5 Gründe gegen das Kalorien zählen

Wer abnehmen will und Kalorien zählt, wird eher zu- als abnehmen, sagt der Mediziner Tim Spector. Die Entscheidung über Gewicht und Gesundheit fällt nämlich das Mikrobiom in unserem Darm.

Nahaufnahme von Pommes frites auf einem Teller. Das Bild ist Teil eines Interviews mit Tim Spector über Übergewicht und Kalorien.
Sind Pommes ungesund? Und wenn ja, warum? Die These vom krank machenden Fett kam erst in den 1950er Jahren in die Welt. © Getty Images

Kalorien zählen, das ist für viele Diätratgeber und viele, die sie lesen, weil sie abnehmen wollen, der Königsweg zum Wunschgewicht. Die meisten scheitern. Tim Spector kann erklären, warum das so ist. Der Mediziner und Ernährungsspezialist hat ein neues Buch zum Thema geschrieben und nennt im Interview die entscheidenden fünf Gründe, warum Kalorien zählen nichts bringt. Für Eilige hier vorab:

  1. Das Mikrobiom entscheidet, nicht wir: Unser Darm ist von Bakterien, Archaeen und anderen Mikroorganismen besiedelt. Diese entscheiden, was wir gut verdauen können und was nicht. Und mit Kalorien zählen haben es die Darmbewohner nicht so. Nur was sie gut in Energie umsetzen können, nährt uns wirklich.
  2. Wir denken und fühlen, was wir essen: Das Mikrobiom des Darms unterhält rege Kommunikationsbeziehungen mit dem Gehirn. Frustration beim Abnehmen entsteht, wenn das Mikrobiom durch falsche Ernährung aus dem Lot gerät.
  3. Kalorien zählen bringt keine Selbsterkenntnis: Tim Spector meint, dass wir zuerst lernen sollten, was uns guttut, bevor wir eine Diät beginnen. Tun wir das nicht, klappt es mit dem Abnehmen auch nicht.
  4. Wer nur Kalorien zählt, erkennt die wahren Dickmacher nicht: Ein gesundes Mikrobiom ist ein robuster Schutz vor Übergewicht, verträgt aber keine hochgradig verarbeiteten Lebensmittel. Auch wenn diese fettarm und mitunter gar zuckerfrei daherkommen, machen sie dick.
  5. Wer abnehmen will, sollte auf die beste Wissenschaft vertrauen: Die Ernährungswissenschaften haben sich längst vom Tunnelblick auf die Kalorien verabschiedet, weil dieser auf direktem Weg in den berüchtigten Jojo-Effekt führt.

Das Interview mit Tim Spector

Herr Spector, vor circa einem Jahr haben Sie dem Pragmaticus ein Interview gegeben. Damals lief die Ernährungsplattform Zoe nach der Corona-Pandemie gerade wieder voll an. Welche neuen Erkenntnisse gibt es?

Tim Spector: Die Zoe-Ernährungsplattform läuft sehr erfolgreich. Wir haben 150.000 Mitglieder. 95 Prozent der Teilnehmenden spenden ihre Daten der Wissenschaft. Wir haben also die weltgrößte Mikrobiom-Datenbank und sind damit in der Lage, daraus Evidenz basierte Erkenntnisse zu gewinnen, die wir dann auch als wissenschaftliche Studien publizieren. Das ist ziemlich aufregend, weil wir tatsächlich viele neue Dinge entdecken.
 
Was zum Beispiel?
 
Sehr viele kleine Erkenntnisse, zum Beispiel wirklich interessante Dinge über Kaffee. Es gibt spezielle Darmbakterien, die ausschließlich mit dem Abbau von Kaffee beschäftigt sind. Für mich wirklich aufregend war auch die Entdeckung, dass der Darmparasit Blastocystis jene Mikroben im Darm angreift, die Fette aufspalten, uns bei der Fettverdauung aber helfen. Das sind seltsame Erkenntnisse. Denn es gibt Darmkeime, von denen wir dachten, sie seien schlecht, die sich aber als sehr gut herausstellen.
 
