Cyborgs und Mensch-Maschinen

Wenn der Mensch mit Technik verschmilzt, ist dies für manche ein evolutionärer Schritt, für andere das Ende des Menschseins.

Ein Mann mit einem Headset, das seinen gesamten Kopf bedeckt und zwei Handhelds kniet auf einem Gestell. Er blickt in Richtung Kamera und scheint etwas mit seinem rechten Arm zu steuern. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Cyborgs.
Auf der Tokio Game Show im September 2023. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Erweiterung. Neil Harbisson hat sich eine Antenne einsetzen lassen, mit der er Farben hören kann, er sieht sich durch die Technologie als Cyborg.
  • Unterstützung. Exoskelette können Menschen helfen, trotz Lähmung wieder zu gehen. Verändert die Erweiterung die Körperwahrnehmung?
  • Verbindung. Brain-Computer-Interfaces ermöglichen es, Gedanken in Schrift oder in Töne zu übersetzen, auch wenn man selbst nicht (mehr) sprechen kann.
  • Zukunft. Körper und Geist verbinden sich immer mehr mit intelligenten Technologien. Welche Folgen hat dies für den Menschen?

Neil Harbisson wuchs in einer tristen Welt auf. Der Himmel war immer grau. Der Regenbogen auch. Das Fernsehprogramm nicht 4K, sondern schwarz-weiß. Neil Harbisson leidet an einer Krankheit namens Achromatopsie.

Mehr Menschliches

Das bedeutet: komplette Farbenblindheit. Der Brite wollte sich mit diesem Schicksal nicht abfinden und beschritt einen ungewöhnlichen Weg, um sein Leben bunter zu gestalten.

2014 ließ er sich eine Antenne in seinen Kopf implantieren. Sie nimmt für ihn Farben wahr und übersetzt sie in Töne, die direkt in sein Gehirn gesendet werden. Gelb klingt anders als Rot klingt anders als Blau. Der wolkenlose Himmel klingt anders als ein Regentag. Ein Regenbogen ist eine Symphonie aus Tönen.

Seit er eine Antenne hat, ist Neil Harbisson anders als seine Mitmenschen. „Ich begann mich als Cyborg zu definieren, kurz nachdem ich meinen Körper mit der Technologie verschmolzen hatte“, erzählt er. Und seit er in Farbe träumt, seit also sein Gehirn ohne Zutun der Antenne Farben als Töne in seine Traumwelt integriert, fühlt er sich auch als einer.

Neue Sinne, neue Fähigkeiten

Die Antenne bezeichnet Harbisson als eines seiner Organe, genauso wie die Nieren eines sind. Er ist mit der Technik verschmolzen und sieht sich als trans in einem ganz neuen Sinn: als dem Menschsein entwachsen und Vorreiter einer neuen Spezies. Man muss sich aber nicht gleich eine Antenne ins Gehirn implantieren lassen. Die Entwicklung des Homo sapiens zum Homo machina geht schleichend vor sich.

Der Kopf des Cyborgs Neil Harbisson, aus dessen Hinterkopf eine Antenne ragt
Seit er mit seiner Antenne Farben hört, definiert sich Neil Harbisson als Cyborg. © Dilip Bhoye

Für viele ist das Smartphone eine Verlängerung des Arms und ein ausgelagertes Gehirn gleichzeitig – und Wissenschaftler arbeiten längst daran, es mittels Implantaten und Projektionen auf der Haut in den Körper zu integrieren. Exoskelette helfen Menschen mit Querschnittslähmungen wieder gehen zu können, und Arbeitern in Lagerhallen, schwere Gegenstände zu heben. Und mittels Brain-Computer-Interfaces können Menschen mittlerweile mit purer Gedankenkraft Mauszeiger oder gar ganze Gliedmaßen bewegen.

Harbisson steht an der Grenze zwischen zwei großen Strömungen: Die eine will restaurativ wirken, also Funktionen des Körpers wiederherstellen, die andere den Menschen und seine Fähigkeiten erweitern. Harbisson hat es zwar nicht geschafft, mittels der Technologie wieder Farben zu sehen, aber er hat eine Fähigkeit erlangt, die sonst niemand hat: Mithilfe seiner Antenne kann er auch Farbspektren wie Infrarotstrahlen wahrnehmen, die allen anderen Menschen verborgen bleiben.

