ich-Bewusstseins mittels Sprache. Diese Spätansetzung des Menschseins gibt sich gegenüber den Essentialisten als „realistischer“ aus.

Sie sieht den Menschen als bio-psychologischen Verfahrensverlauf. Der Dekonstruktivismus gibt sogar selbstbewusst an, pragmatisch der Rechtfertigung gewisser Ausnahmen vom Schutz menschlicher Existenz zu dienen – paradoxerweise eben um die menschliche Würde zu wahren, zum Beispiel bei Abtreibung nach Vergewaltigung, Einstellung von Hilfsmaßnahmen bei Gehirntoten oder Sterbehilfe. Das sei möglich, wenn man den Menschen nicht a priori als absoluten Wert in sich selbst festsetzt.

Der Mensch ist nicht, was er ist

Aus dem Dekonstruktivismus, der interessanterweise wie Kubricks Film in der 1968er Revolution gründet, erwuchs eine inzwischen weit verbreitete „posthumanistische“ Sicht. Aus ihrem Blickwinkel gilt: Der Mensch ist – im Gegensatz zu den Humanisten – eben nicht das, was er ist. Er will vielmehr instinktiv stets ein „Anderer“ seiner selbst werden.

Elsa Lanchester und Colin Clive im Film Bride of Frankenstein. Lancast blickt entsetzt mit zu Berge stehenden Haaren in die Kamera, während Clive sie an den Armen zurückhält. Das Bild illustrert einen Beitrag über die Frage, was transhuman bedeutet.
Bride of Frankenstein, 1935. © Getty Images

Dies, indem er sich selbst ergreift, als Produkt von Umständen, Erfahrungen, Erziehung und sozialen Konstruktionen versteht und davon ausgehend umformt (Michel Foucault). Die damit verbundene „Befreiung“ ist geradezu die Auszeichnung des Menschen vor – und seine Andersheit gegenüber – allen anderen Wesen.

Menschsein ist aus dieser Sicht Anderswerden: ständige Transfiguration. Im Grunde ist der Mensch also sowohl human wie stets bereits meta-human – denn er will immer über seine eigene conditio hinaus. In der Metahumanität, die dem Drang der Humanität innewohnt, liegt sogar das paradoxale Wesen des Menschen. Dabei ist der genaue „Ursprung“ oder biographische Beginn des Menschseins zweitrangig, solange es als kulturell, sozio-biologisch und psycho-evolutionär ständig neu konstruiert – und damit veränderbar – erkannt wird.

Das humanistische Weltbild

Zu dieser zweiten: der dekonstruktiven oder „post-humanistischen“ Schiene gehört inzwischen auch eine relativ große Zahl von Varianten. Sie sind dadurch verbunden, dass sie allesamt über das humanistische Menschenbild, das bis heute an der Verfassungs- und zivilreligiösen Grundlage der offenen Gesellschaften Europas und des Westens steht, hinaus wollen – oder es zumindest ideologisch verabschieden.

Sie haben trotz vieler anderer Gegensätze als gemeinsames Merkmal, dass sie das Menschsein kontextualisieren, bio-naturalistisch im größeren Naturzusammenhang „normalisieren“ und damit seine bisherige abendländische Sonderstellung relativieren wollen, um andere Lebens- und Seinsformen aufzuwerten.

Unter diesen Varianten sind zum Beispiel die neuen Grundsatzdebatten um Umweltrechte, darunter der Vereinten Nationen und der Bio-Emanzipationsbewegungen. Sie gehen davon aus, dass der Mensch ein „human animal“ ist, das nur eine Variable von „non-human animals“ und „liminanimals“ („Schwellentieren“) darstellt, wobei alle diese Lebensformen in ähnlicher Weise durch ihre bio-physiologische Werde-Form prädeterminiert sind.

Wenn zum Beispiel Primaten aus „post-humanistischer“ Sicht „non-human animals“ sind, dann sind sie umgekehrt auch „animal humans“ – nur mit einem anderen Lebens- und Selbstwerde-Zyklus und einem anderen Bewusstsein als der Mensch. Doch wie alles andere sind auch Primaten weiterhin in Evolution begriffen, also sozusagen „auf dem Weg zum Menschen“.

Human oder nicht-human?

Deshalb ist es für manche radikale Innovatoren inzwischen an sich nicht mehr eine ultimative Katastrophe, wenn sich die Menschheit mittels Umweltkrise, Kriegen oder Viren selbst ausrotten sollte. Bestehe in der Fähigkeit dazu doch die einzige Sonderstellung des Menschen, und könne das doch aus umfassenderer ökologischer Sicht für eine Normalisierung der Naturwelt sorgen.