Viele dieser neuen Erkenntnisse haben Sie in Ihrem neuen Buch „Nahrung fürs Leben“ zusammengefasst, das eben im Dumont-Verlag erschienen ist. Es beleuchtet die Essgewohnheiten in industrialisierten Gesellschaften. Was war die Herausforderung?
 
Wer sich mit Ernährung beschäftigt, erkennt schnell, wie viele unterschiedliche Blickwinkel es gibt. Die Situation ist komplex. Nicht nur weil es viele unterschiedliche Lebensmittel gibt, sondern weil diese auch von Mensch zu Mensch anders wirken. Jeder Mensch hat sein ganz eigenes Mikrobiom, das sich über die Lebensjahre auch verändert. Das war zum Beispiel eine sehr wichtige Erkenntnis. Das Mikrobiom im Darm ist dynamisch, es verändert sich laufend. Das macht Studien auch sehr anspruchsvoll. Mit Zoe haben wir eine sehr große Gruppe von Menschen und sehr konkrete Daten und bekommen vollkommen neue Einsichten.

Kalorien zählen und Kalorien reduzieren sind nicht die Lösung bei Übergewicht.


Revolutioniert Zoe Ihre Ernährungsempfehlungen?
 
Ja, insofern, dass die allgemein gültigen Ernährungsempfehlungen, die Jahrzehnte verbreitet wurden, für viele Menschen nicht zutreffen, weil sich ihre Blutzuckerwerte oder Cholesterinwerte dadurch nicht verbessern. Oder das Kalorien zählen und reduzieren bei Übergewicht oft einfach nicht hilft und zu keiner langfristigen Gewichtsabnahme führen. Es beruht alles auf einem veralteten, sehr maschinellen Menschenbild. Es ist viel differenzierter.

Wie funktioniert in Ihrer Perspektive die Wechselwirkung von Nahrung und den Milliarden von Keimen in unserem Darm?
 
Das Essen, das wir zu uns nehmen, wird im Darm in seine Bestandteile aufgespalten und versorgt den Körper mit Energie und vielen anderen Stoffen, die ein gesunder Organismus braucht. Diese Arbeit erledigen Milliarden von unterschiedlichen Darmkeimen.

… die unter dem Überbegriff Mikrobiom zusammengefasst werden.
 
Genau. Man kann es sich wie einen Garten vorstellen. Das Mikrobiom ist der Nährboden, und der wird von den Ballaststoffen gebildet, die wir zu uns nehmen. Sie bestehen aus Millionen von Mikroben, die sich im Darm vermehren und ein gutes Klima bilden. Es ist ein bisschen so wie ein schöner Garten mit einer Vielfalt unterschiedlicher Pflanzen. Wie vielfältig und schön dieser innere Garten ist, hängt von dem ab, was wir zu uns nehmen.
 
Nach neuesten Erkenntnissen beeinflusst das Mikrobiom auch alle anderen Organe. Da gibt es die Bauch-Hirn-Achse, aber auch die Verbindung zum Immunsystem. Wie kann man sich das vorstellen?
 
Die Darmflora erzeugt viele wichtige Botenstoffe, die zwischen den Organen zirkulieren und den Organismus gesund erhalten. Das Gehirn registriert also, wenn im Darm etwas nicht in Ordnung ist. Darmmikroben bauen ja die Ballaststoffe in der Nahrung ab. Dabei entstehen chemische Stoffe, die dann in die Darmschleimhaut gehen. Sie wiederum sind der Treibstoff für die Immunzellen des Körpers, versorgen diese mit Energie. Und wenn es zu einer Infektion kommt, können körpereigene Abwehrkräfte losgeschickt werden. Das Mikrobiom hat auch auf die Immunreaktion einen großen Einfluss. Das konnten wir in der Zoe-Covid-Studie mit mehr als 750.000 Freiwilligen zeigen. Eine minderwertige Ernährung erhöhte das Infektionsrisiko und führte zu schwereren Krankheitsverläufen.

