Der Fall Otto von Bismarck
Otto von Bismarck erarbeitete sich Ablehnung aus allen Richtungen, spannte ein Sicherheitsnetz für Europa und verlor durch einen riskanten Schachzug alles.
Mein Vater war Historiker. Er hatte sich für dieses Studium entschieden, weil ihn drei Persönlichkeiten der europäischen Geschichte faszinierten: Talleyrand, Bismarck und Churchill. Und wenn ihn einer fragte, warum gerade diese drei, antwortete er: „Sie geben ebenso viele Gründe, sie zu verabscheuen, wie sie zu bewundern.“
Mehr von Michael Köhlmeier
Bismarck zum Beispiel: Den Konservativen ist er bis heute unheimlich, die Sozialisten hassen ihn nicht weniger, als er sie gehasst hat. Die Konservativen werfen ihm Illoyalität vor, den Kaiser habe er verachtet; das hätten zwar viele damals, er aber habe die Verachtung vor sich hergetragen wie eine Standarte, sogar vor ausländischen Diplomaten habe er sich geringschätzig über den obersten Herrn geäußert.
Die Sozialisten wiederum können ihm bis heute nicht verzeihen, dass er in einem Handstreich eingeführt hat, was sie sich als ein weit in der Zukunft liegendes, mit aller Kraft anzustrebendes Ziel gesetzt hatten, nämlich ein Sozialversicherungssystem, das bis heute als der Einstieg in den Wohlfahrtsstaat gilt. Eine widersprüchliche Person. Auf der einen Seite der „Eiserne Kanzler“, unzugänglich, unerbittlich, unversöhnlich, arrogant, abweisend; auf der anderen Seite kennen wir heute die Briefe an seine Frau, die durch Humor, Zärtlichkeit und Charme bezaubern.
Otto von Bismarck vereinigte in seiner Person eine Machtfülle, die weit über die des Kaisers hinausragte. Er war Ministerpräsident von Preußen und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 Reichskanzler des Deutschen Reiches, das ohne seine Initiative und seine Autorität nicht zustande gekommen wäre.
Die Aufteilung von Macht schafft Ruhe und Sicherheit.
Ob es auch Bismarcks Idee war, die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles zu verkünden, also im Herzen Frankreichs, und damit den besiegten Feind bis ins Mark zu demütigen, das darf bezweifelt werden. Bismarcks Vorstellung von einem Ausgleich der Kräfte in Europa, dem er seine ganze Politik widmete, lässt sich damit nicht vereinen, zumal die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland in so einem Akt ja nur angefeuert wurde. Dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg durch Verträge geknebelt wurde, die Frankreich den Verlierern ausgerechnet in Versailles zur bedingungslosen Annahme vorlegte, war die Revanche.
Machtausgleich als Lebenswerk
Absolute Macht ist ein Hirngespinst. Machterhalt ist Realpolitik. Im wirklichen Leben werden ohne Unterlass Kompromisse geschlossen – eben weil die Menschen verschieden sind, eben weil sie verschiedene Interessen, verschiedene Gefühle, verschiedene Vorstellungen vom Leben haben. In der Politik heißt das: Macht stützt sich auf Bündnisse. Bündnispolitik ist Friedenspolitik. Die Aufteilung von Macht schafft Ruhe und Sicherheit. Das war Bismarcks tiefste Überzeugung. Sein Lebenswerk bestand darin, ein Netz von Bündnissen über Europa auszubreiten, sodass keine Nation – seine Zeit war die Blütezeit der Nationen – einen Vorteil daraus ziehen konnte, einen Krieg zu beginnen.
„Wir verfolgen keine Macht-, sondern eine Sicherheitspolitik.“ So lautete seine Maxime.
Ein Brausekopf als Chef
Bismarck lud zur sogenannten Kongokonferenz nach Berlin ein, bei der die Aufteilung Afrikas unter den Kolonialländern geregelt werden sollte. Wohlgemerkt, es ging nicht um das Schicksal der Afrikaner, es ging um ein möglichst konfliktarmes Verhältnis der Europäer untereinander. Von deutschen Kolonien hielt Bismarck nicht viel, nicht aus humanitären Gründen: „Nicht das auch noch!“, soll er gestöhnt haben. Deutschland bekam das heutige Namibia. Wüste. Dass im Sand Diamanten lagen, wusste damals niemand.
Im Jahr 1888 wurde Wilhelm II. zum Kaiser gekrönt. Niemand traute ihm diese Rolle zu. Bismarck nahm ihn nicht ernst. Oftmals weihte er ihn nicht in seine Pläne ein. Er war der Meinung, ein Kaiser unter ihm könne und solle nur repräsentative Aufgaben übernehmen. Einen „Brausekopf“ nannte er seinen obersten Herrn. Er könne den Mund nicht halten, lasse sich schmeicheln. Am Ende werde er Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es geahnt oder gewollt zu haben. Wie wahr!
Zustimmung und Abgang
Die Konflikte zwischen den beiden spitzten sich zu. Um den Kaiser in die Knie zu zwingen, reichte Bismarck sein Entlassungsgesuch ein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Kaiser dem zustimmte. Der aber stimmte zu.
Wilhelm II. wollte Europa seinen Willen aufzwingen, er wollte Deutschland zu einer Weltmacht führen – „einem Platz in der Sonne!“. Nach dem Attentat von Sarajevo drängte er Kaiser Franz Joseph, Serbien den Krieg zu erklären. Aber Serbien war verbündet mit Russland und Russland mit Frankreich und Belgien mit England und so weiter … Wie mein Vater bin ich der Meinung, das 20. Jahrhundert war ein langes, und in Wahrheit begann es 1890, als sich Reichskanzler Bismarck aus der Politik verabschiedete – als „der Lotse von Bord ging“. Paradoxerweise kulminiert die Bedeutung dieses Mannes für das folgende Jahrhundert in der Frage: Wie sähe Europa aus, wäre er geblieben?