In dieser planetaren Haltung wird jedoch eine tiefe Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der zeitgenössischen Selbstbesinnung sichtbar. Sie übersieht den Vorgang des eigenen Bewusstseins (und damit die Aristotelische ontologische Logik) – sind es doch bislang nach allen empirischen Daten, die wir haben, nur Menschen, die zu Überlegungen wie dieser überhaupt fähig sind.

Eine ähnliche produktive Ambivalenz gilt für die Spannung zwischen den neuen experimentellen Leitbegriffen „non-human“ und „more-than-human“. Diese wollen sowohl die Tatsachen der planetaren Umweltkrise wie der neuen Techno-Zivilisation im Zeichen des Anthropozäns integrieren. Damit ist eine Relativierung der bisherigen Sonderstellung des Menschseins im Grundsätzlichen verbunden. „Post-humanistisch“ wird hier weiterentwickelt zu „post-human“.

Bei aller „post-humanen“ Gemeinsamkeit der Aufwertung der Natur („non-human“) und der intelligenten Hypertechnologie wie der rasch voranschreitenden Künstlichen Intelligenz (KI), die sich auf dem Weg zur „Superintelligenz“ befindet („more-than-human“), gibt es zwischen diesen Begriffen zur Zeit Konfusion in der Literatur. Manche – wie der UNO-Experte für die Harmonie mit der Natur, Alex Putzer, – benutzen „non-human“ für alles Natürliche, „more-than-human“ dagegen für alles Technische. Andere wiederum nutzen „more-than-human“ als Sammelbegriff für human and nicht-human.

Die Macht des Transhumanismus

Trotz unterschiedlicher Begriffsnutzungen ist diese Debatte über anthropologische versus meta-anthropologische Dimensionen des Mensch-in-der-Welt-Seins in voller Entfaltung. Sie prägt letztlich sogar (wenn auch oft noch unbewußt) die tieferen kulturellen Verschiebungen im Hintergrund der Zeitphänomene – wie etwa die Polemiken um „Klimakleber“ oder die Diskussionen um das künftige Verhältnis zwischen Mensch und KI und zwischen Politik und KI.

Die Diskussion um das Menschenbild und seine (Selbst-)Verortung schließt nicht an letzter Stelle seit einigen Jahren auch eine mächtige „transhumane“ Bewegung ein. Sie geht davon aus, dass der Mensch sich in den kommenden Jahrzehnten mittels Direktverschmelzung mit Technologie über seine Seins-Kondition aus eigener Kraft hinaus bewegen wird.

Mittels techno-anthropologischer Hybridisierung soll sich der Mensch ab Mitte des Jahrhunderts von Altern, existentiellem Risiko und Tod befreien und über sein bisheriges Menschsein hinauswachsen. Damit sei, so die Transhumanisten, die Entstehung eines neuen Wertesystems für die Gesellschaft verbunden.

Denn weil jede Gesellschaft auf ihr zugrundeliegendes Menschenbild aufbaut, ist mit der Änderung des Menschenbildes auch eine fundamentale Änderung der Gesellschaft verbunden. Der kommende Technik- oder Maschinen-Mensch wird die Lösung aller Probleme sein – so beispielhaft der Direktor des „Zukunft-der-Menschheit“ Instituts an der Universität Oxford, Nick Bostrom. Er berät Regierungen rund um den Globus, gehört zu den Gründern des globalen Transhumanismus und ist mit der „Theorie einer verletzbaren Welt“ hervorgetreten, die er nicht umwelt-, sondern technik-theoretisch angeht.

Externalisierung des Selbstbewusstseins

Der Mensch ist aus Sicht all dieser post- und trans-humanistischen und -humanen Ansätze keine Ausnahme in einem Stufenreich der Natur, an dessen höchster Stelle die Befähigung zur Selbsterfassung – das Selbst- oder Ich-Bewusstsein als archimedischer Punkt des Kosmos, aus dem dieser ontologisch selbst entspringt –, wie uns die philosophische Anthropologie eines Max Scheler, Arnold Gehlen oder Teilhard de Chardin lehrte.

Sondern der Mensch ist im „post-humanistischen“ Zeitgeist ein integraler Bestandteil des Reichs der Natur – mit der vielleicht einzigen Eigenheit, dass er unter den Lebensformen biographisch am längsten braucht, sein ihm mögliches Selbst zu ergreifen und vollends „zum bewussten Menschen“ zu werden, worin seine Naturbestimmung liegt.