×

Zahlen & Fakten

Schwarzweiß-Foto eines Jungen mit einem Hund an einem Küchentisch. Der Junge füttert den Hund mit einem Löffel. Das Bild illustrirt einen Beitrag über Abnehmen und den Sinn und Unsinn von Kalorien zählen.
Falsch gefüttert: Die Lebensmittelindustrie förderte ab Mitte der 1950er Jahre gezielt die Verbreitung der Idee, Fett sei an der Zunahme von Übergewicht, Herzerkrankungen und sogar Diabetes schuld. © Getty Images

Wie die Lüge vom Kalorien zählen in die Welt kam

  • Das Nahrungsmittel mit der höchsten Kaloriendichte ist Fett. Wie der Ernährungswissenschaftler John Yudkin in seinem Klassiker über den Zucker, Pure, White and Deadly, darlegt, ist aber der Fettstoffwechsel evolutionär gut etabliert. Nicht so jedoch die Verarbeitung von reinem Zucker. Kalorie ist nicht gleich Kalorie, heißt das Buch im deutschen Untertitel.
  • Als das Buch 1972 in der ersten Auflage erschien, schuf sich Yudkin mit der These, nicht Fett mache dick, sondern der Zucker, viele Gegner unter Ernährungswissenschaftlern, aber vor allem auch in der Lebensmittelindustrie. Am Pranger von Weight Watchers bis Coca Cola standen vor allem die gesättigten Fettsäuren. Sie sollten schuld sein an Übergewicht und Herzleiden.
  • Die Argumentation: Fett hat viele Kalorien, wer abnehmen will, muss weniger zu sich nehmen, wer weniger Energie zu sich nehmen will, muss Kalorien zählen, um abzunehmen.
  • Macht man die Kalorien zum Kriterium, schneidet das Glas Cola immer besser ab als der Esslöffel Olivenöl zum Salat.
  • Für die Lebensmittelindustrie, die ab dem Zweiten Weltkrieg mit Schwung die Ära der Fertiggerichte und der hochgradig verarbeiteten Lebensmittel einläutete, konnte es kein besseres Argument geben, schließlich ist reiner Zucker ein günstiger Zusatzstoff, löst Heißhunger aus und wirkt außerdem als Geschmacksverstärker.
  • Die Journalistin Nina Teichholz zeigt in ihrem Buch The Big Fat Surprise wie die Dämonisierung von Fett ab Mitte der 1950er Jahre durch die Lebensmittelindustrie vorangetrieben wurde, bis schließlich die Mäßigung bei Fett und Fleisch (und damit die Mär vom einfachen Zuviel an Kalorien) Eingang in die Ernährungsrichtlinien in den USA und in Europa fand. Eine Schlüsselrolle spielten dabei Wissenschaftler wie Ancel Keys, der in den 1950er und 1960er Jahren einer der Gegenspieler Yudkins und seiner Zuckerhypothese war. Die Fetthypothese konnte sich schließlich bis weit in die 2000er Jahre durchsetzen.

Ihr neues Buch ist vor allem auch eine Aufforderung zu mehr Selbstbeobachtung. Warum?
 
Den meisten von uns wurde beigebracht, dass unsere Nahrung einfach nur Treibstoff für den Körper ist, und dass dieser Treibstoff in jedem von uns mehr oder weniger die selbe Wirkung hat. Das ist ein Irrtum. Jeder Organismus reagiert sehr individuell auf Nahrungsmittel. Das sehen wir, weil wir bei den Zoe-Mitgliedern ja den Blutzucker und die Blutfette messen. Wir sehen, dass Lebensmittel von Mensch zu Mensch eine unterschiedliche Wirkung haben können. Das kann also jeder nur selbst herausfinden.

Wie?
 
Ganz einfach. Jeder sollte beobachten, wie es ihm drei Stunden nach dem Frühstück geht. Wie fühle ich mich, wenn ich ein Marmeladebrot gegessen habe? Bin ich energiegeladen, bekomme ich nach drei Stunden eine Heißhungerattacke? Habe ich Blähungen? Über letzteres wird nicht gerne gesprochen, es ist aber ein sehr eindeutiger Hinweis, dass einem etwas nicht gut tut.

Und wenn das zutrifft, was dann?

