Der Mythos Palästina

Erst nach dem Sechstagekrieg und der Besetzung durch Israel entwickelten die Palästinenser eine eigene nationale Identität.

US-Präsident Bill Clinton vor dem Weißen Haus mit dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin (links) und PLO-Chef Yassir Arafat (rechts) nach der Unterzeichnung des Abkommens, mit dem ein Großteil des Westjordanlands in palästinensische Kontrolle überging. Es war der Beginn des Oslo-Prozesses (13. 9. 1993). Das Bild illustriert einen Artikel über Palästina.
US-Präsident Bill Clinton vor dem Weißen Haus mit dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin (links) und PLO-Chef Yassir Arafat (rechts) nach der Unterzeichnung des Abkommens, mit dem ein Großteil des Westjordanlands in palästinensische Kontrolle überging. Es war der Beginn des Oslo-Prozesses (13. 9. 1993). © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Palästina. Der Begriff veränderte seine Bedeutung über die Jahrhunderte: von einer römischen Provinzbezeichnung bis zu einer nationalen Bewegung nach 1967.
  • Palästinenser. Im britischen Mandat umfasste die Bezeichnung alle Völker und Religionen; Juden ebenso wie Araber, Muslime, Drusen oder Berber.
  • Zweistaatenlösung. Durch den Oslo-Prozess gelangten ab 1994 Gaza und ein Großteil des Westjordanlandes unter palästinensische Kontrolle.
  • Perspektiven. Nur ein tiefes Verständnis der komplexen Geschichte der Region kann die Basis für den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen legen.

Kaum ein Thema ruft im Nahen Osten so viel Verwirrung, Verzerrung und hitzige Debatten hervor wie die Entwicklung der palästinensischen Identität. Der Begriff „Palästinenser“ hatte nicht immer die nationale Konnotation, die er heute hat. Seine Bedeutung veränderte sich über die Jahrhunderte mehrfach und zum Teil dramatisch: von der erstmaligen Nennung durch das Römische Reich über eine geografisch-adminis­trative Bezeichnung unter osmanischer und britischer Herrschaft bis hin zur nationalen Bewegung nach 1967.

Das Verständnis für diese Entwicklung ist unerlässlich, wenn wir zu einer nüchternen Einschätzung der Komplexität gelangen wollen, die den israelisch-palästinensischen Konflikt mehr denn je prägt.

Hadrians Fluch

Die Geschichte der Erfindung Palästinas begann im Jahr 135 nach Christus, als der römische Kaiser Hadrian den Bar-Kochba-Aufstand in Judäa niederschlug. In der Folgezeit massakrierten und versklavten die Römer nicht nur große Teile der jüdischen Bevölkerung, sondern vertrieben sie auch aus ihrer Heimat und verstreuten sie im gesamten Reich. Um die Verbindung der Juden zu diesem Land auszulöschen, benannte Hadrian die Provinz Judaea in Syria Palaestina um. Die Wahl war bewusst getroffen. Sie erinnerte an die alten Philister, die Feinde des biblischen Israel, und trennte symbolisch das jüdische Volk von seiner angestammten Heimat, dem Land Israel.

In den folgenden Jahrhunderten diente der Begriff „Palästina“ in erster Linie als geografische Bezeichnung. ­Byzantinische, islamische, kreuzfahrer­zeitliche und osmanische Herrscher verwendeten ihn in verschiedenen Varianten, jedoch niemals zur Bezeichnung eines souveränen Staates. Auf europäischen Karten des 19. Jahrhunderts wurde „Palästina“ als römischer und nachrömischer Name für das biblische Land Israel angegeben. Es handelte sich dabei vor allem um eine beschreibende Bezeichnung ohne nationale Bedeutung für die arabischen Einwohner, die sich größtenteils als osmanische Untertanen verstanden. Selbst die arabische Identität im modernen politischen Sinne entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts für eine sehr kleine und gebildete Elite.

×

Zahlen & Fakten

Historische Karte der Region Palästina um die Zeit von Christi Geburt. Schon damals wohnten in der Region Juden zusammen mit anderen Völkern. F. W. Putzger, Historischer Weltatlas, 1902.