Und mit der zweiten Ausnahme, dass er Technologie als die mentale Externalisierung seines Selbstbewusstseins entwickelt hat. Sie kann ihm in den kommenden Jahren in Kombination von neuem Umwelt- mit Technikbewußtsein helfen, über die Begrenzungen seines bisherigen Selbst hinauszugehen.

Dialektik der Menschenbilder

Diese beiden Grundansätze zur Bestimmung von Menschsein und Menschwerdung stehen seit dem Beginn der „Postmoderne“ in den 1970er Jahren zumindest in den entwickelten demokratischen Gesellschaften in einer ständigen Dialektik zueinander. Dazu werden inzwischen auch ganze Weltanschauungs- oder „Ein-Themen-Parteien“ (wie in Deutschland etwa die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung) gegründet. Darunter sind inzwischen viele Varianten der „transhumanistischer Parteien“, die sich global zusammenzuschließen beginnen.

Das weist darauf hin, dass die Diskussion um „Anfang“ und „Ende“ des Menschseins wichtiger wird – auch politisch. Dies gilt gerade in Zeiten, in denen unklar wird, ab wann das Menschsein einsetzt und bis wohin es reicht – wie lange also der Mensch unter dem Einfluss weltanschaulicher (Umweltideologien) und technischer (Neue Humantechnologien) Entgrenzung und Auflösung Mensch bleibt.

Wie das Beispiel von Joe Bidens USA im Juni 2022 mit dem Fall der Rückübertragung des Abtreibungsrechts von der föderalen auf die Bundesstaaten-Ebene (Aufhebung von „Roe vs. Wade“ aus dem Jahr 1973) gezeigt hat, sind Zuschreibungen und Begriffe zum Beginn und Ende des Menschseins trotz vermeintlicher zwischenzeitlicher Klärung in Wirklichkeit auch über lange Zeiträume wandelbar und fließend.

Sie ändern sich mit der Änderung gemeinschaftlicher Einstellungen. Selbst dann, wenn sie Mehrheiten gewinnen, sind sie keineswegs mehrheitlich oder gar konsensual ausgemacht, wobei sie in jedem Fall starke politische und soziale Konsequenzen mit sich ziehen.

Hybride aus Mensch und Technik

Ist schon diese Thematik um die Zukunft des Menschenbildes höchst vielschichtig, ist es eine zweite, sich darin im Detail abspielende noch mehr. Heute taucht nämlich eine weitere, mindestens ebenso bedeutsame, wenn nicht sogar noch wichtigere Frage auf: Bis wann bleibt ein Mensch eigentlich ein Mensch, wenn er, so wie es im Trend liegt und – wie es die „Transhumanisten“ betonen und es instrumentell tatsächlich immer umfassender möglich wird –, sich selbst in Körper und Geist immer umfassender und „tiefer“ mit Technik verschmilzt?

Mit anderen Worten: Ab wann wird der Mensch im Rahmen der immer stärkeren Mensch-Maschine-Konvergenz zum Hybridwesen: also zum „Maschinenmenschen“ oder zur „Menschmaschine“, die ihr bisheriges Menschsein verliert? Noch präziser: Ab wann geht „der Mensch“ in seiner Verschmelzung mit Technologie in einen Zwischenstatus über, in der sich schließlich auch das transformieren könnte, was bisher als sein „Wesen“ bestimmt wurde?

Diese Frage rührt an die Grundlage zeitgenössischer Entwicklungs-Antizipation: nämlich an die Zukunft des Menschenbildes in Zeiten hybridisierender Hypertechnologie. Sie rührt damit auch an Kernbegriffe des Humanismus wie Autonomie, Würde und Unverletzlichkeit. Weil Fragen und Begriffe Wirklichkeiten schaffen, wird die Themenstellung „Bis wann bleibt ein Mensch ein Mensch?“ die Zukunft eines immer grundlegender von Technik bestimmten Menschseins beeinflussen. Dazu mehren sich die konkreten Fallbeispiele.

Gehirn-Gehirn-Schnittstellen

Die Frage nach der Grenze des Menschseins im Prozess seiner „durchdringenden“ – penetrativen, invasiven – Technologisierung stellt sich in erster Linie wegen der rapide voranschreitenden Entwicklung von Direktverschmelzungstechnologien zwischen Mensch, Computer, Künstlicher Intelligenz und (intelligenter) Maschine. Diese Entwicklung wird als Trend zu „Neuen Humantechnologien“ mittels „Konvergenz“ zwischen Mensch und Maschine bezeichnet. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen Biologie und Technologie auf. Beispiele für diese Entwicklung häufen sich jährlich, mittlerweile beinahe monatlich.

