Der Fall Paulus

Saulus warf Steine auf den ersten christlichen Märtyrer. Dann, auf dem Weg nach Damaskus, erschien ihm Christus. Von da an nannte er sich Paulus – und machte sich daran, das Christentum zur Weltreligion zu machen.

Die Illustration zeigt Saulus , der sich die Augen zuhält und Paulus der in die ferne blickt.
Ohne Paulus wäre der Prediger Jesus von Nazareth einer von etlichen geblieben, die sich zu jener Zeit zum Messias ausgerufen haben und schließlich aus dem Gedächtnis der Menschen verschwanden. © Claudia Meitert

Es war um das Jahr 30 nach Christus, da fand in Jerusalem eine bemerkenswerte Verhandlung statt. Stephanus, ein Diakon der christlichen Urgemeinde, war vor den Sanhedrin befohlen worden, um sich wegen eines Satzes aus seinen Predigten zu rechtfertigen, nämlich: Jesus habe gesagt, er wolle den Tempel niederreißen und die jüdischen Gesetze entweder ganz aushebeln oder korrigieren.

Stephanus, ein Intellektueller, der die Bibel kannte wie kein anderer, spannte in seiner Antwort einen weiten Bogen, am Ende rief er aus: „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ Es war ein Zitat des Propheten Daniel, der die Ankunft des Messias vorausgesagt hatte. Der Hohe Rat der Juden war empört, der Diakon wurde zum Tode durch Steinigung verurteilt. – Dies erfahren wir aus der Apostelgeschichte des Lukas.

Einer der Männer, der maßgeblich die Vollstreckung dieses Urteils leitete, war der Jude Saulus von Tarsus. Er genoss römisches Bürgerrecht und somit den Schutz der Besatzung, was seinem Wort in der Gemeinde Gewicht gab.

Wenig später auf einer Reise nach Damaskus erscheint ein Zeichen am Himmel, sein Pferd scheut, geht hoch und wirft ihn ab. In verschiedenen Berichten heißt es, Saulus habe sich beim Sturz ein Bein so schwer verletzt, dass er sein ganzes Leben hinkte. Es gibt mittelalterliche antichristliche Schriften, in denen auf den Teufel angespielt wird, der ebenfalls hinke. Vor dem am Boden liegenden Saulus steht Christus, der drei Jahre zuvor – wie die neuesten Berechnungen festlegen – am Kreuz gestorben war. Er spricht: „Warum verfolgst du mich und meine Kirche?“

Da habe sich Saulus zum Christentum bekehrt und sich von nun an Paulus genannt. In seinem ersten Brief an die Korinther schreibt er: „Ich bin der geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe.“

Er wurde vom Schlechtesten zum Besten …

Es liegt uns ein Konvolut von Schriften vor, hauptsächlich Briefe, die dem Paulus zugerechnet werden. Die außerordentlich poetischen Formulierungen lassen den Schluss zu, dass diese Schriften von ein und demselben Menschen verfasst wurden. Leider besitzen wir keine außerchristlichen Quellen, die unmissverständlich belegen könnten, dass es sich bei dem Verfasser auch um jenen Saulus/ Paulus handelt, der Steine auf den ersten christlichen Märtyrer geworfen hat. Immer wieder wurde vermutet, dass diese wunderbare Geschichte der Rekrutierung von Mitgliedern für die neue Religionsgemeinschaft diente und dienen sollte: „Seht, auch der Schlechteste unter euch kann zum Besten unter uns werden!“

Er wurde zu einem der Besten. Ohne Paulus, davon sind nicht wenige Historiker überzeugt, wäre der Prediger Jesus von Nazareth einer von etlichen geblieben, die sich zu jener Zeit zum Messias ausgerufen haben und schließlich aus dem Gedächtnis der Menschen verschwanden. Paulus sei der eigentliche Gründer des Christentums – der Missionar, der als Erster die Lehre und das Vorbild des Zimmermannssohnes in die Welt hinausgetragen und damit den Anstoß zum gewaltigsten Geistesgebäude des Abendlandes gegeben habe.

Paulus dachte weit größer als die ersten Christen.

Die Reisen, auf denen er den Menschen seine Ideen predigte, führten ihn an die äußersten Enden der damals als zivilisiert geltenden Welt. Wenn das Christentum in seinem Beginn eine jüdische Sekte war, die sich ganz auf die Auseinandersetzung mit der Mutterreligion, dem Judentum, konzentrierte, dann hat Paulus dieses neue Bekenntnis zu einer Weltreligion geformt.

Dass Paulus weit größer dachte als die ersten Christen, belegt der sogenannte Antiochenische Zwischenfall. So genannt wird ein Streit zwischen dem Apostel Petrus und Paulus. Petrus war mit unbeschnittenen Christen zusammengesessen, das heißt mit Christen, die keine Juden waren, sondern sich von einer anderen Religion ab- und dem Christentum zugewandt hatten. Dafür war er von der christlichen Jerusalemer Gemeinde heftig kritisiert worden, denn immer noch galt das alte Gesetz, dass Juden mit Nichtjuden keine Tischgemeinschaft pflegen dürfen.

Daraufhin zog sich Petrus von diesen Menschen zurück. Paulus, der die neue Religion für die ganze Welt öffnen wollte, schalt Petrus einen Feigling, einen Opportunisten. Für ihn, so wurde interpretiert, gelte die Beschneidung nicht mehr als ein Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem auserwähltem Volk. Von nun an gelte nur: dass Jesus als Messias anerkannt werde.

… und schreiben konnte er auch noch!

Paulus war ein Dichter. In seinem schönsten Gedicht – es ist der Beginn des 1. Briefes an die Korinther – singt er nicht nur das Hohelied der Liebe, er zeigt uns auch bis in Ewigkeit, worauf es in der Poesie, der Kunst, der Musik, worauf es in der Gestaltung unseres Lebens ankommt: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

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