Sind wir alle Cyborgs?

Die erste Geschichte eines Mannes, der zur Maschine wurde, ist eine tragische; Edgar Allan Poe hat sie sich 1839 ausgedacht. Sie handelt von der Suche eines namenlosen Erzählers nach dem berühmten Kriegshelden John A. B. C. Smith. Als er ihn ausfindig macht und sein Haus betritt, findet er dort nur ein „wunderlich ausschauendes Bündel-Etwas“, das plötzlich zu sprechen beginnt.

Es ist der General, der in seinen Schlachten so verwundet wurde, dass er nur noch aus künstlichen Einzelteilen besteht, die von seinem Diener jeden Morgen zusammengesetzt werden müssen. Von den Prothesen über das Glasauge bis hin zu den falschen Zähnen. Er ist, so der deutsche Titel der Geschichte, „ein verbrauchter Mann“.

Die Vision eines Cyborgs ist das genaue Gegenteil: ein Mensch, der durch die Technik so optimiert wird, dass er übermenschliche Fähigkeiten und Kräfte entwickelt. Der Begriff entstand im Jahr 1960. Er wurde von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline erfunden, die für einen Artikel in der Fachzeitschrift Astronautics darüber nachdachten, wie sich Menschen Technologie so zunutze machen könnten, dass sie im All überleben können: „Für den exogen erweiterten Organisationskomplex, der unbewusst als integriertes homöostatisches System funktioniert, schlagen wir den Begriff ‚Cyborg‘ vor“, schrieben sie damals. Weniger kompliziert ausgedrückt: Für den Cyborg ist die Maschine ein Teil seines Organismus – und sie erweitert den Menschen um Fähigkeiten, die er vorher noch nicht hatte.

Eins mit dem Smartphone

Was das aber genau heißt, wollte auch Cyborg Neil Harbisson wissen. Er besuchte Manfred E. Clynes (Kline ist bereits verstorben) in seinem Haus in der Nähe von San Francisco, um mit ihm darüber zu sprechen, was einen Cyborg ausmacht. Harbisson war ein wenig enttäuscht von dem, was er hörte.

Wir sagen „Ich habe keinen Akku mehr“ und nicht „Mein Smartphone hat keinen Akku mehr“.

Denn ein Cyborg ist für Clynes jeder, dessen Körper und Geist mit der Technologie verschmolzen sind. „Er erklärte mir, dass jemand, der zum Beispiel Fahrrad fährt, als Cyborg definiert werden kann“, erzählt Harbisson. „Weil ein Fahrrad eine Art von Technologie ist, die, wenn sie mit dem Körper verbunden ist, auch das Bewusstsein des Fahrers verändert, genauer gesagt, den Gleichgewichtssinn.“

Im Grunde wäre dann auch jener Ägypter rund 600 vor Christus schon ein Cyborg gewesen, dessen Mumie eine Holzzehe enthält, die offenbar voll funktionsfähig war: Die erste Prothese, von der wir wissen, half ihm, das Gleichgewicht besser zu halten, das ihm mit dem Verlust seiner großen Zehe verloren gegangen war.

Harbisson war mit dieser Definition eines Cyborgs unglücklich: „Für mich besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem Fahrradfahren und der Implantation einer Antenne in meinen Kopf, denn das Fahrradfahren hat mein Identitätsgefühl nie verändert.“ Umgekehrt würden sich auch die meisten Radfahrer nicht als Cyborgs sehen und vermutlich davon Abstand nehmen, sich eine Antenne in den Schädel pflanzen zu lassen.

Aber dieses Beispiel zeigt trotzdem etwas auf: dass es uns oft gar nicht so bewusst ist, wie sehr wir bereits mit der Technologie verschmelzen und wie sehr sie unseren Geist beeinflusst. Wir sagen „Ich habe keinen Akku mehr“ und nicht „Mein Smartphone hat keinen Akku mehr“. Es ist ein Teil von uns geworden, und ohne sind wir verloren – oft wortwörtlich, wenn wir uns in einer fremden Stadt befinden und ohne Google Maps nicht mehr zurück zum Hotel finden würden.

