Der Fall Augustinus

Als Bischof im nordafrikanischen Hippo begründete Augustinus (354–430) die Idee der Erbsünde. Sie belegt alle Christen von Geburt an mit schwerer Schuld. Allerdings nur auf den ersten Blick.

Die Illustration zeigt eine Schriftrolle auf der Schuld steht. Im Hintergrund sieht man einen Bischof mit einem Herz. Das Bild illustriert einen Artikel über Augustinus.
Als Bischof begründete Augustinus die Idee der Erbsünde. © Claudia Meitert

„Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld“, heißt es im katholischen Confiteor. Da geht der Mensch gebückt, als hätte er Sisyphos’ Stein am Buckel. Der wälzt den Brocken den Berg hinauf, doch kurz vor dem Gipfel entgleitet ihm der Stein, und Sisyphos muss sein Werk von neuem beginnen, wieder und wieder. Aber – und das wurde und wird wenig beachtet – während er vom Berg herabsteigt, ist er frei, frei von aller Last. Diese Freiheit hat der christliche Mensch nicht. Die Schuld, die er trägt, trägt er immer, denn auch wenn er sich nichts zuschulden kommen lässt, lastet auf ihm die Erbsünde.

Als „Erfinder“ der Erbsünde gilt Augustinus, der Bischof von Hippo Regius in Nordafrika. Er lebte von 354 bis 430 nach Christus. In seiner Theorie bezog er sich auf den Brief des Paulus an die Römer, wo es heißt: „In ihm“ – gemeint ist Adam – „haben alle gesündigt.“ Die Stelle ist allerdings fragwürdig übersetzt, Augustinus konnte nur sehr schwach Griechisch. Er interpretierte den Satz so: Die erste Sünde des ersten Menschen – nämlich, dass er vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hat – werde auf alle nachkommenden Menschen übertragen, eben vererbt.

Es ist in der Tat ein Statement, das eine Auswirkung auf unsere Kultur hatte, die nicht hoch genug eingeschätzt werden darf. Das schlechte Gewissen ist das Kreuz des Abendlandes.

Im Unterschied zum Christentum kennt die Antike das schlechte Gewissen nicht als Dauerzustand. Es gibt Zeiten im Leben des Menschen, in denen er sich schuldlos fühlen darf – siehe Sisyphos, wenn er den Berg hinabsteigt. Augustinus hat das schlechte Gewissen zum Dauerzustand erhoben. „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld …“ Ich bin mir keiner Schuld bewusst, weiß aber, dass ich schuldig bin. Ich bedarf der Gnade.

Schuld als Dauerzustand

Manche Bibelausleger meinen, damit habe Augustinus die Grundlage für eine neue Moral an der Zeitenwende von der Antike zum Christentum gelegt. Die Moral als ein alle Dinge und alle Zustände des Lebens durchdringender Maßstab hat es vor dem Bischof von Hippo nicht gegeben. Moral und Gewissen verschmelzen in der Seele jedes Menschen.

Augustinus hat das Gewissen zur Doktrin erhoben. Die Kirche hat seine Idee weiterentwickelt: Durch die Taufe werde ich Mitglied der Alleinseligmachenden, ich soll mich ihr anvertrauen und unterordnen, und sie wird mich dafür, kraft des Erlösungswerks Jesu – „der hinwegnimmt die Sünden der Welt“ –, von meiner Schuld befreien. Ein Trick? Und was für einer!

Ohne Erbsünde wäre der Mensch von Grund auf schlecht.

Aber! Die Erbsündentheorie des Augustinus schultert uns zwar einen Stein, schwerer als der des Sisyphos, sie nimmt uns zugleich aber die Schuld, an unserer Schuld selbst schuld zu sein. Das klingt paradox? Das ist es, bei Gott! Schuld an meinem schlechten Gewissen als einem Dauerzustand habe nun nicht mehr ich, sondern die Erbsünde, also Adam – der allerdings zu weit weg ist, um von mir zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das heißt: Eigentlich bin ich nicht schuld!

Erkenntnis des Seelenforschers

Der heilige Augustinus wusste, wovon er sprach. In seinen „Confessiones“, seinen Bekenntnissen – der ersten Autobiografie der Weltliteratur –, erzählt er von seinen jugendlichen Sünden, er klagt sich an, verdammt sich, krümmt sich vor seinem Gewissen und spricht sich schließlich frei, denn er konnte ja nichts dafür, und hofft nun auf die Gnade Gottes.

Das Christentum, zuvorderst die katholische Kirche, verdankt Augustinus alles. Ohne ihn wäre diese beispiellose Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. In seiner Seelenerforschung ist er auf das Ur-Dilemma des Menschen gestoßen, nämlich dass wir, die wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, jederzeit zwischen Gut und Böse wählen können. Wenn wir, und sei es nur einen Augenblick lang, mit dem Bösen liebäugeln, sind wir bereits schuldig. „Ich könnte, wenn ich wollte …“: Der Löwe, der das Zebra reißt, kennt dieses Gefühl nicht. Er hat mit gleichgültigem Blick zugesehen, als Eva die Frucht vom Baum pflückte und sie dem Adam überreichte.

Der Mensch ist schuldig, weil er die Schuld kennt. Und deshalb – so lautet das Paradoxon unseres Lebens – hebt die Theorie der Erbsünde nicht den Stein des Sisyphos auf unsere Schultern, sondern sie nimmt ihn uns ab. Wir sind unschuldig schuldig. Interessanterweise erzählt uns der Mythos nicht, warum der arme Sisyphos im Tartaros seine sinnlose Arbeit tun muss. Ohne die Erbsünde wäre der Mensch von Grund auf schlecht, die Erbsünde verweist auf die letzten Spuren des Paradieses in uns. Wenn wir, so predigen die Priester der Kirche, diese Schuld von dir nehmen, dann legen wir den paradiesischen Kern in dir frei.

Ich blicke auf mein Leben zurück und befürchte, dass diese einerseits dunkel diabolische, andererseits hell befreiende Moral allmählich an ihrem Ende angelangt ist. Dort steht dann ein von allem befreiter Mensch. Ob der aussieht wie Adam vor dem Sündenfall oder wie der grundböse Mister Hyde aus der Erzählung von Robert Louis Stevenson? Fragen Sie bitte nicht mich, fragen Sie jemand anderen!

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