Erdoğans Machtpoker: Hamas, Iran, Russland

400 Jahre beherrschte das Osmanische Reich die Arabische Welt, heute versucht die Türkei, den Krieg in Israel für die internationale Bühne zu nutzen. Türkische Machtambitionen stellen die NATO erneut vor eine Zerreißprobe.

Der palästinensische Künstler Mohammad Toutah, der im Konflikt von 2008-2009 ein Bein verlor, zeichnet zur Feier des Wahlerfolgs ein Porträt des türkischen Präsidenten Erdogan im Sand von Gaza-Stadt 2018.
Der palästinensische Künstler Mohammad Toutah, der im Konflikt von 2008-2009 ein Bein verlor, zeichnet zur Feier des Wahlerfolgs ein Porträt des türkischen Präsidenten Erdoğan im Sand von Gaza-Stadt 2018. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Sprachrohr. Die Türkei nutzt den Konflikt in Gaza, um auf der internationalen Bühne Präsenz zu zeigen, was die Beziehungen innerhalb der NATO strapaziert.
  • Erster Spagat. Trotz der Unterstützung für die Palästinenser brach Ankara die wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel nicht vollständig ab.
  • Zweiter Spagat. Im Iran sieht die Türkei einen Rivalen, kooperiert jedoch mit Teheran, um seine Sicherheitsinteressen in Syrien und dem Irak durchzusetzen.
  • Dritter Spagat. Obwohl Nato-Mitglied und Waffenlieferant für die Ukraine, versucht die Türkei gute Beziehungen zu Russland zu wahren.

Noch im März 2022 keimte die Hoffnung auf, dass durch den Staatsbesuch des israelischen Präsidenten Herzog bei seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der Türkei eintreten werde. Die Rückkehr Benjamin Netanjahus in die israelische Politik und der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 trübten diese Aussichten. Der Kurs der türkischen Regierung gegen Israel verschärfte sich ungeachtet dessen weiter, sodass ein politischer Schulterschluss mit der Hamas und die Unterstützung Südafrikas in der Genozid-Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof folgten.

Die Türkei hat trotz ihrer Parteinahme für die Hamas und ihrer herben Kritik an der israelischen Regierung ihre diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel nicht abgebrochen. Beide Botschafter wurden lediglich zu Konsultationen einbestellt, jedoch nicht offiziell abberufen. Präsident Erdoğan will eine Hintertür offenlassen, sollte Israel der türkischen Moderation für Friedensverhandlungen doch noch zustimmen.

Hierfür wendet er sich auch an die Erzfeinde Israels, um dadurch entsprechend Nachdruck zu verleihen. Der türkische Außenminister und ehemalige Geheimdienstchef Hakan Fidan, der als potenzieller Nachfolger Erdoğans gehandelt wird, versucht unterdessen, sein Land weiterhin als unentbehrlichen Mediator einzubringen, um den Einfluss Ankaras in der Region aufrechterhalten zu können. Ein Abbruch der Beziehungen zu Israel wäre dahingehend nicht in der Absicht Ankaras.

Die Türkei kann für die Palästinenser als einziger islamischer Staat im westlichen NATO-Bündnis über strategisch wichtige Kanäle in Brüssel und Washington aufwarten.

Zwar verfügt Ankara nicht über den gleichen Einfluss in der Region wie der Iran oder Katar, doch es kann für die Palästinenser als einziger islamischer Staat im westlichen NATO-Bündnis über strategisch wichtige Kanäle in Brüssel und Washington aufwarten. Israel lehnte bereits sehr früh jeden Vermittlungsversuch aus Ankara ab. Zu groß war die Befürchtung Israels, dass Präsident Erdoğan den Krieg in Nahost für sich vereinnahmen und sich als ehrlichen Makler präsentieren würde, wie in den Konflikten um Libyen oder der Ukraine.

Erdoğans Abkehr von Israel nach Gazakrieg

Für den türkischen Staatschef ist die palästinensische Sache zugleich auch eine Prestigefrage. Ankara solidarisierte sich im Verlauf des Gazakrieges von 2006 mit den palästinensischen Organisationen und verwarf die alte israelisch-türkische Militärallianz aus kemalistischer Zeit. Er und viele seiner Mitstreiter sahen bereits sehr früh in den islamistischen Strukturen der Hamas und der Muslimbruderschaft eine Volksbewegung, die die Karte des Nahen Ostens maßgeblich verändern könnte.