Marty Feldman als Igor in Young Frankenstein, der ein Gefäß mit einem Gehirn in den Händen hält. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Transhumanismus.
Young Frankenstein, 1974. © Getty Images

Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCIs) und Gehirn-Maschine-Schnittstellen (BMIs) waren über Jahre die fortgeschrittensten „neuen Humantechnologien“. Mittels ihnen können bereits heute menschliche Gehirne routinemäßig mit Maschinen und Computern interagieren. Das soll nach und nach zu einem „Internet der Gedankensteuerung von Maschinen“ führen – was bis zu einem gewissen Grad eine „Cyborgisierung“ des Menschen voraussetzt. Manche – wie etwa der BMBF Zukunftskreis der deutschen Bundesregierung – nennen das die Entstehung einer „Digitalen Telepathie“. Dazu haben alle großen Technologiefirmen seit Jahren eigene Programme laufen. Die praktischen Grundlagen dafür bestehen bereits heute in Industrie und Kultur.

Eine Ratte mit Gedanken steuern

Dazu kamen im Februar 2019 als dritte Säule erstmals Gehirn-Gehirn-Schnittstellen (BBIs). Bei BCIs und BMIs können menschliche Gehirne mittels „Übersetzungen“ von Gehirnprozessen an Computer und Maschinen mit diesen kommunizieren und Befehle durch Gedanken übertragen.

Bei BBIs waren es in revolutionärer Weise erstmals das Gehirn eines Menschen und das einer Ratte, die von chinesischen Wissenschaftlern über einen Zwischenübertragungscomputer miteinander kurzgeschaltet wurden. Wie die Wissenschaftler in ihrer in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Arbeit darstellten, konnte das menschliche Gehirn das Gehirn der Ratte mehr oder weniger in Echtzeit steuern und damit die Ratte durch ein Labyrinth steuern.

In den meisten Darstellungen wird dies als Einbahnstraße zwischen menschlichem Gehirn (Akteur, Mensch) und „Anderem“ (Objekt, Ratte) beschrieben. Da solche Prozesse jedoch oft Rückkoppelungen auf der Grundlage von Wechsel- bis Mehrseitigkeit (Bidirektionalität, hermeneutische Zirkelübertragung) beinhalten können, ist fraglich, ob das menschliche Gehirn – und damit ein wesentlicher Teil des Menschseins – davon unberührt bleibt. Die – derzeit noch völlig offene – Frage ist, bis wann wir noch von einem menschlichen, und ab wann man von einem „hybriden“ oder gar „transhumanen“ Prozess (unterschiedlicher Art) sprechen müssen.

Diese Frage wird wichtiger, weil sich die Entwicklung und Anwendungsbreite solcher Direktschnittstellen beschleunigt. BCIs, BMIs und BBIs funktionieren mittlerweile sowohl invasiv (mittels Implantat) wie nichtinvasiv (mittels tragbarer Enzephalographenhauben, sogenannten „brain wearables“, erhältlich etwa als „Emotiv Headsets“). Das könnte Schnittstellentechnologien allmählich zu Ge- und Verbrauchsgütern im Zugang zu Information und in der Steuerung (auch Fernsteuerung) von Maschinen, Computern und anderen biologischen Wesen machen – mit allerdings noch unsicheren Auswirkungen auf den menschlichen Akteur selbst.

Digitalisierung der Gefühle

Neue Prothesen tun ein Weiteres zur Verschmelzung. Man nennt den entsprechenden Prozess im Fachjargon „techno-anthropologische Hybridisierung“. So wird die ins Auge gesetzte Kontaktlinse nach Willen von Innovationsunternehmen wie „Mojo Lens“ bereits in wenigen Jahren zum Computer werden.

Er soll Informationen – möglicherweise verbunden mit Künstlicher Intelligenz – direkt ins Auge übertragen und damit bisherige Computer und Handys ablösen. Bei diesem „Invisible Computing“ werden die Grenzen zwischen Prothese, Medium und Ersatz verflüssigt – ohne dass es für die neuen Übergangsbereiche eine verbindliche Ethik innerhalb oder zwischen Gesellschaften gäbe.

Massiv wird auch an der Digitalisierung von Gefühlen (dem „Affective Computing“) geforscht. So etwa am Media Laboratory on Affective Computing des MIT in Bosten (Rosalind Picard) oder am Institut für Kreative Technologien der Universität von Südkalifornien (Jonathan Gratch).

