Gute Nacht! Warum wir Dunkelheit brauchen

Mit dem künstlichen Licht verschwand die Dunkelheit vor gut 150 Jahren aus unserem Leben – zu Lasten unserer Gesundheit. Wir sollten wieder lernen, finstere Nächte zu lieben.

Eine Straße mit Tankstelle bei Nacht. Das Bild ist Teil eines Beitrag über Dunkelheit.
Das Licht von Straßenbeleuchtungen hat Wellenlängen, die dem Tageslicht ähneln und daher die innere Uhr durcheinanderbringen können. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Erholung. Der Tag-Nacht-Rhythmus wird durch die Erdrotation bestimmt. Tagaktive Lebewesen wie der Mensch erholen sich nur bei Dunkelheit.
  • Umfassend. Alle Körperzellen sind auf diesen zirkadianen Rhythmus eingestellt und richten ihre Aktivität danach aus. Dies ist gänzlich unabhängig vom Sehsinn.
  • Individuell. Jedes Lebewesen schwingt im Rhythmus der Erdrotation, es gibt aber individuelle Unterschiede. Jeder Rhythmus ist ein bisschen anders.
  • Einklang. Je mehr Lebensstil und natürlicher Rhythmus übereinstimmen, desto gesünder; je konträrer die Rhythmen, desto schädlicher.

Die große Bedeutung der Dunkelheit für unsere Gesundheit ist eine relativ junge Erkenntnis. Zwar erforscht man schon seit den 1950er-Jahren den sogenannten zirkadianen Rhythmus intensiv, warum aber praktisch alle körperlichen Prozesse im Rhythmus von Tag und Nacht funktionieren, weiß man erst seit Anfang der 2000er-Jahre.

Mehr über Zellen

Lange Zeit war nicht klar, woher denn jede einzelne Körperzelle eigentlich weiß, ob es Tag ist oder Nacht, denn von unserem Sehsinn hängt diese Fähigkeit nicht ab – auch blinde Menschen haben einen Tag-Nacht-Rhythmus.

Zunächst: Was ist der zirkadiane Rhythmus? Im Prinzip beschreibt der Begriff die Synchronisation unseres Körpers mit der Rotation der Erde. Alle lebendigen Prozesse – egal ob bei Pflanzen, Pilzen, Tieren oder Menschen – unterliegen dem 24-Stunden-Rhythmus, mit dem sich die Erde um die eigene Achse dreht, weswegen wir Tag und Nacht haben. Jeder Mensch – und vermutlich auch jedes andere Lebewesen – hat dabei seinen eigenen Wohlfühl-­Rhythmus; bei manchen sind es 23,5 Stunden, bei anderen vielleicht 24,5.

Dass es so etwas wie eine innere biologische Uhr geben muss, die das Leben auf der Erde an diesen Tag-Nacht-Rhythmus anpasst, vermutete man schon im 18. Jahrhundert. Der französische Geophysiker Jean-Jacques d’Ortous de Mairan zeigte zum Beispiel, dass Mimosen, deren Blüten sich mit dem Sonnenaufgang öffnen und bei Sonnenuntergang schließen, diesen Rhythmus auch in durchgehender Dunkelheit beibehalten.

Heute ist es wissenschaftlicher Konsens, dass alle physiologischen Funk­tionen über eine „innere Uhr“ gesteuert werden, und man weiß, dass jede Zelle im zirkadianen Rhythmus mitschwingt. In der Nacht sinken Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur, die Nieren können nachts Medikamente besser verarbeiten, Organe regenerieren sich. Mit dem Licht des beginnenden Tages werden wir wach, der Stoffwechsel stellt sich auf Aktivität ein, Körper­temperatur, Herzschlag und Blutdruck steigen. Gibt es eine Dissonanz zwischen der ­natürlichen inneren Uhr und den Rhythmen unseres Lebensstils, steigt unser Risiko, krank zu werden.

Wie das Melanopsin entdeckt wurde

Als ich in den 1990er-Jahren in Harvard studierte, waren der zirkadiane Rhythmus und seine Rolle für die Gesundheit ein noch größeres Rätsel als ­heute. Damals entstand unter der Leitung des Mediziners Charles A. Czeisler in Harvard die erste Forschungsgruppe für Schlafmedizin. Czeisler hatte schon seit den frühen 1980er-Jahren versucht, experimentell nachzuweisen, dass sehr helles Licht den Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinanderbringen kann und damit ursächlich für verschiedene Erkrankungen verantwortlich ist.

Die Versuche waren teilweise abenteuerlich: Man leuchtete mit Taschenlampen in Kniekehlen und dergleichen. Wiederholen ließen sich die Ergebnisse natürlich nicht, aber man sammelte im Zuge dieser Forschung weitere Indizien, dass künstliches Licht zur Unzeit viele körperliche Prozesse durcheinanderbringt, nicht nur den Schlaf.

