Putins Angst vor dem Scheitern

Russland hätte die Ukraine auch ohne NATO-Beitrittsperspektive angegriffen. Ausschlaggebend war vielmehr die Angst vor einem möglichen EU-Beitritt Kyivs.

Der russische Präsident Wladimir Putin nimmt am 23. Februar 2013 in Moskau an einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten nahe der Kremlmauer teil. Das Bild illustriert einen Artikel über Russlands Demokratie-Angst.
Moskau, 23. Februar 2013: Wladimir Putin bei einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten nahe der Kremlmauer. Der 23. Februar gilt als Tag des Verteidigers des Vaterlandes und ist ein gesetzlicher Feiertag in Russland und einigen anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • „Erlöser“. Nach einem Jahrzehnt der Schwäche unter Boris Jelzin wurde Putin von vielen Russen als Retter Russlands gefeiert.
  • Kuhhandel. Politische Stabilität und soziale Absicherung wurden in Russland gegen demokratische Freiheiten getauscht.
  • Demokratie als Gefahr. Die Annäherung der Ukraine an den Westen wurde von Putin zunehmend als Bedrohung für seine autoritäre Führung gesehen.
  • Soft Power. Russland wurde weniger durch die NATO, sondern durch die erfolgreichen Normen und Werte der Europäischen Union herausgefordert.

Drei Tage vor dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hielt Präsident Putin eine Rede an die Nation. Retrospektiv kann sie als Kriegserklärung verstanden werden, in der Putin die Beweggründe aber auch die Ziele des Krieges darlegt. Ein wesentlicher Punkt in seiner Argumentation spielt die NATO.

„Die USA und die NATO haben jede Zurückhaltung abgelegt und sind dazu übergegangen, sich das Territorium der Ukraine als potentiellen Kriegsschauplatz anzueignen. Die Stoßrichtung der regelmäßigen gemeinsamen Übungen (mit der Ukraine, Anm.d.V.) ist ganz klar, sie richten sich gegen Russland,“ so Wladimir Putin.

War also die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine ein Hauptgrund für den russischen Angriff? Oder umgekehrt gefragt: Hätte Russland die Ukraine angegriffen, wenn es keine solche Perspektive gegeben hätte?

Sehr wahrscheinlich Ja! Denn auch wenn die Osterweiterung der NATO den Interessen Russlands zuwiderlief und Wladimir Putin eine imperialistisch-revisionistische Politik verfolgt, ist der Kern des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine ein anderer: die EU-Beitrittsperspektive.

Mythos Retter

Um den Kern des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine zu verstehen, muss man in die 1990er Jahre zurückkehren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, in Verbindung mit einer rasanten Privatisierung, führte in den 1990er Jahren zum Aufstieg der Oligarchen. Die Präsidentschaft von Boris Jelzin war von Wohlstandsverlust, grassierender Korruption und politischen Skandalen gekennzeichnet. Hinzu kam eine allgemein prekäre Sicherheitslage.

In dieser Situation wurde Wladimir Putin im August 1999 durch Präsident Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt. Zu diesem Zeitpunkt politisch relativ unbekannt, wurde der vormalige Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB nach dem überraschenden Rücktritt von Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 zum neuen Präsidenten der Russischen Föderation ernannt. Schon zu Beginn seiner Regierungszeit griff Wladimir Putin hart durch.

Nach vermeintlichen terroristischen Bombenanschlägen in Moskau, die Tschetschenen angelastet wurden (wobei es auch Anzeichen gibt, dass diese durch FSB-Kreise durchgeführt wurden), begann im Oktober 1999 der Zweite Tschetschenienkrieg und im Jänner 2000 wurden einige einflussreiche Personen die unter Korruptionsverdacht standen entlassen. Viele dieser Maßnahmen wurden durch die russische Bevölkerung überaus positiv aufgenommen. Die Zustimmungsraten für Präsident Putin schossen in die Höhe. Nach einem Jahrzehnt der Schwäche und der zunehmenden erratischen Politik seines Amtsvorgängers wirkte Wladimir Putin wie ein Erlöser.