Ein besseres Leben

Wie ein Cyborg fühle er sich nicht, sagt Gregor Demblin. Obwohl er wirklich gerade wie einer aussieht. Ein hydraulisches Schnaufen begleitet seinen Gang, die Schritte sind schwer und metallisch. Demblin ist nach einem Badeunfall auf seiner Maturareise im Jahr 1995 querschnittsgelähmt, doch nun geht er wieder. Er marschiert in einem EksoNR auf und ab, so heißt das Exoskelett, das ihm ermöglicht, was unmöglich schien. „Ich bin einundzwanzig Jahre gesessen, bevor ich wieder meinen ersten Schritt gemacht habe“, erzählt er.

Ein Therapeut hilft einem querschnittgelähmten Patienten in ein Exoskelett.
Gregor Demblin in seinem Exoskelett. Er hat das Unternehmen tech2people gegründet, das eine Therapie mit Exoskelett anbietet. © Philipp Horak

Es war ein „spektakuläres Gefühl“. Nicht nur, weil es ein Triumph über sein Schicksal war. Er hat Gehen völlig neu erlebt. Weil es für ihn nichts Selbstverständliches mehr war. „Es gibt beim Gehen so viele Dinge, über die man nicht nachdenkt“, erzählt er. „Das Schauen etwa, beim Gehen bewegt man ständig den Kopf, links, rechts; rauf, runter – das hatte ich schon ganz vergessen. Im Rollstuhl ist das eher wie eine Kamerafahrt.“

Fünf Jahre ist es her, seit Demblin seine ersten Schritte im Exoskelett machte, und sofort hatte er damals das Gefühl, dass er dieses Erlebnis auch anderen Menschen zugänglich machen müsse. „Ich habe echt jedes Training und jede Sportart ausprobiert, nichts war annähernd so effektiv wie das Exoskelett“, sagt er. Im EksoNR werden Muskeln trainiert, die er sonst nie bewegen kann.

Aber nicht nur seine physische Verfassung wurde besser, auch die psychische: „Ich bin glücklicherweise sowieso nicht auf der depressiven Seite, aber nach den Therapien bin ich kreativer, mir fallen Sachen ein, ich bin motivierter, neue Dinge anzugehen.“ Gemeinsam mit seinem Therapeuten gründete er das Unternehmen tech2people, das Menschen mit neurologischer Beeinträchtigung – ob Multiple Sklerose, die Folgen eines Schlaganfalls oder eben eine Querschnittslähmung – eine Therapie im Exoskelett ermöglicht.

Bald wieder bergsteigen

tech2people mietete sich im Krankenhaus Göttlicher Heiland in Wien ein, wo derzeit die Behandlungen stattfinden, bevor das Unternehmen in die Seestadt übersiedelt. Demblin sieht die Exoskelett-Therapie aber nur als ersten Schritt in Richtung einer besseren Zukunft: „In zehn Jahren möchte ich mit einem Exoskelett auf einen Berg gehen.“ Die Technologie sei fast schon so weit, es gebe nur noch zwei große Hürden: „Die Exoskelette müssen das Gleichgewicht halten können – das braucht größtenteils nur Rechenleistung.“

Meine Vision ist, dass ich das in der Früh anziehe, und keiner merkt es.

Gregor Demblin

Das zweite große Problem sind die Materialien. „Wenn ich diese Eisenteile den ganzen Tag am Körper habe, scheuere ich mir die Haut komplett auf“, sagt Demblin. Auch dafür wird bereits an Lösungen gearbeitet; die künftigen Exoskelette könnten Textilien sein, die sich durch elektrische Spannung ausdehnen und zusammenziehen. „Meine Vision ist, dass ich das in der Früh anziehe, und keiner merkt es“, sagt Demblin.

Er hat keine großen ideologischen Hintergedanken, er will nicht wie Neil Harbisson die Menschheit in ein neues Zeitalter führen. Demblin will einfach nur wieder bergsteigen können. Der technologische Fortschritt soll das ihm und allen, die sein Schicksal teilen, ermöglichen. Trotzdem glaubt er, dass die Technik unsere Gesellschaft zum Positiven verändern und unser Verständnis von Behinderungen komplett auf den Kopf stellen wird: „Ganz viele Dinge, die wir als Behinderungen kennen, werden keine mehr sein“, glaubt er – so wie heute niemand mehr als behindert gelten würde, der eine Brille braucht.