Das Ziel ist einerseits, menschliche Gefühle in technischen Prothesen zum implantier- oder reizinduzierbarem Kaufobjekt zu machen, etwa über techno-magnetische Kranialstimulation von Gehirnaktivitäten; andererseits, Maschinen menschliche (oder menschenähnliche) Gefühle zu verleihen. In beiden Prozeßen soll mittels „Pervasive Computing“ die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmen.

Die Zukunft des Schmerzes

Ähnliches strebt die wachsend Zahl von „Biohackern“ an, die ihre Körper individuell mit Technologie verschmelzen oder modifizieren. Auch die Zukunft des Schmerzes liegt, zum Teil als Folge davon, in individuell anwendbaren Aufmerksamkeitstechnologien.

Folgerichtig sind Projekte wie Google’s „The Selfish Ledger“ eine Art Umkehrung der Herr-Knecht-Beziehung zwischen Mensch und technischem Instrument, worin das technische Instrument den Menschen in jeder kleinsten Alltagsbewegung zu steuern beginnt und der Mensch zur Drohne seines Geräts wird.

Das MIT-Projekt „Alter Ego“ will sogar die innere, stille Zwiesprache des Menschen mit sich selbst in ein Gespräch mit implantierten Sensoren, einem „zweiten Selbst“ technischer Art im eigenen Selbst verbinden. Dass damit eine Art Schizophrenie verbunden sein könnte, wird nicht bedacht.

Solche und ähnliche Projekte siedeln sich genau im Übergangsbereich aktiver Hybridisierung zwischen Mensch und Technik an. Dass japanische Wissenschaftler laut Berichten im Juni 2022 angeblich eine Künstliche Intelligenz entwickelt haben, die menschliche Gedanken visualisieren kann, ist da nur ein weiteres Teilchen im Puzzle menschlicher Transformation. Der nächste logische Schritt ist, dass sie darauf reagiert – und „zurückformt“.

Kann sich das Menschliche halten?

Die große Frage ist, ob sich das Menschliche im Rahmen dieser – von immer mehr Zugriffsseiten her ständig stärkeren – Technisierung mittlerweile auch seiner intimsten, vorsprachlichen Innenbereiche behaupten kann. Das gilt sowohl praktisch wie theoretisch. Denn im Hintergrund der Vielzahl parallel laufender Entwicklungen neuer Humantechnologien wird auch die ideologische Basis für Verschmelzung am Schnittpunkt Mensch-Maschine gestärkt.

Arnold Schwarzenegger als Terminator in Terminator 2, Judgement Day. Er schneidet an seinem Unterarm das Gewebe auf, um seinen darunter liegenden echten Arm, ein Endoskelett aus Plastik und Stahl, freizulegen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Frage, was transhuman ist.
Terminator II, 1991. © Getty Images

Dies geschieht einerseits durch autoritäre Regime wie das chinesische, das neue Humantechnologien systematisch für „Gehirndatenabbau“ bei Zugführern und Arbeitern, „Bevölkerungsverbesserung“ bereits in Schulen, Orwell‘sche Überwachung und militärische Zwecke wie den „Super-Soldier“ faktisch ohne ethische Einschränkungen und ohne Tradition einer kritischen Ideengeschichte für seine Machtsteigerung benutzt. Es erfolgt andererseits durch westliche Pro-Hybridisierungsideologien wie den „Transhumanismus“. Diese bilden Elite-Gruppen wie den „Global Future 2045 Congress“, der – bestehend aus Wissenschaftlern, Sozialidealisten und Spiritualitätsführern – bereits im März 2013 einen offenen Brief als Manifest für eine umfassend transhumane Welt an den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon sandte.

Tenor: Der Mensch solle sich in Körper und Geist so rasch und so weit als möglich mit Technologien verschmelzen. Denn nur seine Entwicklung „über das Menschliche hinaus“ (trans-human transition, trans-human transformation, trans-human transfiguration) könne seine langfristige Existenz und die Erde retten. Intelligente Technik wird bei solchen menschheitlichen Bestrebungen zum Schlüssel buchstäblich „von allem“ – der Verwandlung nicht nur des menschlichen, sondern (etwa mittels Geoengineering) auch des Erdkörpers in bislang ungedachte Zukünfte hinein.

Mit alledem ist vor allem eine Frage verbunden: Bis zu welchem Zeitpunkt, quantitativen und qualitativen Grad dieser Verschmelzung bleibt ein Mensch eigentlich noch ein Mensch? Und ab wann wird er zum Maschinenwesen, das streng genommen mehr Technologie als Mensch ist?