Sollte man andere Dinge zum Frühstück ausprobieren. Wie ist es, wenn ich statt dem Marmeladebrot eine Avocado, eine Eierspeise oder Fisch esse? Über die Nachwirkungen der Lebensmittel auf den eigenen Körper sollte jeder dann erst einmal eine Weile Tagebuch führen – oder ein bisschen moderner – sich eine Voice-Mail schreiben – und aus diesem Protokoll dann Muster erkennen. Ich kann versprechen, diese Art der Selbstbeobachtung birgt Überraschungen.
 
Selbstbeobachtung statt Kalorien zählen ist dann die Grundlage, um die Ernährung dementsprechend auszurichten?
 
Eventuell. Die meisten werden dabei auch herausfinden, welch wichtige Rolle der Schlaf spielt. Nach einer guten Nacht reagiert der Körper anders auf Lebensmittel. Immer mehr Menschen haben Schlaf-Apps, das heißt, sie messen ihre Ruhezeiten. Ziemlich dasselbe sollte aus meiner Sicht auch bei der Ernährung passieren.
 
Wann braucht man sich keine Sorgen zu machen?
 
Wenn eine Mahlzeit satt macht, und das Sättigungsgefühl auch mehrere Stunden anhält. Ein Indikator für schlechte Verträglichkeit sind Blähungen, darauf wird zu wenig geachtet. Ein Alarmsignal sind aus meiner Sicht auch Heißhungerattacken, denn sie deuten auf starke Schwankungen des Blutzuckerspiegels hin. Wenn der Blutzuckerspiegel durch ein Marmeladebrot zu schnell ansteigt, dann kommt es – wenn er wieder abfällt – zu einer Unterzuckerung, der sich als Heißhunger manifestiert. Doch jeder reagiert anders. Es gibt Leute, die Marmeladebrote, Corn Flakes und Müsli zum Frühstück gut vertragen, andere nicht. Deshalb ist diese Selbstbeobachtung wichtig. Wir sehen in unserer Studie, dass jede dritte Frau und jeder vierte Mann einen starken Abfall ihrer Blutzuckerwerte nach dem Frühstück hat. Und zwar regelmäßig. Sie haben vormittags dann eine Heißhungerattacke und müssen schnell etwas essen.

Ist das eine Erklärung für Übergewicht?
 
Ja genau. Im Durchschnitt nimmt man durch diese Unterzuckerung 300 Kalorien täglich zu viel zu sich. Das summiert sich, wenn man es jeden Tag passiert. Und ist eine Erklärung, wie Übergewicht entsteht. Wer seine körpereigenen Reaktionen kennt, kann gegensteuern.
 
Ziel wäre, dass jeder für sich einen sehr personalisierten Ernährungsplan erstellt?
 
Genau, Zoe unterstützt bei einer maßgeschneiderten Ernährung. Wir informieren über Lebensmittel. In der klassischen Medizin findet diese Art der Ernährungsberatung ja so gut wie gar nicht statt.  
 
Was tun, wenn jemand starke Blutzuckerschwankungen bei sich feststellt?

Dann sollte man auf Croissants eher verzichten und auf Vollkornbrot umsteigen. Oder Kohlenhydrate im Brot überhaupt durch Eiweiß oder Fett ersetzen. Also zum Frühstück Joghurt oder ein Spiegelei essen.
 
Welche Lebensmittel lassen den Blutzucker schnell ansteigen?
 
Jede Form von Frühstücksflocken, also Corn Flakes und ähnliches. Oder Weißbrot, auch Haferflocken zum Beispiel. Sie führen zu einem wirklichen Zuckerschock, so wie auch Orangensaft, der wirklich für die meisten Menschen nicht gut verträglich ist und oft sogar schlechter noch als Coca-Cola. Aber wie gesagt: Es gibt auch Leute, die es gut vertragen. Auch das Lebensalter scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Wer jung ist, kommt auch mit hoher Zuckerzufuhr besser zurecht. Viele Dinge verändern sich mit den Lebensjahren. Das sieht man auch daran, dass Frauen in der Menopause plötzlich zunehmen, obwohl sie mehr oder weniger vielleicht das selbe wie seit eh und je essen.
 
Wenn alles so hoch individuell ist, kann es da überhaupt noch allgemeine Ernährungsempfehlungen geben?
 