Spätestens nach dem Eklat mit Shimon Peres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2009 beanspruchte der türkische Präsident Wortführer der palästinensischen Bewegung zu sein. Er beschuldigte damals die israelische Regierung, türkische Vermittlungsversuche seiner Regierung unterminiert zu haben, obwohl eine Einigung mit der Hamas in greifbarer Nähe lag. Als türkischer Premierminister verurteilte Erdoğan Israels militärische Operation in Gaza und die hohe Zahl ziviler Opfer auf palästinensischer Seite, was von Shimon Peres vehement zurückgewiesen wurde. Davos bildete den Grundstein für Erdoğans Popularität in der islamischen Welt. Eine heutige Abkehr käme einem Gesichtsverlust gleich.

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Zahlen & Fakten

Türkei-Karte mit Stützpunkten, Truppen, Ausrüstung und Radarstationen. Das Bild illustriert einen Artikel über Erdogans Machtpoker.
Militärische Stützpunkte: www.globalsecurity.orgwww.east-usa.comwww.turkishnews.com
Militärische Kapazitäten: Global Firepower Index 2024 © Der Pragmaticus

Die politischen Dissonanzen haben unterdessen kaum Auswirkungen auf die israelisch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen gehabt: Gemäß der israelischen Finanzzeitung Globes exportierte die Türkei 2023 Waren im Wert von 5,42 Milliarden US-Dollar nach Israel, gegenüber 7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022. 2015 waren es noch 2,81 Mrd. Dollar. Erst der Vorstoß des US-Präsidenten Joe Biden, mit Griechenland, Israel und Indien eine Handelsroute zu schaffen und somit die Türkei zu umgehen, ließ die Fronten weiter verhärten. Obwohl die türkische Regierung seit Januar 2024 Israel nicht mehr als offiziellen Handelspartner führt, gab es auch hier keine erlassenen Sanktionen in dieser Richtung.

Zweckbündnis mit dem Iran

Die Türkei versucht mit ihren wiederaufgelebten Beziehungen zum israelischen Erzfeind Iran, den Druck auf Israel zu erhöhen, das wegen seiner militärischen Anti-Terror-Operation in Gaza international unter starke Kritik geraten ist. Das Treffen in Ankara zwischen dem türkischen Präsidenten und seinem iranischen Amtskollegen Raisi einen Tag nach der türkischen Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens hat verdeutlicht, dass Ankara weiterhin daran festhält, seine Walzer-Politik zwischen Ost und West fortzusetzen.

Gemeinsam mit dem Iran will die Türkei nicht nur in der Palästina-Frage eine Rolle einnehmen, sondern zukünftig auch in Nordsyrien sowie im Nordirak militärische Operationen gegen den kurdischen Terrorismus unternehmen. Der iranische Luftschlag gegen Ziele im nordirakischen Erbil im Januar wäre ohne Einwilligung Ankaras nicht erfolgt, da der Nordirak seit 20 Jahren als Teil türkischer Einflusssphäre verstanden wird. Laut iranischen Angaben wurde das Hauptquartier eines israelischen Spionagenetzwerks getroffen. Seit mehreren Jahren berichten türkische Geheimdienstquellen über mögliche Verbindungen zwischen dem israelischen Mossad und der kurdischen Terrororganisation PKK und ihren Ablegern in der Region.

Die jüngste Enttarnung eines in der Türkei operierenden Netzwerks des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad durch türkische Behörden war zugleich ein wichtiges Signal an Teheran. Bereits 2013 verhalfen enttarnte Mossad-Agenten der Türkei ihre Beziehungen zum Assad-Verbündeten Iran zu reaktivieren, als der von Ankara gewünschte Machtwechsel in Damaskus ausblieb und der syrische Bürgerkrieg die kurdische Frage neu aufwarf.

Die derzeitige selektive Kooperation zwischen Ankara und Teheran wird jedoch nur von temporärer Natur sein.

Die Türkei sieht nicht nur im iranischen Atomprogramm eine Gefahr für ihre Sicherheitsinteressen, sondern auch in der internationalen schiitischen Allianz. Mit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 endete die 500-jährige Vorherrschaft der Sunniten im Nahen Osten, und es folgte der Aufstieg der Schiiten in der Region unter der Führung Teherans. Versuche, ihren Einfluss in Syrien und Irak zurückzudrängen, scheiterten. Einen Erfolg konnte Ankara 2020 hingegen im Bergkarabach-Konflikt erringen, als das vom Iran unterstützte Armenien durch Aserbaidschan militärisch besiegt wurde. Neben der Türkei half auch Israel dem Machthaber Alijew in Baku.

Die derzeitige selektive Kooperation zwischen Ankara und Teheran wird jedoch nur von temporärer Natur sein, da beide Seiten grundsätzlich verschiedene Interessen verfolgen und ihr Verhältnis sehr ambivalent ist.