Antworten auf diese Zukunfts-Fragen fehlen bislang noch weitgehend. Doch immerhin wird die Diskussion um Normierung stärker. Das hat nicht nur mit den in Konflikt- und Kriegszeiten wachsend wichtigen Sicherheitsaspekten (wie etwa dem aufsteigenden Anwendungsbereich der Biocybersicherheit) zu tun, sondern auch mit noch immer weitgehend ausstehenden philosophisch-anthropologischen Überlegungen.

Versuche der Normierung

Versuche der Normierung „transhumaner“ Entwicklungen mittels Festlegung von Maßen bestehen erst seit kurzem – von wagemutig bis vorsichtig. Die einen, die eine empirisch-pragmatische Ethik wollen, legen den Maßstab auf den Körper: Wie viel von Gehirn und Gehirnfunktionen wurde durch Technik ersetzt, infiltriert, verändert? Davon soll ein „Umkipppunkt“ hergeleitet werden, ab dem Menschen zunächst als „Steigerungswesen“ – sogenannte „Cyborgs“ – gelten, später dann als humane Hybride, die sich bis zu einem gewissen Grad von menschenähnlichen (humanoiden) Maschinen unterscheiden.

Ann Robinson und Gene Barry und Ann Robinson als Sylvia Van Buren und Dr Clayton Forrester War of the Worlds. Barry hält einen Teil der Technologie der Aliens in der Hand. Robinson blickt verängstigt auf das Stück Metall. Die Aliens versuchen, die Welt zu erobern.
War of the Worlds, 1952. © Getty Images

Andere, darunter die philosophischen Moralisten, legen den Schwerpunkt des Ortes, ab dem ein Mensch in eine Maschine umkippt, in die Qualität des Bewusstseins: ein Cyborg-Dasein entsteht ab bestimmten Zuständen, Sinneswahrnehmungen und inneren Erfahrungen, die biologisch „normalen“ Menschen nicht zugänglich sind – etwa der Wahrnehmung von Infrarotlicht, der Wahrnehmung von Schwingungen der Erde, darunter Erdbeben (Moon Rivas), oder dem Hören von Farben (Neil Harbisson). Manches davon wird auch als experimentelle Kunst („Cyborg Arts“) konzipiert.

Wieder andere legen das Maß in die Zeit: wer sich selbst wesentlich über die normale Lebenszeit des Menschen hinaus körperlich und geistig im Zustand einer bestimmten Selbstreferenz („150 Jahre in geistiger Frische“) bewahrt, wird in diesem Bemessungsversuch in positiver Weise „transhuman“. Eine weitere Idee der Normierung ist eine legalistische: wenn zum Beispiel Roboter zu Staatsbürgern erklärt werden, wird einerseits die „Überwindung des Menschen“, von der bereits Friedrich Nietzsche träumte, nach Meinung der Befürworter (wie des Juristen Alain Bensoussan) Realität; andererseits entstehen dadurch auch Referenzpunkte für künftig „transhumane“ Menschen.

In der Festlegung solcher (bislang untereinander durchaus nicht homogener) Maßstäbe erfolgt eine – auch emotionale – Scheidung der Geister. Sie lässt im Dazwischen wenig Raum für ernsthaften Dialog zwischen den Lagern. Und dies, obwohl die meisten Versuche zur Festlegung bislang allesamt eher arbiträr bis eklektisch daherkommen. Ein Dialog zu Zwecken der Integration wäre dringend nötig.

Das Ende des Realen

Zu guter Letzt findet eine weitere, letzte Dimension der Verwandlung des Menschseins in einen „transhumanen“ Technik-Raum auf der konventionellen, nicht-körperpenetrativen Ebene statt. „Datenextrahierende“ virtuelle Globalgiganten wie Meta, Google, Amazon, Baidoo, Tencent oder Twitter beeinflussen mittels Künstlicher Intelligenz unser Bild, was der Mensch ist und werden soll – und zwar stärker, als manche das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten hätten.

Deborah Harry in Videodrome. Sie hält ein Aufnahmegerät in der linken Hand, das sie sich an das Ohr hält. Vor ihr ist ein Mikrofon zu sehen und eine Schreibtischlampe. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Zukunft des Menschen in der Digitalisierung.
Videodrome, 1983. © Getty Images

Die „Macht des Internets“ hat sich über Jahre kontinuierlich erweitert. Im Oktober 2021 äußerte Facebook-Chef Mark Zuckerberg erstmals, er träume von einem „Metaversum“: einer Parallelwelt, in der Menschen mit Virtual Reality-Hauben ihr gesamtes Sinnesfeld abdecken, um einen Großteil des Tages in einer virtuellen Welt im Internet zu verbringen – um dort zu arbeiten, zu kommunizieren und zu spielen.