Für mich selbst erstaunlich war die Tatsache, dass Bohnen in jeder Art wirklich ein sehr hochwertiges Lebensmittel und gut für den Organismus. Sie enthalten Proteine, Ballaststoffe und eine Reihe anderer Nährstoffe, die den Körper mit allem versorgen, was er braucht. Vor allem waren Bohnen über Jahrtausende ein wichtiger Bestandteil der Ernährung. Bohnen sind von unserem Speiseplan verdrängt worden. Auch die Tatsache, dass sie in Dosen sind, ist okay. Denn sie sind nur vorgekocht, aber keine Fertignahrung im industrialisierten Sinne mit allen schädlichen Zusatzstoffen.
 
Welche Lebensmittel sind aus ihrer Sicht noch unbedenklich?
 
Pilze. Sie enthalten ebenfalls Protein und Ballaststoffe und je nach Art auch wertvolle andere Zusatzstoffe, sogar Vitamin D. Wir sollten sie viel stärker in unseren Speiseplan einbauen. Auch weil sie gut für den Planeten sind. Das ist übrigens ebenfalls eine eine erstaunliche Erkenntnis. Die meisten Nahrungsmittel, die gesund sind, sind auch gut für den Planeten.
 
Welche Nahrungsmittel schätzen sie als bedenklich ein?
 
Es wäre sehr wichtig, dass die Leute sich der immens schlechten Eigenschaften von Fertignahrung bewusst werden. Vieles schmeckt zwar gut, ist aber Gift für den Körper. Wer das begreift, kann gesunde Entscheidungen treffen. Und weiß, warum er immer dicker wird, weil er bei jeder Mahlzeit ein Viertel mehr essen muss, um satt zu werden. Insofern: Weg von industrialisierter Fertignahrung ist meine dringende Empfehlung.
 
Die meisten sind sich vielleicht aber gar nicht bewusst, was alles hochgradig verarbeitete Fertignahrung ist …
 
Vor allem sehr vieles in Supermärkten. Viele Milchprodukte, aber auch Brot und alles Fertigessen aus Dosen oder dem Kühlregal enthalten sehr viele Zusatzstoffe. Auch die Struktur der Lebensmittel scheint eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Geriebene Nüsse werden vom Körper ganz anders verarbeitet als ganze Nüsse.
 
Was ist die Erklärung für die unterschiedliche Wirkung?
 
Beim Mahlen der Nüsse werden die Zellwände zerstört und damit verändert sich, wie diese im Darm verarbeitet werden. Das selbe gilt für Mais. Der Unterschied zwischen einem Maiskolben und Corn Flakes könnte größer nicht sein. Deshalb sind Vollkornprodukte ja auch so gut, weil die Struktur der Bestandteile darin noch erhalten ist. Das wiederum erklärt auch, warum Fertignahrung so schlecht für den Körper ist, die Inhaltsstoffe lassen sich kaum mehr erkennen.
 
Mit welchen Folgen?
 
Körpereigene Mechanismen, die für die Aufspaltung von Nahrung zuständig sind, werden ausgehebelt und die großen Mengen von Fett und Zucker, die in Fertignahrung wegen des Geschmacks enthalten ist, gehen in einer rasanten Geschwindigkeit ins Blut. Zu schnell. Es überfordert den Organismus. Der Blutzucker steigt rasant, wenn er dann wieder abfällt, äußert es sich als Heißhunger.

Was tun, um gesund abzunehmen?

Es gibt nicht die eine Diät, die bei allen wirkt. Aber generell ist meine Empfehlung, dass man zirka 30 verschiedene Pflanzen pro Woche essen sollte. Weil diese Vielfalt an Pflanzeninhaltsstoffen einfach auch gut für das Mikrobiom im Darm ist. Zusätzlich bekommt man durch das Essen von Pflanzen auch genügend Ballaststoffe, die, wie schon gesagt, den Nährboden der Darmflora bilden. Auch die Farben der Lebensmittel spielen eine wichtige Rolle. Ich sage immer „Essen Sie den Regenbogen“, also achten Sie darauf, Gemüse in unterschiedlichen Farben zu sich zu nehmen. Die Polyphenole in den Pflanzen tun dem Mikrobiom gut. Auch fermentiertes Gemüse enthält sehr viele gute Keime, die den Darm gesund und das Immunsystem fit halten.
 