Arbeiten im Exoskelett

Exoskelette könnten bald nicht nur unsere Vorstellungen von Behinderungen auf den Kopf stellen, sondern auch die Arbeitswelt. Wenn Sandra Maria Siedl über ihre Arbeit spricht, muss sie oft auch über Tony Stark aus dem Marvel-Universum sprechen.

Ein Mann in einem roten Arbeitsanzug und mit Exoskelett arbeitet an einem Auto in einer Fabrikhalle. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Cyborgs.
Produktion des Porsche Mancan und Panamera in Leipzig im Dezemeber 2018. Das Exoskelett soll die Schultern entlasten, eignet sich aber auch, um Arbeitslast und -geschwindigkeit zu optimieren. © Getty Images

Der von Robert Downey Jr. gespielte Iron Man steckt in einem Supersuit, der unser Bild davon prägt, was ein Exoskelett ist und was es leisten können sollte. „Und auch wenn wir wissen, dass die Realität anders aussieht, prägt es doch unsere Gedanken und Erwartungen“, sagt sie.

Siedl forscht am LIT Robopsychology Lab der Johannes Kepler Universität in Linz an der Akzeptanz von Exoskeletten am Arbeitsplatz – denn sie sind auch dort auf dem Vormarsch. Es handelt sich aber eben nicht um Supersuits, sondern um Assistenzsysteme: „Als eine Art Hose übergestreift, als Handschuh angezogen oder wie einen Rucksack umgeschnallt – sie bilden eine äußerliche Stützstruktur, die stabilisiert, Bewegungen erleichtert, beim Halten entlastet“, erklärt Siedl.

Der zwangsoptimierte Mensch

Vor allem sollen die Exoskelette ihre Träger bei körperlich schweren Arbeiten unterstützen. Es waren zunächst große Automobilhersteller, die ihre Mitarbeiter mit dieser Technik ausstatteten, doch nun kommen immer mehr Unternehmer auf den Geschmack.

Im Idealfall ist das im Interesse aller: Mit Exoskeletten können schwere Arbeiten leichter und schneller durchgeführt werden. Gerade in westlichen Industrienationen, in denen die Arbeitnehmer immer älter werden, können sie helfen, „körperlichen Beschwerden und Verletzungen im Job vorzubeugen“, sagt Siedl.

Aber bei jungen Menschen stoßen Exoskelette oft auf wenig Begeisterung: „In ihren Augen erweckt das den Anschein, dass Bedarf an einer externen Unterstützung besteht“, sagt sie. Das Exoskelett ist für sie kein futuristischer Supersuit, sondern ein modernes Pendant zu einer Krücke. Noch dazu eines, das gruselig aussieht: „Je maschinenähnlicher das Design, desto eher nimmt man Exoskelette als kalt und einschüchternd wahr“, lautet Siedls Erfahrung.

×

Zahlen & Fakten

Und nicht nur das: „Häufig betonen Exoskelett-Hersteller schon jetzt die Möglichkeit zur Effizienz- und Leistungssteigerung als Verkaufsargument“, erzählt die Expertin. Wer ein Exoskelett trägt – oder tragen muss –, muss auch damit leben, dass jede Bewegung aufgezeichnet wird und dass Arbeitgeber diese Daten auswerten und nutzen. „Das Resultat wären wohl steigende Erwartungen an den (zwangs-)optimierten Menschen“, sagt Siedl. Mensch sein allein könnte am Arbeitsplatz der Zukunft „zur Schwäche verkommen.“

Kommunizieren über Gedanken

Immerhin: Bislang werden diese Exoskelette am Ende eines Arbeitstags einfach abgelegt. Aber in naher Zukunft könnten die Prothesen über einen im Gehirn implantierten Chip verbunden und mit purer Gedankenkraft gesteuert werden. Sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCI) lesen Neuronenströme aus dem Gehirn und setzen diese in Aktionen um. Ein beeindruckendes Beispiel dafür hat Neuralink, eines der zahllosen Unternehmen Elon Musks, geliefert.