Mehr oder weniger nur noch zum Schlafen und Entspannen sollen diese Menschen in die reale Welt zurückkommen. In der virtuellen „Metawelt“ werden inzwischen auch Geschäfte gemacht, der eigene Lebensunterhalt verdient. Auch eine eigene Währung soll es dort geben, die Metas Tochterkonzern Facebook in der Erstphase eine Zeit lang Libra nannte. Die übergreifende Vision ist, eine eigene technische Parallelwelt zu schaffen, die real anmutet und in der das Leben der Zukunft stattfindet – und zwar faktisch das reale Leben.

Optimierte Individuen in virtuellen Welten

Mittlerweile gibt es dazu zahlreiche konkurrierende Projekte, die um Investitionen konkurrieren. Das Gesamtvolumen des Marktes virtueller Parallelwelten betrug 2022 laut Analysten mehr als 61,8 Milliarden US-Dollar und wird bis 2027 auf 426,9 Milliarden US-Dollar geschätzt, mit jährlichen Wachstumsraten von 47,2 Prozent – also so viel wie kein anderer Wachstumsmarkt.

Hochtechnologie-zentrierte Staaten wie Japan erwarten in ihrem zentralen Führungsinstrument: der 11. Technologievorausschau bis 2040 eine weitgehende Verschmelzung realer mit virtuellen Welten, was eine „flexible Gesellschaft“ „optimierter Individuen“ nötig mache.

Aber auch in Deutschland mehren sich Versuche, eine zusehends virtuell konstituierte Gesellschaft als Möglichkeit in Betracht zu ziehen – etwa im Rahmen der interdisziplinären „Vorausschau“-Prozesse des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Unter den Ansätzen ist auch das Projekt einer eigenen „Metaverse Academy“ in Frankreich mit der Ankündigung, mittels Metaverse zehntausende reale Arbeitsplätze schaffen zu wollen – und zwar in der Immaterialität (Jean-Francois Lyotard). All das entspricht der auch in der Realwelt um sich greifenden Matrix einer Simulationswelt, in die Menschen mehr und mehr eingetaucht bleiben, etwa in Gestalt von „deep fakes“, auf die mittlerweile auch Politiker bei offiziellen Terminen hereinfallen.

Die Vollautomatisierung von Konflikten

Die Parallel- oder Simulationswelt wird maßgeblich nicht nur durch zivile Akteure, sondern auch durch die neueren Militärsysteme vorangetrieben. Dort hat zum Beispiel ein Kampfpilot im Einsatz nur mehr sehr wenig bis keine menschlichen Möglichkeiten der Beurteilung und Beeinflussung einer Situation mehr, da er nur ein kleines Rädchen in einer komplexen Mechanik ist.

Er kontrolliert nur begrenzte Handlungsparameter; der überwiegende Großteil ist Informationssammlung, -übermittlung und -integration durch KI, vorherige automatisierte Festlegung von Standards im Vergleich zur Zielbeurteilung sowie selbstlenkender intelligenter Waffeneinsatz auf der Grundlage von Satellitenaufklärung und vorher festgelegten Auswertungskriterien.

In modernen Waffeneinsätzen beherrscht ein hoch komplexes, intelligentes technisches System das Geschehen, das mehr Kybernetik als Mensch ist. Die Tendenz geht zur Vollautomatisierung von Konflikten. Die beteiligten menschlichen Akteure bewegen sich letztlich in einer nicht mehr von ihnen gesteuerten Simulationswelt.

Was bleibt, ist die Feststellung: Aktuelle Kriege haben die Wahrnehmung dessen, was wir als Krieg identifizierten, stark „transhuman“ verändert. Sie fühlen sich an wie ein Computerspiel im „Metaverse“ – nur dass richtige Menschen sterben. Das Menschliche wird hier auf die Opferrolle reduziert, weil das letzte Ziel der technischen Simulationswelten in High-Tech-Konflikten nie eine andere Simulationswelt, sondern noch immer der Mensch ist.

Einsam in der Parallelwelt

Bereits eine virtuelle Parallelwelt wie das „zivile“ Meta würde unser individuelles und gesellschaftliches Leben verändern. Immerhin – auf der einen Seite hätte es den Vorteil, dass wir nicht mehr das Haus verlassen müssen, keine Energie verbrauchen, keine Zeit verschwenden für Wege von A nach B. Wir wären also effektiver. Aber wir wären auch gefährdeter zum Beispiel durch Hackerangriffe.