Historische Karte der Region Palästina um die Zeit von Christi Geburt.
Karte der Region Palästina 1902 © WIKIMEDIA COMMONS/ F. W. Putzger, Histor WIKIMEDIA COMMONS

Das britische Mandat

Eine häufige Verzerrung der historischen Fakten ist die Behauptung, das Mandatsgebiet Palästina (1918–1948) sei der erste palästinensische Staat gewesen. Das Gegenteil ist der Fall, denn das Mandat des Völkerbundes beauftragte Großbritannien mit der Umsetzung der Balfour-Erklärung von 1917, die „eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ versprach. Die Charta garantierte zwar die bürgerlichen und religiösen Rechte der Nichtjuden, übertrug jedoch ausdrücklich die politischen und nationalen Rechte allein den Juden.

Unter dem Mandat bezog sich „Palästinenser“ auf alle Einwohner: Juden, Muslime und Christen gleichermaßen. Ein jüdischer Arzt in Haifa, ein christlicher Priester in Bethlehem und ein muslimischer Kaufmann in Nablus konnten administrativ als „Palästinenser“ bezeichnet werden. Araber sahen ihre politische Identität häufiger in anderen Bezugspunkten – etwa im arabischen Nationalismus, panislamischer Solidarität, lokalen Clan- und regionalen Loyalitäten – als in einer eigenständigen palästinensischen Nation. Ihre Führung blieb zersplittert und gespalten, ohne eine einheitliche Vision für ihr Volk.

Am 29. November 1947 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen für die Teilung Palästinas in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen. Die jüdische Gemeinschaft begrüßte die Resolution 181 mit Freude und Optimismus, während die arabische Führung in Palästina und den Nachbarländern sie rundweg ablehnte und ihre Absicht erklärte, die Frage mit „der Macht des Schwertes“ zu lösen.

1948: Katastrophe für die Araber

Eine Katastrophe für die einen – die Erfüllung für die anderen. Der arabisch-­israelische Krieg 1948 brachte zwei diametral entgegengesetzte Narrative hervor. Für die Juden war es die Verwirklichung des zentralen Ziels des Mandats: die Gründung eines jüdischen Staates. Für die Araber war es die ­Nakba – die Katastrophe –, in der 700.000 Menschen flohen oder aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Jordanien annektierte 1950 das Westjordanland, während Ägypten den Gaza­streifen ohne Annexion verwaltete und ihn damit politisch in Schwebe hielt. In diesen zwei Jahrzehnten gab es kaum Anzeichen für einen unabhängigen palästinensischen Staat. Jordanien integrierte die Bewohner des West­jordanlands durch die „Jordani­sierung“ der Palästinenser in sein Staatswesen, während Ägypten den Gaza­streifen als Militärzone unter direkter Verwaltung behandelte.

Der Panarabismus unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser war auf dem Vormarsch und überschattete spezifischere Identitäten, darunter auch die palästinensische. Tatsächlich wurde der Begriff „Palästinenser“ damals weitgehend mit Flüchtlingen assoziiert.

Der verstorbene palästinensische Staatsmann Saeb Erekat erinnerte sich in seinen Memoiren, dass er bis zum Sechstagekrieg 1967 dachte, „Palästinenser“ bezeichne ausschließlich die Flüchtlinge, die er in der Nähe seines Hauses in Jericho sah. Die Palästinen­sische Befreiungsorganisation (PLO), die 1964 unter der Schirmherrschaft der Arabischen Liga gegründet wurde, genoss zunächst nur begrenzte Unterstützung in der Bevölkerung. Die Idee eines eigenen palästinensischen Staates hatte noch keine Wurzeln geschlagen.

×

Zahlen & Fakten

Die Geschichte Israels

Die Geschichte beginnt vor mehr als 3.000 Jahren, als im 12. Jhdt.v.Chr. die „Zwölf Stämme Israels“ in die bis dahin von Ägypten dominierte Region einwandern. 200 Jahre später wird das Königreich Israel gegründet, Salomon baut den ersten Tempel in der Hauptstadt Jerusalem. Nach ihm zerfällt das Land in das Königreich Israel mit der Hauptstadt Samaria im Norden und Juda mit der Hauptstadt Jerusalem im Süden. Die folgenden Jahrhunderte sind von Kriegen geprägt. 

Die gesamte Geschichte lesen Sie hier.

1967: Krieg als Wendepunkt

Das Jahr markiert die Entstehung einer palästinensischen Identität. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 wurde zum Wendepunkt. Die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens durch Israel bedeutete, dass nun die meisten Palästinenser unter israelischer Herrschaft lebten. Britische und französische Diplomaten, die später im selben Jahr die Stimmung im Westjordanland sondierten, berichteten, dass die Bevölkerung und deren Führer die Idee einer palästinensischen Unabhängigkeit als „Unsinn“ abtaten und eine Rückkehr unter jordanische Herrschaft anstrebten. Doch mit der Zeit führte die gemeinsame Erfahrung der israelischen Besatzung zu einem stärkeren Bewusstsein für die palästinensische Identität.