In einem 2021 veröffentlichten Video ist ein Affe zu sehen, der mittels Joystick einen Cursor auf einem Bildschirm bewegt. Über ein Implantat direkt im Gehirn des Affen werden die Neuronen, die für diese Bewegungen verantwortlich sind, ausgelesen und interpretiert.

Wenig später bewegt der Affe weiter den Cursor, jedoch nicht mehr über den Joystick – das Brain-Computer-Interface sendet die Befehle des Gehirns direkt an den Rechner. Am Ende des Videos spielt der Affe das simple Computerspiel „Pong“, rein über seine Gedanken.

Denken heißt bewegen

Die Technologie, die dahintersteckt, wurde maßgeblich in Österreich mitentwickelt und nicht erst von Elon Musk. „1998 wurde ich gefragt, ob ich nicht gerne eine Projektarbeit machen möchte, bei der man mit Denken einen Roboterarm steuert“, erzählt Gernot Müller-Putz, der das Institut für Neurotechnologie an der TU Graz leitet.

„Durch die gedankliche Beschäftigung mit einer Aufgabe kann man bewusst Hirnsignale verändern.“

Gernot Müller-Putz

Das Prinzip war damals schon dasselbe, das heute den Affen „Pong“ spielen lässt: „Durch die gedankliche Beschäftigung mit einer Aufgabe kann man bewusst Hirnsignale verändern“, sagt Müller-Putz. Heißt: Daran denken, einen Arm zu bewegen, kann den Arm auch tatsächlich bewegen, weil sich die Hirnsignale ändern. Sobald der Roboterarm das veränderte Signal bekommt, ist das der Befehl, sich zu bewegen.

Schwarz-weiß Foto eines Mannes auf einem Stuhl, dem die Haare zu Berge stehen. Er ist von einer Gruppe Menschen umgeben, die zuschauen. Es handelt sich um eine Verkaufsveranstaltung für eine medizinische Prothese im Jahr 1923.
Eine Verkaufsveranstaltung für „elektrische Nerven“ als medizinische Prothese im April 1923 in den USA. © Getty Images

Auch das soll in Zukunft vor allem Patienten mit Querschnittslähmung helfen, bei denen „aufgrund der Rückenmarksverletzung der Befehl zur Bewegung nicht mehr vom Gehirn in die Arme und Hände geleitet wird“, erklärt Müller-Putz. „Unser Ziel: Wir wollen die ‚Unterbrechung‘ im Rückenmark umgehen und die Intention der Bewegung direkt in eine Bewegung, zum Beispiel einer Neuroprothese oder eines robotischen Arms, umsetzen.“ Dass das funktioniert, konnten Müller-Putz und sein Team bereits zeigen, nun arbeiten sie „an der Verbesserung der Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit“.

Ja schaut anders aus als Nein

Dem Österreicher Niels Birbaumer ist es gelungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die am Locked-in-Syndrom leiden. Bei dieser Krankheit versagt Muskel um Muskel, bis die Betroffenen vollständig gelähmt sind. Das Gehirn ist eingeschlossen in einen Körper, der komplett versagt; unfähig, sich mitzuteilen.

Bis Birbaumer ein Brain-Computer-Interface entwickelte, das es erlaubt, die Durchblutung des Gehirns zu messen. Birbaumer gibt Locked-in-Patienten zunächst Ja/Nein-Fragen, auf die sie und er die Antwort wissen. Dabei misst er, wie ein Ja im Gehirn aussieht und wie ein Nein.

Wenn das gelungen ist, können die Angehörigen den Patienten Fragen stellen, deren Antwort sie noch nicht wissen. Die Durchblutung des Gehirns zeigt an, wie sie die Frage beantworten. Eine der am häufigsten gestellten Fragen: Willst du noch leben?

Es ist kaum vorstellbar, dass Menschen, die komplett sich selbst überlassen sind, so etwas wie Glück oder Zufriedenheit empfinden könnten. Aber Birbaumers Forschungen zeigen, dass die Antwort auf diese Frage meistens Ja lautet: „Erstaunlich ist, dass bei Patienten, die in der Familie gepflegt werden, die Lebensqualität sehr gut ist.“

Der Unmut über Elon Musk

An Elon Musk will Birbaumer nicht anstreifen: Seine eigene Forschung beschäftigt sich damit, Kranken zu helfen, während Musk nicht nur mit der Kritik konfrontiert wird, dass für sein „Pong“-Video mehrere Affen sterben mussten. Musk glaubt auch, dass wir uns alle einen Chip implantieren lassen sollten, der unsere Gedanken ausliest und feststellt, ob wir krank oder gesund sind.

