Libanon zwischen Neustart und Abgrund

Die Schwächung der Hisbollah eröffnet erstmals seit Jahrzehnten die Möglichkeit, das Gewaltmonopol im Libanon wieder in die Hände legitimer Institutionen zu legen.

Luftaufnahme mit Blick auf den Hafen von Beirut. Die Stadt galt in den 1960er-Jahren als Paris des Nahen Ostens. Beirut, Libanon 1948.
Luftaufnahme mit Blick auf den Hafen von Beirut. Die Stadt galt in den 1960er-Jahren als Paris des Nahen Ostens. Beirut, 1948. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Umbruch. Die militärische Schwächung der Hisbollah ermöglichte nach Jahren der Blockade die Wahl von General Joseph Aoun zum libanesischen Präsidenten.
  • Rückzug. Nach massiven israelischen Schlägen und dem Tod Hassan Nasrallahs steht die schiitische Miliz erstmals seit Jahrzehnten ernsthaft unter Druck.
  • Krise. Der Libanon steckt tief in Finanz- und Schuldenkrisen. Internationale Hilfe hängt von Reformen und der Eindämmung der Hisbollah ab.
  • Zukunft. Ob das Land zu Stabilität findet oder erneut zerbricht, entscheidet sich am Zusammenspiel von innerem Reformwillen und äußeren Machtinteressen.

Die massive militärische Schwächung der Hisbollah durch die israelischen Streitkräfte schuf die Voraussetzung für die Wahl von General Joseph Aoun zum libanesischen Präsidenten am 9. Jänner dieses Jahres. Zuvor hatten ihre Mandatare eine innenpolitische Einigung auf einen Nachfolger von Michel Aoun zwei Jahre lang verhindert.

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Das Amt des stets maronitischen Staatspräsidenten weckt zwar Erinnerungen an die Zeiten, als die koloniale Schutzmacht Frankreich dieser christlichen Gemeinde der Levante zu staatstragenden Funktionen verhalf. Doch Joseph Aoun war zuvor Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte LAF (Lebanese Armed Forces), der einzigen multikonfessionellen und -ethnischen Organisation im Zedernstaat – und pflegt zudem einen engen Draht zu Washington.

Einst das Paris des Nahen Ostens

Vor dem langjährigen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) wurden der Libanon und Beirut lange Zeit als Schweiz beziehungsweise Paris des Nahen Ostens bezeichnet. Doch der Krieg der konfessionellen Milizen führte nicht nur zur massiven Verwüstung des Landes, einer mehrjährigen israelischen Besatzung im Süden und zur Abwanderung des vormals florierenden Bankensektors. Er hatte auch zur Folge, dass Ayatollah Khomeini mitten im Krieg die über 500-jährige Verbindung mit den 12er-Schiiten im Land am Mittelmeer gezielt nutzte, um dort ab 1981 einen Statthalter nach Geschmack der rigorosen Islamisten in Tehran aufzubauen.

Seither beansprucht die jihadistische Organisation nicht nur fälschlicherweise, alle Schiiten des Libanon politisch zu vertreten, sondern präsentiert sich auch gern als Speerspitze im Kampf gegen Israel. Diese Selbstdarstellung wurde bislang durch die Tatsache erleichtert, dass es zwischen Beirut und Jerusalem kein Friedensabkommen gibt, wie dies zwischen Israel und Ägypten oder Jordanien der Fall ist.

Doch machten sich im Frühjahr im Süden des Libanon bis vor Kurzem kaum vorstellbare Truppenbewegungen bemerkbar. Dabei stießen die Streitkräfte der LAF in bislang von der schiitischen Miliz dominierte Gebiete vor. Auch die Präsenz der Hisbollah am internationalen Flughafen in Beirut, ihren Gegnern schon lange ein Dorn im Auge, wurde durch Entlassungen eingeschränkt.

Schwächung der Achse des Widerstands

Möglich machte dieses ungewöhnliche Vorgehen die Schläge der israelischen Armee und Luftwaffe gegen die Stellungen und Waffenlager der libanesischen „Achse des Widerstandes“, als deren Bestandteil sich die eng mit Tehran verbundene schiitisch-islamistische Bewegung gerne bezeichnet. Denn die Kämpfer der Hisbollah – ähnlich wie die Houthis im Jemen – nahmen den israelischen Gegenangriff in Gaza seit Oktober 2023 zum Anlass, sich mit den Palästinensern zu „solidarisieren“ und Tsahal zur Eröffnung einer zusätzlichen Front im Norden Israels zu zwingen.

Die libanesische Armee hat eine historische Gelegenheit, den ‚Staat im Staat‘ mit realen Erfolgsaussichten nachhaltig zu schwächen.