Was halten Sie von den neuen Abnehmmedikamenten wie Ozempics und Wegovy?
 
Sie sind lebensrettend für Menschen mit Diabetes und Adipositas und eine medizinische Revolution. Diese Medikamente werden sich etablieren, keine Frage. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung, ich wage aber die Prognose, dass all jene, die langfristig abnehmen wollen, trotzdem ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen müssen. Dabei könnte das Medikament helfen, denn es senkt das Verlangen zu essen, wirkt also gegen Heißhunger und schafft damit die Möglichkeit, sich gesunde Ernährungsgewohnheiten anzugewöhnen. Die entscheidende Frage wird sein, ob Ärzte das nur das Medikament verschreiben oder ob sie es mit einer Ernährungsberatung koppeln. Wahrscheinlich ist es wesentlich leichter, nur das Medikament zu verschreiben als sich mit den wahren Problemen unserer Überflussgesellschaft auseinanderzusetzen. Ich bin der Meinung, dass Menschen lernen sollten, die richtige Auswahl von Nahrungsmittel für sich treffen zu können.
 
Bedeutet das, dass jeder sein Mikrobiom auch neu programmieren kann?
 
Absolut. Dafür gibt es genug wissenschaftliche Beweise. Wir sehen das auch sehr klar in der Zoe-Studie. Bei 85 Prozent der Menschen, die sich gesund ernähren, verbessert sich das Mikrobiom innerhalb von sechs Monaten signifikant.
 
Doch viele Fragen zum Mikrobiom sind einstweilen ungeklärt. Könnte sich die Erkennntnislage mit Hilfe von Artificial Intelligence (AI) in den nächsten Jahren verbessern.
 
AI ist gut, um in komplexen Systemen Muster zu erkennen. Also ja, wir werden besser verstehen lernen, welcher Darmkeim wofür genau zuständig ist. Im Rahmen der Zoe-Studie haben wir das auf einem sehr bodenständigen Niveau schon gemacht. Und wissen, dass es beim Mikrobiom immer auf das Verhältnis von guten und schlechten Darmkeimen ankommt. Doch dieses Verhältnis verändert sich dynamisch. Ziel muss es sein, Marker zu finden, mit denen wir das Mikrobiom messen können. Ich denke, dass AI dabei unterstützen wird.

Wie sehen Sie die Zukunft in der Ernährung?
 
Ich denke, dass die Menschheit viele alternative Proteinquellen zu Fleisch erschließen werden. Fleischkonsum wird nicht mehr wie jetzt die Regel, sondern die Ausnahme sein. Massentierhaltung oder Aquakulturen werden verschwinden, dafür werden neuartige Brauereien entstehen, in denen Eiweiße gezüchtet werden. Und ich denke auch, dass sie gut schmecken werden. Da bin ich optimistisch.

Und wie geht es mit industrialisierter Fertignahrung weiter?
 
Die Nahrungsmittelindustrie könnte ein ähnliches Schicksal wie die Tabakindustrie erleiden. Letztere haben sich auch viele Jahre erfolgreich gegen den Vorwurf gewehrt, dass Zigaretten gesundheitsschädlich sind. Da wurden Nebelbomben geworfen, um die wissenschaftliche Erkenntnislage zu verunglimpfen und Rauchen zu verteidigen. Insofern wird es wahrscheinlich weiterhin ungesundes Essen geben, aber es wird mit Gesundheitswarnungen versehen sein müssen. Das ist meine Vorhersage.

Über Tim Spector

Foto von Tim Spector in einem blauen Hemd.
Tim Spector. © Peter Schiazza

Tim Spector ist Professor für genetische Epidemiologie am King’s College London, ärztlicher Berater am Guy’s und St Thomas’ Hospital und Experte für personalisierte Medizin und das Mikrobiom des Darms. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem Die Wahrheit über unser Essen. Warum fast alles, was man uns über Ernährung erzählt, falsch ist und zuletzt Nahrung fürs Leben. Alle Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft.

Mehr über Essen

Mehr über Diäten

Mehr vom Pragmaticus