Die Niederlage der palästinensischen bewaffneten Organisationen gegen die jordanische Armee im „Schwarzen September“ (1970–1971) vertiefte die Feindseligkeit gegenüber Amman weiter. Der Niedergang des Panarabismus nach der Niederlage von 1967 führte auch dazu, dass er als wichtige politische Vision aufgegeben wurde. Auf der anderen Seite gewann die spezifisch palästinensische Lösung an Stärke. „Palästinenser“ bedeutete nicht mehr einfach „Flüchtling“ oder „Bewohner einer bestimmten Region“, sondern wurde allmählich zum Kennzeichen einer nationalen Identität. 1974 erkannte die Arabische Liga die PLO als alleinige Vertretung des palästinensischen Volkes an. Im selben Jahr hielt Yassir Arafat eine Rede vor der UN-Generalversammlung, in der er diese Identität symbolisch auf der Weltbühne bekräftigte.

Von da an fand die palästinensische Sache weltweit Resonanz und diente als Prüfstein für Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, den linken Aktivismus im Westen und die Menschenrechtsbewegung. In diesem Prozess gewann der Begriff „palästinensisch“ jedoch auch symbolische Bedeutungen, die oft nichts mit der Lebensrealität der Palästinenser selbst zu tun hatten.

Intifadas, Oslo, verpasste Chancen

Die Erste Intifada (1987–1993) war der erste anhaltende Volksaufstand im Westjordanland und im Gazastreifen. Er wurde von Basisnetzwerken, Studenten und Gewerkschaften angeführt und später „von oben“ von der PLO übernommen, die von den Ereignissen überrascht worden war. Steine, Demonstrationen und Streiks wurden zu Symbolen der Intifada. Sie führten der Welt die Einheit der Palästinenser vor Augen und zeigten Israel, dass ohne politische Lösung keine Herrschaft möglich war.

Dies ebnete den Weg für die Osloer Verträge Anfang der 1990er-Jahre. Die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und die gegenseitige Anerkennung Israels und der PLO, besiegelt durch den Handschlag zwischen Israels Regierungschef Yitzhak Rabin und Yassir Arafat im Jahr 1993, weckten Hoffnungen auf Versöhnung und einen eigenen palästinensischen Staat.

Doch Oslo ließ die schwierigsten Fragen – Jerusalem, Flüchtlinge, Siedlungen und Grenzen – ungelöst. In Israel leisteten rechte Gegner erbitterten Widerstand gegen das Abkommen. Dieser gipfelte schließlich in der Ermordung von Rabin durch einen jüdischen Ex­tremisten. Auf palästinensischer Seite lehnten die Hamas und der Islamische Dschihad die Abkommen rundweg ab und verübten 25 Selbstmordattentate, die das Vertrauen der israelischen Öffentlichkeit erschütterten.

Mehreren palästinensischen Quellen zufolge ging Arafat, der Vorsitzende der PA, nicht entschlossen gegen diese Anschläge vor, weil er sie als Druckmittel gegen Israel betrachtete, um seine poli­tischen Forderungen durchzusetzen. Diese Zweideutigkeit untergrub das Vertrauen Israels und ließ Zweifel aufkommen, ob Arafat wirklich Frieden wollte.

Palästinensische Kinder beobachten eine Pro-Intifada-Kundgebung der Hamas. Unter dem Fenster hängt das Bild eines getöteten Terroristen, der als Märtyrer gefeiert wird. Gaza, 2003.
Palästinensische Kinder beobachten eine Pro-Intifada-Kundgebung der Hamas. Unter dem Fenster hängt das Bild eines getöteten Terroristen, der als Märtyrer gefeiert wird. Gaza, 2003. © Getty Images

Arafats Tod im Jahr 2004 markierte das Ende einer Ära. Sein Nachfolger Mahmoud Abbas lehnte Gewalt ab, schaffte es jedoch nicht, die palästinensische Politik zu einen. Im Jahr 2005 zog sich Israel einseitig aus dem Gazastreifen zurück, in der Hoffnung, zumindest eine Front des Konflikts zu befrieden. Stattdessen eröffnete die gewaltsame Machtübernahme der Hamas über den Gazastreifen im Jahr 2007 ein neues blutiges Kapitel, das von wiederholten Kriegen zwischen der Hamas und Israel geprägt war.