2001 schließlich wurde der Melanopsin-Rezeptor entdeckt. Dieses Eiweiß wird von bestimmten Zellen in der ­Retina gebildet. Das ist die Netzhaut im hinteren Teil des Augapfels. Melanopsin macht diese Zellen lichtempfindlich und ist für die Ausschüttung von Mela­tonin zuständig, das „Schlafhormon“, das in der Zirbeldrüse im Gehirn gebildet wird.

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Zahlen & Fakten

Illustration des zirkadianen Rhythmus und des Signalweges von Lichtwellen. Die Illustration ist Teil eines Beitrags über Dunkelheit bzw. Lichtverschmutzung und ihre Folgen.

Wie Licht und Dunkelheit unsere Zellen steuern

Alle unsere Körperzellen kennen den Rhythmus von Tag und Nacht. Der Grund ist ein Protein namens Melanopsin, das in bestimmten Rezeptoren in unserer Netzhaut enthalten ist. 

  • Lichtwahrnehmung ist mehr als der Sehsinn. Das menschliche Auge verfügt über zwei unterschiedliche lichtempfindliche (photorezeptive) Bahnen.
  • Unser visuelles Sehen, also die visuelle -Objekt- und Farbwahrnehmung, wird über den sogenannten primären optischen Trakt (POT) an die Gehirnregionen übermittelt, die visuelle Informationen verarbeiten. Für dieses optische Sehen sind die Zapfen und Stäbchen zuständig.
  • Daneben gibt es den retino-hypothalamischen Trakt (RHT), der Informationen über Licht und Dunkelheit an den Nucleus suprachiasmaticus (SCN) und die Zirbeldrüse (Hypothalamus) übermittelt. Für diese Lichtwahrnehmung sind Ganglienzellen zuständig, die das Protein Melanopsin enthalten, die ipRGC (intrinsisch photosensitive retinale Ganglienzellen). 
  • Die Wellenlängen des Lichts sind entscheidend: Vergleicht man die Lichtwahrnehmung (die „relative Quanteneffizienz“) von Zapfen und Stäbchen mit jener der ipRGC, dann sieht man, dass Letztere ihre Spitzenleistung bei einem kurzwelligen blauen Licht von etwa 480 Nanometer Wellenlänge haben und die Zapfen und Stäbchen bei eher gelbem Licht von 555 Nanometern.
  • Das Melanopsin in den ipRGC springt also bei blauem Licht (Tageslicht, LED-Leuchten, Smartphones etc.) an und blockiert die Ausschüttung von Melatonin. Unserem Körper wird signalisiert, es sei Tag. 

Melanopsin sorgt dafür, dass die Bildung von Melatonin blockiert wird, sobald es hell wird. Die lichtempfindlichen Ganglienzellen mit ihrem Mela­nop­sin reagieren dabei besonders stark auf kurzwelliges blaues Licht. Das ist vor allem das Sonnenlicht, aber auch das Licht vieler Innenraumleuchten und von Bildschirmen am Computer oder Smartphone.

Die Rezeptoren für Melanopsin sind unabhängig vom visuellen System, was die Entdeckung dieses Signalwegs ­erschwert hat. Früher dachte man zum Beispiel, dass blinde Menschen vielleicht besser vor Erkrankungen geschützt sind, die mit einem gestörten zir­kadianen Rhythmus zusammenhängen. Ich selbst war an einer Studie mit ­einer Kohorte blinder Frauen beteiligt. In unserer Forschungsgruppe in Harvard hatten wir die These, dass diese Frauen aufgrund ihrer Blindheit ein geringeres Risiko für Brustkrebs haben könnten. Es stellte sich aber heraus, dass auch ihr zirkadianes System gestört werden kann, und damit war klar: Es musste neben den bekannten Zapfen und Stäbchen unseres ­Sehsinns einen anderen Signalweg für den Tag-Nacht-Rhythmus geben und einen anderen Zusammenhang zwischen Gesundheit und unserer inneren Uhr.

Apropos: Interessanterweise hat man die Gene, die in den Zellen das Protein codieren, das für unser zirkadianes Zeitempfinden zuständig ist, viel früher entdeckt als die Ganglienzellen, die das Melanopsin bilden. So wurde schon in den 1980er-Jahren erkannt, welches Gen für die innere Uhr in den Zellen zuständig ist – eine Forschung, die 2017 mit dem Nobelpreis für Physio­logie beziehungsweise Medizin ausgezeichnet wurde.