„Nach chirurgischer Implantation sollen auch gesunde Menschen mit ihren Gedanken direkt ihre Umwelt manipulieren können. Dass dies in begrenztem Ausmaß möglich ist, haben in den letzten zwanzig Jahren viele Untersuchungen gezeigt“, sagt Birbaumer. Aber er versteht nicht, warum wir das alle tun sollten. „Man muss sich fragen, welchen Sinn das bei Gesunden hat.“ Menschen ohne Beeinträchtigung könnten sich ja sowieso mitteilen und mit ihrer Umwelt in Kontakt treten.

Noch etwas anderes stört den Wissenschaftler: „Hinter der Forschung zu BCIs steckt natürlich auch der alte Menschheitstraum, Gedanken lesen zu können.“ Das Unterfangen erscheint zwar noch illusorisch, weil „die Entschlüsselung der elektrischen Hirnaktivität beim Denken erhebliche methodische und theoretische Schwierigkeiten bereitet“, wie Birbaumer einräumt.

Aber sollte es eines Tages gelingen, wird es schwerwiegende ethisch-moralische Fragen aufwerfen. Jeder Chip kann gehackt werden – und in diesem Fall würde der Hack Einblick in die Gedankenwelt eines Individuums bringen. „Dass dies den Gründer Musk und seine zahllosen ‚Follower‘ kaum bewegt, ist mehrfach dokumentiert“, sagt Birbaumer.

Von Maschinenmenschen und Menschmaschinen

Seit der Mensch existiert, hat er versucht, seine Schwächen mittels technischer Hilfsmittel zu überwinden. Es zeichnet unsere Spezies aus, dass wir das Rad erfunden haben, um Dinge besser transportieren zu können, und Pflüge, um den Ackerbau zu erleichtern. Ob Gehstock oder Brille: Auch unsere körperlichen Einschränkungen werden seit Jahrhunderten mehr oder weniger gut kompensiert.

Zwei Frauen, die eine im Rollstuhl, die andere mit einem Exoskelett mit vielen Kabeln, lachen. Die Frau mit Exoskelett versucht sich aufzurichten, was nicht zu gelingen scheint. Das Bild illustriert einen Beitrag über Cyborgs.
Bei der Robodex 2003 in Japan. © Getty Images

Doch wenn Menschen Chips und Antennen implantiert bekommen, ist ein neues Stadium erreicht: Die Technologie wird Teil des Körpers – und damit nicht nur angreifbar für Hacks und Computerviren. Neil Harbisson definiert sich nicht mehr als Mensch und betrachtet das als etwas Positives. Andere wiederum haben Angst davor, dass der Mensch sich in den kommenden Jahrzehnten abschafft, indem er zur Maschine wird.

Wann ist der Kipppunkt?

Was macht den Menschen zum Menschen? „Diese Frage wurde seit den Siebzigerjahren vor allem in der Abtreibungsdiskussion gestellt“, erzählt der Südtiroler Soziologe und Politikwissenschaftler Roland Benedikter. Also bei dem Streit, ab wann ein Zellhaufen beginnt, ein Mensch zu sein. „Dagegen wurde die Frage, wie lange ein Mensch ein Mensch bleibt, wenn sein Körper und Geist sich immer stärker mit Technik verbinden, bisher noch kaum diskutiert.“

Ein möglicher Ansatzpunkt könnte eine Art Stufenmodell sein, das bewertet, wie viel Maschine schon im Menschen steckt. „Davon soll ein Kipppunkt hergeleitet werden, ab dem Menschen zunächst als Hybridwesen – sogenannte Cyborgs – gelten“, sagt Benedikter. Bis sie irgendwann zu humanen Maschinen werden – und dabei vielleicht ihren Humanismus verlieren. Besonders problematisch wäre das, wenn die Transformation zur Maschine vom Staat vorangetrieben würde. China wird beispielsweise vorgeworfen, bereits an „Supersoldaten“ zu forschen.