Auf dem Gipfeltreffen in Camp David im Jahr 2000 legte der israelische Premierminister Ehud Barak einen Plan für einen fast vollständigen Rückzug der Israelis vor. Arafat lehnte ihn ab, und kurz darauf brach die Zweite Intifada (2000–2005) aus, die in einer Welle von Selbstmordattentaten und Schießereien eskalierte. Für die Israelis, die bei diesen Anschlägen mehr als tausend Zivilisten verloren, war der Terror in ihren Städten der Beweis, dass Zugeständnisse nur zu Gewalt führten. Für die Palästinenser vertieften die massive militärische Reaktion Israels und die Wiederbesetzung der Städte im Westjordanland die Verzweiflung.

Unterdessen scheiterten die fortgesetzten Verhandlungen zwischen Israel und der PA: Der Vorschlag von Premier­minister Ehud Olmert aus dem Jahr 2008, die Kerry-Gespräche von 2013 bis 2014 und Trumps „Deal des Jahrhunderts“ scheiterten alle aufgrund von Misstrauen und der Ablehnung durch die Palästinenser. Einige palästinensische Unterhändler bezeichneten Abbas’ Ablehnung von Trumps Angebot als „historischen Fehler“.

7. Oktober 2023

Das von der Hamas angeführte Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem 1.200 Israelis ermordet und 251 entführt wurden, markierte einen düsteren Wendepunkt. Für viele Israelis bestätigte es die seit langem gehegten Befürchtungen, dass ein souveräner palästinensischer Staat eher zu einer Basis für gewalttätige Aggressionen als zum Garanten für eine friedliche Koexistenz werden würde. Selbst Israelis, die lange Zeit eine Zweistaatenlösung unterstützt hatten, schreckten nun vor der Idee zurück, die Gräueltaten der Hamas mit einer Anerkennung der Staatlichkeit zu belohnen.

Unter solchen Umständen droht die Anerkennung Palästinas durch europäische Regierungen zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Mögliche Folgen wären, das Misstrauen Isra­els zu verstärken, einseitige Strategien der Palästinenser zu ermutigen und die Fähigkeit Europas, konstruktiven Einfluss auszuüben, zu schwächen, da es den Palästinensern bereits das gewährt hätte, was diese als ultimatives Ziel betrachten. Anstatt einen Kompromiss zu fördern, könnte eine solche Anerkennung fundamentalistische Positionen festigen und die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden noch weiter in die Ferne rücken.

Wechselnde Bedeutungen

Die Geschichte Palästinas ist im Kern eine Geschichte von Namen. Von „Palaestina“ als imperialer Bezeichnung über „Palästinenser“ als Bezeichnung für die Bürger während der Mandatszeit bis hin zur Identität nach 1967, die die Politik bis heute prägt, ist das Wort selbst eine Landkarte wechselnder Bedeutungen.

Um die Palästinenser zu verstehen, sei es als Volk im Kampf, als Nation in Wartestellung oder als politischer Gegner, muss man über die Rhetorik von Existenz und Nicht-Existenz hinausgehen. Die Geschichte kann nicht umgeschrieben werden, um simplen politischen Zwecken zu dienen. Aber sie kann in ihrer ganzen Komplexität und Detailtreue als einzige solide Grundlage für einen noch unausgereiften Diskurs und letztlich für jede Zukunft verstanden werden, die aufgebaut werden kann, sei sie gemeinsam, geteilt oder umstritten.

×

Conclusio

Palästinenser. Aus der ursprünglichen Bezeichnung für alle Bewohner der Region entwickelte sich nach der arabischen Niederlage von 1967 aus der Erfahrung von Besatzung und Konflikt eine palästinensische Identität.

Gescheitert. Sämtliche Friedensverhandlungen scheiterten aufgrund des Misstrauens und der Ablehnung durch die Palästinenser. Der 7. Oktober 2023 hat die Bedenken Israels gegen einen souveränen palästinensischen Staat verfestigt.

Staatlichkeit. Die Anerkennung Palästinas durch europäische Regierungen gibt palästinensischen Fundamentalisten Auftrieb. Ein dauerhafter Frieden kann nur auf Basis der komplexen Geschichte der Region entstehen.

Mehr zum Nahen Osten

Unser Newsletter