Dies hatte jedoch einen Schlagabtausch ungleicher Kräfte zu Folge. Die schiitischen Kampftruppen hatten trotz der Verstärkung durch die bis Dezember 2024 aus Syrien vertriebenen Verbände erhebliche Verluste zu verzeichnen.

Noch folgenreicher war die strategische Beeinträchtigung der Organisation auf Führungsebene durch die gezielte Tötung ihres Anführers Hassan Nasrallah. Außerdem wurde durch die ebenfalls im September 2024 ferngesteuert zur Explosion gebrachten Pager nicht nur die internen Kommunikationskanäle massiv beeinträchtigt, sondern auch ein nennenswerter Teil der Hisbollah-Mitglieder zumindest vorübergehend ausgeschaltet.

Hoffnung auf Souveränität

Der libanesischen Armee bietet sich vor diesem Hintergrund eine historische Gelegenheit, die militärische Degradierung der schiitischen Extremisten zu nutzen, um deren „Staat im Staat“ erstmals mit realen Erfolgsaussichten nachhaltig zu schwächen. Die vollständige Entwaffnung der Hisbollah entspräche zudem einer der Vorgaben der VN-Resolution 1701 des Sicherheitsrates, die den vorigen bewaffneten Konflikt zwischen Hisbollah und Israel in 2006 beendete. Dadurch wäre nicht nur das staatliche Gewaltmonopol wiederhergestellt. Auch der Weg in eine normalisierte Innenpolitik, die durch die Handlanger Tehrans nicht mehr jederzeit torpediert werden könnte, scheint greifbar.

Washington übt jedenfalls Druck auf den Libanon aus, die Gunst der Stunde zur nachhaltigen Schwächung des iranischen Stellvertreters konsequent zu nutzen. Als „Belohnung“ winken die dringend notwendigen Auszahlungen von Hilfsgeldern des IWF und der Weltbank. Denn der libanesische Staat befindet sich seit 2019 in einer kombinierten Finanz-, Währungs-, Wirtschafts- und Schuldenkrise, die durch die bisherige Lähmung der politischen Sphäre massiv erschwert wurde.

Einzig die weitreichende Verwendung des US-Dollars als Parallelwährung – auf Grundlage finanzieller Zuwendungen aus der libanesischen Diaspora – konnte bislang einen vollständigen Absturz der Wirtschaft verhindern. Ob es der neuen Regierung gelingen wird, die von den internationalen Finanzinstitutionen geforderten Reformen umzusetzen, bleibt fraglich.

Frischer Wind

Jedenfalls kam durch die Wahl des neuen Präsidenten im Jänner frischer Wind ins Parlament. Denn ohne einen Präsidenten im Amt und Würden kann keine Regierung angelobt werden. Als erster Schritt stand also die Bildung einer Regierung an, um das Interimskabinett zu ersetzen und dem Parlament endlich wieder seine volle gesetzgebende Kraft zu ermöglichen. Dazu gehören für Premierminister Nawaf Salam auch die dringend notwendigen Verhandlungen und Vertragsunterzeichnungen mit den internationalen Finanzorganisationen, um einen noch tieferen Absturz der gesamten Volkswirtschaft und die Verarmung weiterer Bevölkerungskreise zu vermeiden.

Im Mai fanden indes nach dreijähriger Verzögerung auch Gemeinderatswahlen statt. Nachdem die Hisbollah als der große Verlierer der Nationalratswahlen 2022 galt, wurde der Urnengang als wichtiges Stimmungsbarometer betrachtet. Der Hisbollah wie auch anderen traditionellen Parteien gelang es jedoch, sich in ihren jeweiligen territorialen Hochburgen zu behaupten.

Innenpolitisch bleibt jedenfalls ein Hauptziel, die Möglichkeit zur Repatriierung der knapp 1 Million zählenden syrischen Flüchtlinge durch die Beruhigung im Nachbarland zu nutzen. Deren Anwesenheit wurde mit zunehmender Wirtschaftskrise nämlich immer weniger erwünscht. Entsprechende Aufrufe auf höchster politischer Ebene waren schon seit dem Fall Baschar al-Asads im Dezember des Vorjahres zu hören. Mitte April besuchte Premier Nawaf daher konsequenterweise den neuen Herrscher Ahmed al-Sharaa in Damaskus, um sich über das bilaterale Verhältnis auszutauschen.