Eine andere Definition eines Postmenschen sieht so aus: Wenn diese Personen „Sinneswahrnehmungen und innere Erfahrungen haben, die biologisch ‚normalen‘ Menschen nicht zugänglich sind“, wie Benedikter ausführt. Das würde auf Neil Harbisson, den Mann mit der Antenne im Kopf, bereits zutreffen. Er überschreitet Grenzen, die niemand vor ihm überwunden hat – oder überwinden wollte.

Rechte für Cyborgs

Seine Antenne musste er sich illegal einsetzen lassen, weil er keine Klinik fand, die ihn operieren und zum Cyborg upgraden wollte. „Ich habe also einen Arzt gefunden, der bereit war, mir die Antenne anonym in den Schädel zu implantieren“, erzählt Harbisson. Als er seinen Pass verlängern wollte, folgte ein monatelanger Streit mit der Behörde. Diese wollte erst kein Passfoto mit Antenne akzeptieren, weil sie das Tool als Accessoire sah, nicht als Organ. „Das wird sich hoffentlich in naher Zukunft ändern“, sagt Harbisson.

Eine in Weiß gekleidete Frau tanzt
Moon Ribas spürt alle Erdbeben auf der Welt über Sensoren in ihren Beinen. © Carlos Montilla

Denn die Cyborgs werden schleichend mehr: Die Künstlerin Moon Ribas hat sich seismische Sensoren in die Beine implantieren lassen, durch die sie jedes Erdbeben spürt, das auf der Erde aufgezeichnet wird. Sie baut das in ihre Tanzperformances ein. Kevin Warwick, genannt „Captain Cyborg“, hat nicht nur einen Sensor implantiert, der ihm ermöglicht, damit sein Smarthome zu steuern; er hat auch über hundert weitere in seinen Arm setzen lassen, über die er einen externen Roboterarm steuern kann. Und „Eyeborg“ Rob Spence, der bei einem Schusswaffenunfall sein rechtes Auge verlor, hat sich in die Augenhöhle eine Kamera implantieren lassen, die alles aufzeichnet, was er sieht.

Cyborg Harbisson: Alles, nur kein Mensch sein

„Irgendwann werden Cyborg-Operationen völlig normal werden“, glaubt Neil Harbisson. Er kämpft aktiv dafür und stellt Forderungen auf, die er für die Cyborgs dieser Welt erfüllt sehen will: „Wir fordern die Freiheit der Morphologie, also die Freiheit, zu entscheiden, welche Sinne und Organe wir als Individuen haben wollen. Genauso wie die Freiheit vor Demontage: den Schutz vor jeder Person oder Regierung, die technologische Organe aus unserem Körper entfernen will. Und wir fordern das Recht auf körperliche Souveränität, das heißt die Sicherung des Zugangs zu unserem Körper über das Internet.“

Neil Harbisson möchte die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie sein Körper aussehen soll, welche Funktionen und welche Organe er haben will – künstliche oder natürliche. Nur eines möchte dieser Mann auf keinen Fall: ein Mensch bleiben.

×

Conclusio

Ein gelähmter Mann kann mithilfe eines Exoskeletts wieder gehen, eine Künstlerin lässt sich Sensoren einpflanzen, um alle Erdbeben auf der Welt zu spüren: Diese zwei Beispiele zeigen, zwischen welchen Extremen die Verschmelzung von Mensch und Maschine in der Forschung vorangetrieben wird. Auf der einen Seite geht es um Erleichterungen für schwerkranke oder behinderte Menschen. Andere wollen dem eigenen Körper durch moderne Technologie Fähigkeiten verleihen, die er sonst nicht hätte – also zu einem Cyborg werden. Beiden Gruppen stehen bereits umfassende Möglichkeiten zur Verfügung: So gibt es etwa Implantate, die dem Gehirn erlauben, Dinge oder Körperteile allein mit Gedankenkraft zu steuern. Daraus erwachsen große Fragen: Was macht einen Menschen zum Menschen? Und wann wird der Mensch zur Maschine?

Mehr zum Thema

Unser Newsletter