Der Gesellschaftsvertrag

Zunehmende Gewinne aus dem Verkauf von Rohöl und anderen Rohstoffen stabilisierten in den 2000er Jahren die russischen Finanzen. Wladimir Putin entmachtete öffentlichkeitswirksam einige Oligarchen und schloss in gewisser Hinsicht einen neuen Gesellschaftsvertrag mit der Bevölkerung:

Politische Stabilität verbunden sozialpolitischer Grundsicherung, insbesondere im Bereich der Pensionen aber auch bei anderen Transferleistungen, gegen den Verzicht auf politische Partizipation und demokratische Freiheiten. Dieser Gesellschaftsvertrag wurde in den kommenden Jahren zunehmend ideologisch untermauert und als russische Alternative zur liberalen westlichen Demokratie weiterentwickelt, aber dazu später.

Mit dem Budapester Memorandum von 1994 wurden die Grenzen der Ukraine durch Russland, die USA und Großbritannien garantiert.

Auch gegenüber dem Westen zeigte sich der russische Präsident in den ersten Jahren als kooperativer und verlässlicher (Verhandlungs-)Partner. Als Meilenstein in dieser Hinsicht gilt die in deutscher Sprache gehaltene Rede des russischen Präsidenten vor dem Bundestag am 25. September 2001. Nach dem Prinzip „Wandel durch Handel“ war der Westen der Meinung revanchistische Ideen Russlands im Keim zu unterdrücken. Russland sollte sich als „Tankstelle Europas“ demokratisch entwickeln und auch ein NATO-Beitritt der russischen Föderation war für Wladimir Putin nicht ausgeschlossen.

Spannungen mit der Ukraine

Die ukrainisch-russischen Beziehungen waren in den vergangenen drei Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht nicht friktionsfrei. Das erste Jahrzehnt nach Wiedererlangung der ukrainischen Unabhängigkeit war vor allem mit Fragen der gegenseitigen Anerkennung und Aufteilung des gemeinsamen sowjetischen Erbes geprägt. So wurden zum Beispiel mit dem Budapester Memorandum 1994 die Grenzen der Ukraine durch Russland, die Vereinigten Staaten und Großbritannien garantiert.

Im Gegenzug gab die Ukraine die ehemaligen sowjetischen Nuklearwaffen, die auf ihrem Staatsgebiet stationiert waren an Russland ab. Mit dem ukrainisch-russischen Flottenvertrag wurde 1997 die ehemalige sowjetische Schwarzmeerflotte aufgeteilt und die Pacht des Marinestützpunkts in Sewastopol auf der Krim durch Russland vereinbart.

Gleichzeitig waren diese Jahre auch für die Ukraine selbst nicht einfach. Die wirtschaftlichen Herausforderungen der Ukraine glichen in vielen Bereichen jenen der Russischen Föderation. Die ukrainische Industrie war von Produktionseinbrüchen betroffen, die durch Lieferkettenproblematiken entstanden und besonders die Schwerindustrie im Donbass-Becken trafen.

Diese Industrieanlagen waren in vielen Fällen nicht nur ineffizient, sondern auch durch die Abtrennung vom russischen Markt von Zulieferern und Absatzmärkten abgeschnitten. Beiderseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten bestanden im Gas-Sektor. Die russische Seite war von Gastransit durch die Ukraine abhängig, um das Erdgas mit hohen Gewinnen in Westeuropa zu verkaufen. Gleichzeitig war die Ukraine vom Import des russischen Gases abhängig, um Strom bzw. Wärme zu erzeugen und vor allem um die Industrieanlagen betreiben zu können.

Der Preis von Wahlen

Zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine kam es in der Folge der ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2004. Nach massiven Wahlfälschungen musste die Stichwahl wiederholt werden und der westlich orientierte Wiktor Juschtschenko ging als Sieger hervor. Juschtschenko, als Proponent der sogenannten Orangenen Revolution, schlug in seiner Politik einen deutlichen Westkurs ein. Die folgenden Jahre waren von einem latenten Gaspreiskonflikt geprägt.