Flirt mit Russland

Die türkische Außenpolitik hat in den letzten 20 Jahren auf verschiedenen internationalen Schauplätzen ihre geopolitische Lage zwischen dem Westen, Russland, dem Iran und der arabischen Welt dazu verwendet, ihre eigene außenpolitische Doktrin sowohl mit politischen als auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Dies führte sowohl zu einer schweren Krise innerhalb der NATO als auch zu großen Verwerfungen mit Russland, die jedoch immer wieder überwunden werden konnten.

Zwar hat das türkische Parlament am 23. Januar nach 20 Monaten dem NATO-Beitritt Schwedens endgültig stattgegeben und der US-Senat die Freigabe für den Verkauf von 40 F-16-Kampfflugzeugen im Wert von 23 Milliarden Dollar an die Türkei bestätigt, aber dies wird der Türkei nicht ausreichen. Griechenland erhält 40 hochmoderne F-35-Stealth-Jäger, die im Wettstreit um die Lufthoheit im Mittelmeerraum neues Potenzial für einen Konflikt heraufbeschwören. Griechenland und die Türkei sind seit 1952 Mitglied der NATO. 2019 schlossen die USA unter der Trump-Administration die Türken aus dem Programm der F-35 aus, obwohl Ankara zwei Milliarden Dollar in das Projekt investierte. Bis heute beharrt der türkische Präsident auf die Kampfflugzeuge von Lockheed Martin und sucht nur neue Wege, sein Ziel zu erreichen.

Die türkische Zustimmung zum NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens hat nicht nur zur Folge, dass die Ostsee in das Hoheitsgebiet der NATO fällt und Russlands maritime Streitkräfte eingeschränkt werden. Die Montreux-Konvention von 1936, die die Türkei völkerrechtlich zur Hüterin der Meerengen an den Dardanellen macht, gewinnt dadurch an Bedeutung, und die Türkei hat mehr Verhandlungsspielraum mit Moskau.

Außenminister Lawrow bescheinigte noch kürzlich am Rande einer UN-Sitzung in New York, dass die Türkei sich strikt an die Konvention halte, „trotz mancher Versuche des US-Außenministeriums, diese Haltung aufzugeben.“ Ankara will nicht nur mit seiner Annäherungspolitik an den Iran, sondern auch im Zusammenspiel mit Russland den Westen zu neuen Konzessionen drängen. Das für Februar angesetzte Treffen mit Putin in Ankara wird nicht nur die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten behandeln, sondern auch die privilegierte Partnerschaft zwischen Russland und der Türkei neu ausrichten.

Wahlen als Stimmungsbild

Während Präsident Erdoğan den Forderungen Washingtons zur Umsetzung der westlichen Sanktionspolitik im türkischen Finanz- und Bankensektor nachkam, um die Bedingungen für eine Zusage der F-16-Kampfflugzeuge zu schaffen, so schätzen Analysten ein, dass er im Umkehrschluss die Pläne wieder aufgreift, die Türkei zu einem Transitland für russisches Gas zu machen. Dieses Projekt, das über große politische Symbolkraft verfügt, um von innenpolitischen Problemen abzulenken, wäre zugleich wieder ein Affront gegen die Sanktionspolitik des Westens gegen Russland.

Da sowohl Präsident Erdoğan als auch Präsident Putin in ihrer Heimat vor Wahlen stehen, die zwar ihre Macht nicht erschüttern, aber ein Stimmungsbild der Gesellschaft liefern werden, könnte der Abschluss neuer Verträge die Türkei wieder in die Lage versetzen, ihren Platz am internationalen Konferenztisch zu sichern.

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Conclusio

Die Türkei nutzt die Konflikte in Israel und der Ukraine strategisch auf der internationalen Bühne, was zu mehreren schwierigen Spagaten in der Außenpolitik führt. Obwohl sich Ankara als Sprachrohr für die Palästinenser präsentiert, pflegt das Land gute Wirtschaftsbeziehungen zu Israel. Auch zum Rivalen Iran hat die Türkei ein gespaltenes Verhältnis und kooperiert immer wieder mit Teheran. Ähnlich begegnet die Türkei Russland: als Nato-Partner und Waffenlieferant der Ukraine wurden die Beitritte von Schweden und Finnland zum Bündnis längere Zeit blockiert. Mit seiner Politik versucht Erdoğan den Westen und andere Regionalmächte gegeneinander auszuspielen, um letztlich die Balance in den vielen Konflikten in der Region zu beeinflussen.

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