Fremde Mächte

Eine offene Frage bleibt im Zusammenhang mit dem massiven politischen Umbruch in Syrien, wie sich die dort abzeichnende Vorherrschaft der ehemals sunnitisch-jihadistischen Kampftruppe HTS auf die Politik im Libanon auswirken wird. Denn mit der Beendigung des Bürgerkriegs Anfang der 1990er Jahre wurde ein religiös-ethnisches Proporzsystem etabliert, das nach dem langjährigen Konflikt für die dringend notwendige politische Stabilität sorgen konnte.

Da im Libanon hunderttausende Nachfahren der Palästinaflüchtlinge leben, bleibt die Frage, wie sich das Verhältnis zu Israel entwickeln wird.

Doch die damals etablierte Ruhe wurde als derart wertvolles Gut gehandelt, dass ab einem bestimmten Punkt der Normalität die Bestimmungen des Friedensabkommens von Taif nicht mehr umgesetzt wurden. Deshalb wurden weder der geforderte „Nationalrat“ als überkonfessionelles Kontrollorgan eingerichtet noch der angekündigte Prozess der Entkonfessionalisierung des politischen Proporzsystem eingeläutet.Diese relative Ordnung wurde durch die Hisbollah ausgehöhlt, die als einzige paramilitärische Gruppe des Bürgerkrieges die Waffen behielt und somit in der Außenpolitik auch permanent einer Friedensfindung mit Israel im Weg stand.

Für den Libanon eröffnet sich erstmals seit den 1990er Jahren die Möglichkeit, das politische System ohne die Hisbollah als Klotz am Bein zu erneuern. Dazu könnte ein Nationaler Dialog beitragen, wie er von friedensfördernden Organisationen vorgeschlagen wird. Dabei rückt auch die Frage in den Vordergrund, ob sich nennenswerte externe Akteure – allen voran Saudi-Arabien, die USA und Frankreich – auf eine finanzielle Unterstützung einigen können, um dem Land eine dringend benötigte Friedensdividende zu verschaffen.

Da im Libanon auch hunderttausende Nachfahren der Palästinaflüchtlinge des israelisch-arabischen Krieges von 1948 in Lagern leben, einige davon auch bewaffnet, bleibt daher die Frage, wie sich das Verhältnis zu Israel entwickeln wird. Frankreich und die USA haben im November 2024 ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Libanon und Israel vermittelt – das bis jetzt gehalten hat. Der neue Premier verlangt jedenfalls konsequent den Abzug aller israelischen Streitkräfte aus dem Süden des Libanons.

Iran oder der Westen

Erst im Oktober 2022 hatte der US Sondergesandte Amos Hochstein die jahrelangen Verhandlungen zur bilateralen Grenzziehung zwischen Israel und dem Libanon im Mittelmeer erfolgreich abschließen können. Für die USA, wie auch innenpolitisch in Beirut, steht die Frage der endgültigen Entwaffnung der Hisbollah jedenfalls ganz oben auf der Tagesordnung.

Premier Minister Nawaf Salam kündigte dazu eine ‘Diskussion über das staatliche Gewaltmonopol und territoriale Souveränität’ an. Falls von Erfolg gekrönt, könnte die Hisbollah am Ende des Prozesses tatsächlich auf das natürliche Maß einer gewöhnlichen politischen Partei ohne Miliz geschrumpft werden. Dieser Ausblick könnte auch Riyadh unter MBS (Kronprinz Mohammed bin Salman) wieder gefälliger stimmen. Denn Saudi-Arabien liegt seit dem Zerwürfnis mit dem Premierminister Saad Hariri in 2017 im Clinch mit Beirut.

Am Ende des Tages wird jedenfalls ausschlaggebend sein, welche Akteure bereit sind, mehr Energie in die Stärkung verbündeter Kräfte zu investieren. Iran, der nach wie vor strategisches Interesse an einem Vorposten in Form der Hisbollah hat, oder der Westen und dessen regionale Verbündete, die versuchen sollten, souveräne, staatstragende Institutionen wie die libanesischen Streitkräfte zu unterstützen und dem Land durch internationale Hilfe die dringend nötige ökonomische Perspektive zu verschaffen.

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Conclusio

Hoffnung. Erstmals seit Jahrzehnten könnte im Libanon das staatliche Gewaltmonopol wiederhergestellt und der Weg für Reformen freigemacht werden.

Gefahr. Bleiben wirksame wirtschaftliche Hilfen aus oder versinkt das Land erneut in Blockaden oder Bürgerkrieg, droht der totale Kollaps des Zedernstaates.

Entscheidung. Bleibt der Libanon stabil, hat das Land eine zweite Chance auf Staatlichkeit. Scheitert es, stürzt es endgültig in den Strudel von Krise, Fremdbestimmung und Zerfall.

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