Eine erste Eskalation war Anfang 2006 zu verzeichnen als Russland erstmals den Gashahn zudrehte. Nach einer Einigung kam es im Jahr 2007 zu einer erneuten Drosselung. Die scharfe Kritik Präsident Putins zur NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine auf dem NATO-Gipfel vom April 2008 in Bukarest hatte keine direkte Auswirkung auf den latenten Gaskonflikt. Erst gegen Jahresende 2008 kam es erneut zur Eskalation und die Lieferung wurde am 1. Jänner 2009 erneut eingestellt. Der Großteil dieser Eskalationen korrelierte mit Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Ukraine und der damit verbundenen West- bzw. EU-Annäherung.

Diese Korrelation zeigt sich exemplarisch an der sogenannten Majdan-Revolution und der nachfolgenden Besetzung der Krim. Ausgangspunkt war ein ukrainischer Regierungserlass vom 21. November 2013 des damaligen pro-russischen Präsidenten Janukowytsch. Wenige Tage vor der geplanten Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine in Vilnius wurden die Vorbereitungen durch die ukrainische Seite gestoppt. Der Präsident verweigerte am EU-Gipfel die Unterschrift unter dieses Abkommen. Die Folge ist bekannt, es kam zu massiven Protesten in der Bevölkerung und Janukowytsch wurde gestürzt. Wladimir Putin nutzte im Frühjahr 2014 das politische Chaos in der Ukraine und besetzte handstreichartig die Krim und intervenierte in der Folge im Donbass.

Russlands Abkehr vom Westen

Es ist de-facto unmöglich den Zeitpunkt zu bestimmen als sich Wladimir Putin vom Westen abgewendet hat. Einige sehen die Rede des russischen Präsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 als Wendepunkt in den Beziehungen zum Westen. Aber auch ohne konkreten Zeitpunkt lässt sich feststellen, dass das Narrativ der Herrschaft Putins zunehmend außenpolitische Themen beinhaltete.

Während zu Beginn seiner Regierungszeit überwiegend innenpolitische Themen (z.B. Korruption, Inflation, etc.) und vor allem die politische Stabilisierung sowie die mediale Gleichschaltung Russlands im Vordergrund standen, wurden gegen Ende der 2000er Jahre und mit Beginn der 2010er Jahre eher nationalistische Narrative, wie, der Stolz auf Russlands historische Größe und seine Rolle als geopolitischer Akteur in den Vordergrund gerückt.

Wladimir Putin sprach in diesem Zusammenhang vermehrt von einer russischen Zivilisation, die sich historisch begründet kulturell und religiös vom Westen abgrenzt und damit westliche Einflüsse und Werte und Normen ablehnt. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten wurden damit aus russischer Sicht zu einer Bedrohung für die russische Souveränität.

Der Aufbau des Feindbildes Westen, mit aus russischer Sicht degenerativen Normen und Werten (Stichwort LGTBQ+) waren für Wladimir Putin auch insofern erforderlich, weil er sich in einem zunehmenden Erklärungsnotstand befand. Denn die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken und osteuropäischen Staaten hatten im Vergleich zu Russland einen unglaublichen Wohlstandszuwachs zu verzeichnen. Dieser Wohlstandstransfer der ehemaligen Ostblock-Staaten begründete sich nicht durch deren NATO-Mitgliedschaft, sondern durch den Wohlstandstransfer und den Binnenmarkt innerhalb der Europäischen Union. So wurde seit dem Jahr 2000 durch den EU-Kohäsionsfond 179 Milliarden Euro in den EU-Staaten investiert.

Russland wurde weniger durch die NATO, sondern durch die erfolgreichen Normen und Werte der Europäischen Union herausgefordert.

Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahren die russische Wirtschaft und damit auch der Staatshaushalt unter massiven Druck geraten. Der sinkende Ölpreis führt zu einem geringeren Steueraufkommen, zugleich ist die russische Wirtschaft aber im Bereich der Hochtechnologie nicht wettbewerbsfähig. Zusätzlich wurden viele notwendige Reformen in der staatlichen Verwaltung und im Bereich der Sozialpolitik zu lange aufgeschoben bzw. nie umgesetzt.

Wladimir Putin versucht sich von diesen Herausforderungen zu distanzieren, indem er sich zunehmend als „über den Dingen“ schwebender und dem Volke wohlgesonnener „Zar“ darstellt. In seinen TV-Fragestunden Direkter Draht nimmt er sich den alltäglichen Sorgen der Bevölkerung an. So zum Beispiel bei der letzten Iteration Mitte Dezember 2023. Er sprach über Preise für Eier in Dagestan. Mit diesem Mikromanagement möchte er Bürgernähe und Durchsetzungsfähigkeit signalisieren ohne wirkliche Reformen durchzuführen. Die Folge: Die Reallöhne der russischen Bevölkerung sinken dramatisch.

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Zahlen & Fakten

Eine enge Anbindung der Ukraine an die EU mit einer Beitrittsperspektive stellt damit eine reale Gefahr für das russische politische System dar. Das ukrainische Volk hat sich spätestens seit Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 eindeutig auf die Seite der Europäischen Union gestellt. Sollte die Ukraine damit erfolgreich sein, bestünde die Gefahr eines Überspringens des demokratischen Funkens auf die russische Bevölkerung.

So gesehen wurde Russland weniger durch die NATO, sondern durch die erfolgreichen Normen und Werte der Europäischen Union herausgefordert. Sollte die Ukraine auf die russischen Forderungen eingehen und sich militärisch neutral erklären und abrüsten, wäre damit die Grundursache des Konflikts nicht gelöst.

Wladimir Putins NATO-Obsession

Woher kommt die augenfällige Obsession Putins gegenüber der NATO? Dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze. Zum Einen sieht er die EU sicherlich als Bedrohung, wählt hier aber einen verdeckten oder indirekten Ansatz. Im Rahmen hybrider Konfliktführung, mittels Desinformation und politischer und gesellschaftlicher Einflussnahmen versucht er die Einigkeit der EU und deren Gesellschaften zu untergraben. Vor allem aber ist Wladimir Putin zum Zweiten ein Silowiki, also ein „Geheimdienstmann“. Er hat seine berufliche Karriere im KGB im Kampf gegen die NATO begonnen. Diese ist ihm vertraut und daher auch sein bevorzugtes Ziel.

Damit steht er allerdings vor einem Dilemma. Einerseits kann er sich den Krieg in der Ukraine nicht leisten, andererseits kann er sein Scheitern, sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht nicht eingestehen, ohne Gefahr zu laufen gestürzt zu werden. Die russische Föderation versucht damit verzweifelt die Erfolgsaussichten der Ukraine möglichst negativ darzustellen, nimmt dafür immense Verluste in Kauf und hofft auf eine Wiederkehr von US-Präsident Trump und Stärkung pro-russischer Parteien bei Wahlen in Europa.

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Conclusio

Putins Aufstieg begann mit dem Ende der Ära Jelzin. Der neue starke Mann Russlands gab seiner Bevölkerung im Tausch gegen demokratische Freiheiten politische Stabilität. Aber mit dem Abflauen der russischen Wirtschaft kam Wladimir Putin unter Druck. Denn im Gegenzug zu Russland erfuhren ehemalige Ostblock-Staaten einen Wohlstandszuwachs, da sie der EU beigetreten waren. Der Aufbau eines Feindbildes war aus russischer Sicht erforderlich, weil man sich gegenüber der Bevölkerung in einem zunehmenden Erklärungsnotstand befand. Die Ukraine mit ihrer EU-Beitrittsperspektive war daher eine Gefahr für die autoritäre Herrschaft Putins, denn er befürchtete, dass der demokratische Funke auch auf Moskau überspringen könnte.

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