Warum Lichtverschmutzung krank macht

Da Melanopsin die Produktion von Melatonin unterbricht, sobald es hell wird, wird Melatonin, unser sogenanntes Schlafhormon, nahezu ausschließlich in der Dunkelheit gebildet. Fast jede unserer Zellen hat Rezeptoren für Melatonin – was eine Erklärung dafür ist, warum so viele Erkrankungen mit einer Störung des zirkadianen Rhythmus zusammenhängen.

Wenn wir die Nacht durch künstliches Licht zum Tag machen, dann ist das in fast allen Körperzellen spürbar, unter anderem weil der Nachschub an Melatonin ausbleibt. Natürlicherweise ist unser Melatonin­spiegel nachts zwischen zwei und drei Uhr am höchsten.

Aleksander Lauréus, „Das Fest im Pfarrhaus“, 1815. Auf dem Gemälde ist eine Festgemeinde zu sehen, die bei Kerzenlicht tanzt und feiert. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Wirkung von Licht und Dunkelheit.
Aleksander Lauréus, „Das Fest im Pfarrhaus“, 1815. Schon zu der Zeit vermutete man aufgrund der Beobachtung von Blumen, die sich im Rhythmus von Tag und Nacht öffnen und schließen, dass es eine biologische innere Uhr geben muss. Kerzenlicht strahlt in Wellenlängen, auf die unsere innere Uhr weniger stark reagiert. © Getty Images

Nicht alle Menschen leiden in gleichem Ausmaß, wenn sie nachts künstlichem Licht ausgesetzt sind. Der zirkadiane Rhythmus ist individuell unterschiedlich, und je nach Chronotyp unterscheidet sich auch die Reaktion auf nächtliches Licht. Die Unterschiede scheinen genetisch festgelegt zu sein.

Dennoch gilt: Von starkem Über­gewicht über Diabetes, Krebs und Herzerkrankungen bis hin zu Depressionen gibt es kaum ein Krankheitsbild, das keinen Zusammenhang mit einer Störung des zirkadianen Rhythmus aufweist. Künstliches Licht in der Nacht ist bei Nachtarbeitern die wahrscheinliche Ursache für Krebserkrankungen, Immun- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Sterblichkeit ist durch das nächtliche Licht bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, erhöht.

Die Dunkelheit ist auf dem Rückzug.

Während man bei Nachtschicht­arbeitern sehr genau weiß, wann und wie lange sie nächtlichem Licht aus­gesetzt sind, ist es sehr viel schwieriger, die Auswirkungen von Umgebungslicht zu erforschen. Aktuellen Studien zu­folge hat nächtliche Beleuchtung in den letzten zwölf Jahren um fast zehn Prozent jährlich zugenommen. Spar­same LED-Leuchten trugen dazu bei, dass heute sehr viel mehr Beleuchtung eingesetzt wird als früher. Unsere Nächte werden also immer heller, die Dunkelheit ist auf dem Rückzug, vor allem natürlich in den Städten, wo heute 57 Prozent der Weltbevölkerung leben.

Die Forschung mag noch genug Rätsel bereithalten, aber sie zeigt uns, wie wichtig es ist, ganzheitlich über Gesundheit und Krankheit nachzudenken. Das Stichwort dazu ist Netzwerk-­Medizin, die etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, metabolische Erkrankungen wie Typ‑2-Diabetes und Nierenerkrankungen unter einen Krankheitsbegriff ­fas­sen will, weil diesen Erkrankungen ähn­liche Mechanismen zugrundeliegen. Alle diese Mechanismen haben mit dem zirkadianen Rhythmus zu tun.

Es gibt jedenfalls genug Gründe, sich allabendlich die Nacht zurückzuholen, die Vorhänge zuzuziehen, Fernseher, Laptop und Smartphone frühzeitig abzudrehen und die diversen Leuchten mit Lichtquellen auszustatten, die eher gelbliches Licht verbreiten. Wie einst die klassische Glühbirne.

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Conclusio

Ursachen. Da künstliches Licht auf einer zellulären Ebene wirkt, sind Forschungsansätze, die diese Prozesse einbeziehen, besonders vielversprechend, wenn es darum geht, den Ursachen der vielen sogenannten Zivilisationskrankheiten auf den Grund zu gehen.

Vermeidung. Auch wenn noch viele Forschungsdesiderate bestehen, würde die Krankheitslast insbesondere für Stadtbewohner sinken, wenn die Lichtverschmutzung reduziert würde. Lichtverschmutzung müsste etwa in der Stadt- und Verkehrsplanung Berücksichtigung finden.

Forschung. Weitere Forschung zur Wirkung von Licht und Dunkelheit scheint vor dem Hintergrund der vielen Krankheiten, die mit Lichtverschmutzung zusammenhängen, notwendig zu sein. Ebenso zeigt die bisherige Forschung, dass es einen ganzheitlicheren Krankheitsbegriff braucht.

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