Und: Wäre es gesund, einen Großteil des Tages isoliert vor dem Computer zu sitzen? Würde uns das aus der Realität entfernen – und verlören wir die ontologische Dimension des Lebens aus den Augen, weil wir letztlich „woanders“ von uns selbst leben? Wäre das dann noch Menschsein, wie wir es bisher kannten – oder etwas anderes? Unabhängig von der invasiven technischen Modifikation durch BCIs, BMIs und BBIs: bis wann bleibt ein Mensch in einer solchen künstlichen Welt, die sein Bewusstsein aufnimmt, ein Mensch?

Es könnte schon bald eine Zeit kommen, in der wir einen Teil unserer Leben in Welten leben, die – letztlich in uns, nämlich in unserem Bewusstsein – mit Avataren und virtuellen Räumen künstlich geschaffen wurden, von Firmen, die damit Profit machen.

Das wäre die „anthropotechnische“ Verwirklichung dessen, was wir den Datenextraktions-, Plattform- oder Überwachungs-Kapitalismus nennen. Der macht ja jetzt schon Geschäfte mit unserem Verhalten im Internet. Damit drohen wir in eine Welt abzudriften, in der die wirklichen Probleme der Welt ausgeblendet – und damit letztlich noch schwieriger lösbar werden. Je mehr Menschen in künstlichen, virtuellen Welten leben, desto mehr Echokammern unruhiger Selbste wird es geben. Und die Frage ist, ob das diese Selbste menschlicher oder unmenschlicher macht – und wo die Grenze liegt.

Verlust des Sozialen

Die Herausforderung der kommenden Jahre dürfte weniger in rasch voranschreitenden intelligenten Technologien wie ChatGPT liegen, von denen manche bereits voreilig „das Ende der Kreativität“ erwarten. Sondern sie dürfte eher an der Schnittstelle intelligente Technologien-Mensch zu suchen sein.

Geena Davis in The Fly hält sich die Hände vor den Mund in einer Geste des Entsetzens und der Trauer.
The Fly, 1984. © Getty Images

Denn intelligente Technologie geht parallel zum Menschen, entwickelt sich vielleicht auch in Konkurrenz zu ihm. Doch Schnittstellentechnologien verbinden sich direkt mit dem Menschen – und schaffen verschiedene Varianten von Hybriden, die für das bisherige Menschsein noch größere Verwandlungskraft entwickeln könnten.

Sicher ist: Viele sind auch ohne kühne Technologievisionen bereits überfordert mit zu viel Information. Das fördert die Vereinsamung des Menschen – und bringt seine Menschlichkeit an eine Grenze, wie man am „hate speech“ im Internet sehen kann. Ganz normale Menschen werden zu „haters“, die sich unbändig gegen andere auslassen – weil sie das Menschliche in technoider Anonymität ablegen können. Das nennt die zeitgenössische Forschung „technologisch bedingten Konnektivitätszerfall“.

Die Grenzen des Menschseins ausloten

Angesichts dieser Entwicklungen sollten wir die Grenzen des Menschseins in der Welt der neuen, schönen Humantechnologien besser als bisher ausloten. Unter anderem benötigen wir Alternativmodelle, die in die Wirklichkeit zurückführen. Wie könnten diese Alternativmodelle aussehen?

Ein Ansatz kommt von den Vereinten Nationen: Zukünftebildung, die die UNESCO „Futures Literacy“ nennt. Dort bringt man reale Menschen in Zukunftslaboratorien physisch zusammen, um über ihre Projektionen, Hoffnungen und Ängste, vor allem: ihren Gebrauch verschiedener Zukünfte miteinander zu reden. Raus aus dem Netz – hinein in die Vielfalt wirklicher menschlicher Zukünfte hier und jetzt. Das wird allmählich zu einer neuen Wissenschaft, die sich „Antizipation“ nennt.

Die Perspektive könnte sein: Gemeinsam gesellschaftliche Grundindikatoren festlegen, um Grenzannäherungen festzustellen, ab denen ein Mensch nicht mehr ein Mensch, sondern ein Hybrid ist. Dann könnten daran Empfehlungen geknüpft werden.

Das allein wird aber nicht ausreichen. Die Gesellschaft muss darüber reden, ob und inwieweit sie humanistisch oder transhumanistisch sein will. Es geht um Gemeinschaftsprozesse, die – aus der unmittelbar gelebten Wirklichkeit heraus – die Frage nach dem wünschens- oder fürchtenswerten Umschlagpunkt des Menschen in einen Maschinenmenschen breiter als bisher stellen.

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